Nachdem Premierministerin Theresa May am 29. März 2017 gemäß Artikel 50 des Vertrags von Lissabon den EU-Austritt offiziell in Brüssel eingereicht hatte, lief der eigentlich auf zwei Jahre begrenzte Brexit-Countdown aus dem Ruder. Schließlich musste May ihr Amt quittieren und mit ansehen, wie ihr Nachfolger, der ausgefuchste Brexiteer Boris Johnson, die vom Unterhaus immer wieder blockierte Trennung des – noch – Vereinigten Königreichs von der Europäischen Union mittels Nachverhandlungen und einem großen Sieg der Conservative Party bei den Neuwahlen im Dezember 2019 durchsetzte. Inzwischen haben sowohl das Unter- als auch das Oberhaus dem Austrittsabkommen mit der EU mit deutlichen Mehrheiten zugestimmt, und Königin Elizabeth II. hat das Ratifizierungsgesetz gebilligt. »Zeitweise schien es so, als würden wir die Brexit-Ziellinie nie erreichen, aber wir haben‘s geschafft«, kommentierte am 23. Januar 2020 Premier Boris Johnson das für ihn erfreuliche Geschehen und frohlockte, nach all dem »Groll und Zwist der vergangenen drei Jahre« könne nun endlich das Gestalten einer »heiteren, aufregenden Zukunft« beginnen. Nachdem er kurz darauf mit EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel das Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU unterzeichnet hatte, stimmten in den letzten Tagen des Januars das großspurig so genannte Europäische Parlament und der die verbleibenden EU-Mitgliedsstaaten vertretende Rat dem Austritt zu. Der Brexit erfolgte am 31. Januar in Brüssel um 24 Uhr; jenseits des Kanals – der Greenwich-Meridian gilt ja nach wie vor als Internationaler Nullmeridian – feierten die Brexiteers den herbeigesehnten »Wendepunkt der britischen Geschichte« (Schatzkanzler Sajid Javid) schon eine Stunde früher. Zwar blieben in London die Glocken von Big Ben aufgrund laufender Renovierungsarbeiten stumm, aber eine auf die Downing Street No. 10 projizierte Riesenuhr zeigte die letzten Stunden, Minuten und schließlich Sekunden der 47-jährigen Mitgliedschaft des Königreichs an, während auf dem Parliament Square die »union flags« flatterten (die in Brüssel bereits niedergeholt waren). Nicht zu vergessen: Eine 50-Pence-Brexit-Gedenkmünze mit der bezeichnenden Inschrift »Peace, prosperity and friendship with all nations. 31 January 2020« wurde auch präsentiert und kam zugleich millionenfach in den Handel.
Am 1. Februar exakt 0 Uhr waren es nur noch 27 Mitgliedsstaaten in der Europäischen Union. Zugleich hatte das Vereinigte Königreich gemäß der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (vom 10.12.2018) keine Möglichkeit mehr, seine Absichtserklärung zum Austritt einseitig zurückzuziehen. Die Zeiten der 73 britischen Mandatsträgerinnen und -träger im Parlament der EU sind auch vorbei; an ihrer Stelle sitzen fortan 27 Nachrücker aus bislang »statistisch benachteiligten« Mitgliedsstaaten wie etwa Frankreich, Spanien, Italien und den Niederlanden. Übrigens hat die Rechtsfraktion »Identität und Demokratie«, zu der neben der AfD die Parteien von Matteo Salvini und Marine Le Pen gehören, inzwischen mehr Abgeordnete als die Grünen. Vorbei sind nicht zuletzt die ereignisreichen Tage des 2016 von Theresa May installierten Brexit-Ministeriums – unvergessen die dreistelligen Millionenausgaben für Sicherungsmaßnahmen und Fährschiffprojekte sowie die aus Protest gegen Mays Politik erfolgten Rücktritte der Chefs Dominic Raab und David Davis. Die Behörde wird nach Aussage des noch amtierenden Brexit-Ministers Stephen Barclay aufgelöst, weil sie ihre Aufgabe »mit dem Abschluss des Austrittsabkommens erfüllt« habe. Und das, obwohl die komplexen und wohl alles andere als komplikationslosen Verhandlungen über die künftigen Beziehungen und Verträge zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU noch anstehen. Sie sollen stattdessen von einer vom britischen Chefunterhändler David Frost geleiteten Task-Force durchgeführt werden und bereits am 31. Dezember dieses Jahres abgeschlossen sein. Ob das gelingen kann, ist durchaus zweifelhaft.
