Er hatte ein zwiespältiges Verhältnis zur Musik, der surrealistische Maler Salvador Dalí. In seinem Buch »Meine Leidenschaften« bekennt er: »Ich liebe nur schlechte dröhnende Musik oder aber Musik, die verworren, übersteigert oder paroxystisch ist wie beispielsweise ›Tristan und Isolde‹.« Geprägt von der Landschaft seiner katalanischen Heimat (in seiner Jugend auch geängstigt von den bizarren Felsformationen des Cap de Creus, in denen er versteckte Gestalten zu erkennen glaubte), von Kindheitserinnerungen und Träumen, aus einer Art archetypischem Fundus schöpfend, der bis zur Antike zurückgeht, hat er später immer wieder in seinen Gemälden auch deformierte Musikinstrumente eingebracht, die eine Bedrohung, aber auch eine kraftspendende Hoffnung darstellten. Das Motiv des Cellos, dessen Silhouette und F-Löcher spielten dabei eine besondere Rolle. Dalís malerische Welt ist der musikalischen Welt, der »Welt der Töne«, verwandt, sagt der in Köln lebende Autor Dietmar Berger, selbst Cellist und Maler. Erstmals schildert er in seinem Buch »Dalís Cello«, welche Bedeutung gerade diesem Streichinstrument im malerischen Werk des exzentrischen Künstlers zukommt und welche Wandlungen es erlebt.
Das Porträt des Violoncellisten Ricardo Pichot wird von dem 16-jährigen Dalí noch ganz im impressionistischen Stil gemalt. Doch während seiner surrealistischen Zeit verschwindet der Aspekt des Cellos als klassisches Musikinstrument, das Cello wird autonom. Es nimmt eine amorphe Form an, die an Dalís berühmte weiche Uhren erinnert. Die Musikinstrumente wirken nunmehr wie aufgeweicht oder unter großer Hitze zerflossen. Sie symbolisieren die Konfliktsituationen, in denen sich Dalí befand, seine Wahnvorstellungen, die ihre Ursachen in der Realität hatten. Auch Impotenzängste gehören dazu, wie »Masochistisches Instrument« (1933/34) bezeugt: Schlaff hängt die Violine herunter, die ein junges Mädchen mit spitzen Fingern aus dem Fenster hält.
Dalí wie die Surrealisten um André Breton maßen den Bildern der »Sur-Realität« große Bedeutung zu. Dalí interessierte der Aspekt des Wahnhaften, der Paranoia, die Fähigkeit des Gehirns, Verbindungen zwischen Dingen zu erkennen, die rational zunächst nicht miteinander verbunden sind. Das Phänomen des Vexierbildes, des Doppelbildes spielt in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle. Die Gedanken von Sigmund Freud und Jacques Lacan über Paranoia, Traumdeutung und Psychoanalyse, auch die Katastrophentheorie des Mathematikers und Philosophen René Frédéric Thom stellen wichtige Bezugspunkte für Dalís Werk dar.
Dalí macht traumartige Bildwelten sichtbar, die in einer virtuosen, altmeisterlich wirkenden Technik umgesetzt werden. Zusätzlich spielt auch die textliche Dimension eine Rolle. Wenn er von einem Mythos ausgeht, dann ergänzt er diesen Grundtext in Wort und Bild mit eigenen Motiven und erschafft so eine eigene, eine individualisierte Mythologie. Dabei übernimmt er in seinen Texten auch die Deutung seiner Bilder, was für einen Künstler ungewöhnlich ist. Mit seiner »paranoisch-kritischen Methode« suchte Dalí eine neue traumhafte Eroberung des Irrationalen zu erreichen. Er entwickelte eine Art »Beziehungswahn«, der die entlegensten Vorstellungen und vexierbildhaft vorgestellten Gestaltbildungen miteinander verknüpft, um damit den Betrachter aufzufordern, dass er die Realitätsprobleme neu durchdenkt.
»House for Erotomanic« (1932): Zwei in der Bewegung erstarrte anthropomorphe Figuren stehen sich gegenüber, der Körper der linken Figur ähnelt einem sich aufbäumenden Pferd, der der rechten Figur ist durchbrochen – und der Durchbruch gleicht einem Violoncello. Die formlosen Körperteile gehen in wiedererkennbare Dinge über. Thema des Bildes sind die modifizierten Spiegelungen und Verwandlungen der Bildgegenstände. Der Bildraum scheint von den metaphysischen Bildern Giorgio de Chiricos beeinflusst zu sein; einzelne Sujets von Francois Millet und Arnold Böcklin haben Dalí Anregungen gegeben wie auch Kindheitserinnerungen, die er hier zu verarbeiten sucht.
