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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Czernowitzer Geschichten

Allein die vie­len Namen der buko­wi­ni­schen Haupt­stadt erzäh­len von ihrem Schick­sal: Tscher­no­witz, Tscher­niw­zi auf Ukrai­nisch, Tscher­now­zy auf Rus­sisch, Cernăuți auf Rumä­nisch, womit aber noch längst nicht alle auf­ge­zählt sind. Juden, Deut­sche, Rumä­nen, Ukrai­ner und Polen bewohn­ten die Stadt, die man zu Recht einen mul­ti­kul­tu­rel­len Ort nen­nen durf­te. Den Mythos Czer­no­witz beschrei­ben viel­leicht »Klein Wien« oder »Jeru­sa­lem am Prut« am besten. Bekann­te Schrift­stel­ler und Schrift­stel­le­rin­nen stam­men aus der Stadt: Paul Celan, Alfred Mar­gul-Sper­ber, Rose Aus­län­der, Olha Kobyl­jans­ka; es blüh­te die jid­di­sche Spra­che. Czer­no­witz war für die Mäch­te der Regi­on immer begehr­tes Objekt: Die Stadt gehör­te zur Habs­bur­ger Mon­ar­chie, zu Rumä­ni­en, zur Sowjet­uni­on, heu­te ist es eine ukrai­ni­sche Stadt: Чернівці.

Der aus der Repu­blik Mol­dau (vor­mals Mol­daui­sche Sozia­li­sti­sche Sowjet­re­pu­blik) stam­men­de Schrift­stel­ler Oleg Ser­ebri­an (Jahr­gang 1969, mit nicht unin­ter­es­san­ter Kar­rie­re, sie­he Sei­te 403 des Buches) schil­dert in sei­nem Roman »Tan­go in Czer­no­witz« ein beson­ders fin­ste­res Kapi­tel der Geschich­te Czer­no­witz’ im Früh­jahr 1944. Die Stadt war nach einer kur­zen Beset­zung durch sowje­ti­sche Trup­pen 1940/​41 (rei­che Bür­ger, vie­le Juden dar­un­ter, wur­den als »Klas­sen­fein­de« ver­folgt oder depor­tiert) wie­der zu Rumä­ni­en gekom­men, das mit Nazi­deutsch­land ver­bün­det war. Die Ver­fol­gung jüdi­scher Men­schen ging mit deut­scher Betei­li­gung weiter.

Im Ver­lau­fe des Krie­ges rück­te 1944 die Rote Armee wie­der vor und besetz­te die Stadt erneut. Es begann die näch­ste Tra­gö­die. Die­se erlei­den auch die Prot­ago­ni­sten des Romans, der Erz­prie­ster Filip Skaw­ron­ski, sei­ne Frau Mar­ta, eine gebo­re­ne von Ran­da, und bei­der Toch­ter Iulia­na. Auch vie­le der ande­ren im Buch auf­tre­ten­den Men­schen, von denen eini­ge dank der Kunst des Autors einem wirk­lich als Men­schen nahe­kom­men, wie etwa der Dok­tor Șveț oder Filips Vater, der För­ster Arhip, oder die Dienst- und Kin­der­frau Per­la. Sie wer­den in ihrer Wider­sprüch­lich­keit, Güte, Här­te, Hilfs­be­reit­schaft, Arg­lo­sig­keit, Bos­heit, Beschränkt­heit, die Weit­sicht nicht aus­schließt, geschil­dert Ande­re blei­ben Figu­ren im Sin­ne des Wor­tes. Beson­ders bei der Dar­stel­lung sowje­ti­scher Besat­zer geht es mei­stens über »Typen« nicht hinaus.

Die Ehe Filips und Mar­tas ist kom­pli­ziert, wobei zuerst nicht so recht klar wird, war­um sich die bei­den so schwer­tun mit­ein­an­der. Dann begreift man, wie sehr die Her­kunft und die Spra­che Welt­sich­ten prä­gen – und Distanz, Käl­te fast, schaf­fen. Das sinn­fäl­lig zu machen, ist Ser­ebri­an gut gelun­gen. Das Schick­sal der spä­ter von den Sowjets depor­tier­ten Mar­ta wird ergrei­fend geschil­dert, eben­so die Ver­häng­nis­se und Ver­strickun­gen vie­ler ande­rer Men­schen. Dazu gehört auch, dass der Erz­prie­ster Filip Skaw­ron­ski Zuträ­ger des sowje­ti­schen Geheim­dien­stes ist.

Die ange­streb­te und ver­wirk­lich­te epi­sche Brei­te for­dert jedoch Tri­but: Es wird aus­ge­walzt, wo Lako­nik gut­tä­te und wir­kungs­vol­ler wäre. Eine Flut von Adjek­ti­ven ergießt sich über den Leser, auf­ge­bläh­te Sät­ze sind die Fol­ge, die den Lese­fluss hem­men. Auch mehr Stren­ge in der deut­schen Ortho­gra­phie könn­te nicht schaden.

Es ist klar, dass bei der Kom­ple­xi­tät des Stof­fes, für die Ver­an­schau­li­chung von Topo­gra­fie und histo­ri­schen Fak­ten und Namen auch Erklä­run­gen unum­gäng­lich sind. Ob es frei­lich sinn­voll war, für die Fuß­no­ten den Appa­rat von Sym­bo­len und Son­der­zei­chen aus Text­ver­ar­bei­tungs­pro­gram­men auf­zu­bie­ten, das bleibt zu bezwei­feln. So fin­det man mit­un­ter auf einer Sei­te im Fuß­no­ten­ap­pa­rat unter­ein­an­der: *, †, ‡, §. Unüber­sicht­lich­keit ist die Folge.

Den­noch: Die­ses Buch zu lesen, ist ein unbe­ding­ter Gewinn. Nicht nur, weil es eine Fül­le fes­seln­der Geschich­ten vor einem aus­brei­tet und die Histo­rie der Stadt Czer­no­witz und der Buko­wi­na ver­ste­hen lehrt. Son­dern weil es auf dezen­te und gleich­zei­tig ein­dring­li­che Wei­se zeigt, dass nichts erle­digt, nichts abge­schlos­sen ist in jenem schö­nen Land­strich zwi­schen Rumä­ni­en, Russ­land, Mol­dau, Ukrai­ne, Trans­ni­stri­en nicht weit ent­fernt. Denn wie­der ist Czer­no­witz der Krieg nahe, dro­hen der Stadt Zer­stö­rung, Tod, Depor­ta­ti­on. Erz­prie­ster Filip Skaw­ron­ski »zwei­fel­te nicht dar­an, dass in eini­gen Mona­ten (…) nach und nach alle Kriegs­en­gel gestürzt wür­den, wie auch alle ihre gro­ßen natio­na­len Mythen«. Er hat sich furcht­bar geirrt mit sei­nen Hoffnungen.

Oleg Ser­ebri­an: Tan­go in Czer­no­witz. Roman. Aus dem Rumä­ni­schen von Anke Pfei­fer. Morio Ver­lag 2023, 404 S., 30 €.