Allein die Neuregelung des – mit den 27 verbliebenen EU-Staaten nur noch bis Ende des Jahres garantiert freien – Verkehrs von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital ist eine riesige Herausforderung. Darüber hinaus gilt es, rund 600 von der EU geschlossene internationale Vereinbarungen durch eigene britische zu ersetzen – ganz zu schweigen von heftig umstrittenen Regelungen wie nicht zuletzt die Fischereirechte. Plant Boris Johnson mit seiner Regierung womöglich den nach wie vor denkbaren harten Brexit, um dem Vereinigten Königreich wirksame Wettbewerbsvorteile zu verschaffen? Etwa durch die weitere Schwächung von Arbeitnehmerrechten oder durch gezieltes Steuerdumping? Wer weiß. Die EU-Kommission, die bereits einen Fahrplan für die Verhandlungen über einen Handelsvertrag vorbereitet hat (den die Staats- und Regierungschefs auf ihrem Gipfeltreffen am 20. Februar wohl billigen werden), erhofft sich ab 2021 Wirtschaftsbeziehungen »ohne Zölle, ohne Quoten, ohne Dumping« – sprich das Verbleiben der Briten im Binnenmarkt unter Beibehaltung der einschlägigen EU-Regelungen in der Sozial-, Steuer- und Umweltpolitik. Für die Regierung in London, so scheint es, steht gegenwärtig zunächst einmal die Vorbereitung eigener Freihandelsabkommen mit den USA, Japan und zahlreichen Staaten des Commonwealth im Vordergrund. Boris Johnson fabuliert im Rahmen seiner Beschwörungen einer grandiosen Zukunft bereits vom »Empire 2.0« beziehungsweise vom »Great Global Britain«: »Nach dem Brexit haben wir wieder die Macht, frei Handelsverträge mit unseren Freunden aus dem Commonwealth zu schließen. Großbritannien wird dann das Beste aus florierenden Märkten machen«, verkündete er jüngst in einem Meinungsartikel. Zur Erinnerung:
Das 1931 gegründete Commonwealth of Nations geht auf das British Empire zurück, das ab dem 15. Jahrhundert aus immer mehr Kolonien und besetzten Gebieten bestand. 1922 umfasste es weltweit ein Viertel der Landmassen und mit 458 Millionen Einwohnern ein Viertel der Weltbevölkerung. Heute umfasst das Commonwealth ein Fünftel aller Landmassen und mit rund 2,5 Milliarden Einwohnern ein Drittel der Weltbevölkerung. Die an britischen Schulen demnächst wohl wieder häufiger abgefragten 53 Mitgliedsstaaten sind: Antigua und Barbuda, Australien, Bahamas, Bangladesch, Barbados, Belize, Botswana, Brunei, Dominica, Eswatini, Fidschi (suspendiert), Gambia, Ghana, Grenada, Guyana, Indien, Jamaika, Kamerun, Kanada, Kenia, Kiribati, Lesotho, Malawi, Malaysia, Malta, Mauritius, Mosambik, Namibia, Nauru, Neuseeland, Nigeria, Pakistan, Papua-Neuguinea, Ruanda, Salomonen, Sambia, Samoa, Seychellen, Sierra Leone, Singapur, Sri Lanka, St. Kitts und Nevis, St. Lucia, St. Vincent und die Grenadinen, Südafrika, Tansania, Tonga, Trinidad und Tobago, Tuvalu, Uganda, Vanuatu, Vereinigtes Königreich, Zypern. Das durch eine (erzwungene) Geschichte, Sprache und Kultur geprägte Commonwealth fungiert als Partnerschaft ohne vertraglich bindendes Konstrukt. Als symbolisches Oberhaupt dient das Oberhaupt der Britischen Krone – gegenwärtig Elisabeth II. Ob das Commonwealth gleichsam die bisherigen engen Bande mit den EU- Mitgliedsstaaten ersetzen kann, bleibt abzuwarten. Bislang kommen zum Beispiel auf ein britisches Produkt, das in einen Commonwealth-Staat exportiert wird, fünf in die EU-Mitgliedsstaaten verkaufte. Unternehmen im Vereinigten Königreich treiben gegenwärtig deutlich mehr Handel mit italienischen, polnischen und deutschen Partnern als mit indischen, australischen und pakistanischen. Im Übrigen betrachten – auch zum Leidwesen gut informierter Tories in London – viele politische Entscheidungsträger in Indien, Pakistan und anderswo das Commonwealth eher als überkommenes Relikt des britischen Imperialismus denn als vielversprechendes Zukunftsprojekt.
Eine gute Stunde zu Fuß ist unterwegs, wer vom Londoner Regierungsviertel zur Adresse Regent’s Park Road 122 gelangen möchte, also zu genau dem viergeschossigen viktorianischen Reihenhaus, an dem eine blaue Plakette den Bewohner (von 1870 bis 1894) verrät: Friedrich Engels. Wäre der Brexit während seiner Londoner Zeit erfolgt, als das British Empire prächtig gedieh, hätte er ihn und dessen Folgen gewiss kommentiert. Jedenfalls hat er die sich dieser Tage abzeichnende »Umgestaltung der gesamten inneren und äußeren Finanz- und Handelspolitik Englands« zum Zwecke des Freihandels schon einmal erlebt – und zwar »im Einklang mit den Interessen der industriellen Kapitalisten«. Wird sich diese Klasse erneut »ernstlich ans Werk« machen? »Jedes Hemmnis der industriellen Produktion wurde unbarmherzig entfernt«, erinnert uns Friedrich Engels im Anhang zur amerikanischen Ausgabe seines Werks »Die Lage der arbeitenden Klasse in England«: »Der Zolltarif und das ganze Steuersystem wurden umgewälzt […]; alle anderen Länder sollten für England […] Märkte für seine Industrieprodukte, Bezugsquellen seiner Rohstoffe und Nahrungsmittel« werden. Wird das – noch – Vereinigte Königreich demnächst wieder »der große industrielle Mittelpunkt« einer globalisierten Welt, »mit einer stets wachsenden Zahl Korn und Baumwolle produzierender Trabanten, die sich um die industrielle Sonne drehen«? (MEW 21, S. 192) – »Welch herrliche Aussicht!« hätte Engels das Geschehen ironisch kommentiert.