Haben wir es in »Kannibalismus der Objekte bei gleichzeitiger Zerstörung eines Violoncellos« (1932) mit der Darstellung eines Albtraums, dem Dalí-eigenen »Delirium« zu tun? Lebendig gewordene Möbelstücke zerstören scheinbar sinnlos ein Cello. Diese Zeichnung bildet die Brücke zwischen der surrealistischen Phase und den späten Katastrophenbildern des Künstlers. Es kommt immer darauf an, aus welcher Perspektive wir die Arbeiten Dalís betrachten, welche unterschiedlichen Gefühle und Gedanken sie in uns hervorrufen. Mehrdeutigkeit ist der Schlüssel für Dalís Bild- und Gedankenwelt, denn auch Dalís Erklärungen zu seinen Bildern können nicht pur von uns übergenommen werden.
Das Cello ist die Personifizierung Dalís, wie das weiche, in eine gelatineartige Masse aufgelöste Cello in »Spinne am Abend … Hoffnung« (1940) ausweist. Dieses ist aber auch schon ein apokalyptisches Katastrophenbild, entstanden unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges. Der Cellist hängt an den Ästen eines verdorrten Olivenbaums und sucht krampfhaft sein Instrument festzuhalten. Das Cello in »Die Musik« aus der Serie »Die sieben Künste« (1957): Ein körperloses Wesen spielt rechts auf dem mit Wasser gefüllten Flügel, während sich die linke Figur an einem Cello-ähnlichen Instrument abarbeitet, das aus einem nackten Körper gebildet wird. Die Sinnlosigkeit des Musizierens schlägt um in Menschenquälerei, geschuldet den Zeitumständen.
In den Katastrophenbildern, ausgelöst durch den Tod seiner Frau und Muse Gala (1982), aber auch seiner Parkinson-Erkrankung, legt Dalí dann alle Masken ab, schreibt Dietmar Berger. Bei der »Topologischen Verrenkung einer Frauenfigur zu einem Violoncello« (1987) handelt es sich um ein Selbstporträt. »Bett und zwei Nachttischschränkchen greifen brutal ein Violoncello an« (1983) bilden den Auftakt von fünf Gemälden, in denen es immer um ein Cello geht, das von Möbeln attackiert bzw. zerstört wird. Aber auch die Möbel selbst, Verkörperungen der für Dalí bedrohlichen Dingwelt, fügen sich Zerstörungen zu. Ist das Cello für den Künstler zu einer Art Fetisch, also zu einem Ersatz für menschliche Nähe geworden? Auch in Darstellungen der »Kreuzabnahme« hat Dalí die Christus-Figur jeweils durch ein Cello, einen »Cello-Christ« ersetzt.
Nach der Zerstörung des Cellos in den »Möbelbildern« setzt in den letzten Gemälden eine Rekonstruktion des Cellos in verwandelter Gestalt ein. In dem Bild »Der Schwalbenschwanz« (1983) vermutet Berger in den einzelnen Elementen – den schwarzen Linien, die dem Bild den Namen geben, den F-Löchern, dem Cello – die Darstellung eines verdeckten Kopfes (Dalís selbst?), dargestellt mit den Symbolen der Kreuzigung Christi, den Graphen der Katastrophentheorie Thoms und eben den F-Löchern des Cellos. Das größere, liegende F-Loch auf der linken unteren Bildhälfte wäre als Seitenwunde Christi zu deuten. Wie denn auch das ganze Bild dem Leichentuch Christi mit dessen Selbstbildnis ähnelt, denn das Bild ist in einem Trompe-l’oeil-Effekt wie ein Tuch mit Klammern befestigt. »Der Schwalbenschwanz«, das gleichsam testamentarische Vermächtnis Dalís, als »Schweißtuch« des Künstlers? Als Ausdruck der Grenzauflösung, der Verschmelzungssehnsucht mit dem Weiblichem, nach Auflösung und Ganzwerdung im Anderen, auch als Todessehnsucht, als Überhöhung ins Transzendente? Auf rationalem Wege kann man schon gar nicht eine eindeutige Bildaussage, viel eher eine nahezu unbegrenzte Deutbarkeit vornehmen, da ist Berger zuzustimmen. Dalís viele versteckte Anspielungen verdichten sich zu einem vielschichtigen Beziehungsfeld, das sich jeder eindeutigen Erklärung entzieht.
Dietmar Berger: Dalís Cello. Über ein herausragendes Motiv in Dalís malerischem Werk, Weilerswist-Metternich: Dittrich Verlag 2022, 168 S., 20 €.