Allein die vielen Namen der bukowinischen Hauptstadt erzählen von ihrem Schicksal: Tschernowitz, Tscherniwzi auf Ukrainisch, Tschernowzy auf Russisch, Cernăuți auf Rumänisch, womit aber noch längst nicht alle aufgezählt sind. Juden, Deutsche, Rumänen, Ukrainer und Polen bewohnten die Stadt, die man zu Recht einen multikulturellen Ort nennen durfte. Den Mythos Czernowitz beschreiben vielleicht »Klein Wien« oder »Jerusalem am Prut« am besten. Bekannte Schriftsteller und Schriftstellerinnen stammen aus der Stadt: Paul Celan, Alfred Margul-Sperber, Rose Ausländer, Olha Kobyljanska; es blühte die jiddische Sprache. Czernowitz war für die Mächte der Region immer begehrtes Objekt: Die Stadt gehörte zur Habsburger Monarchie, zu Rumänien, zur Sowjetunion, heute ist es eine ukrainische Stadt: Чернівці.
Der aus der Republik Moldau (vormals Moldauische Sozialistische Sowjetrepublik) stammende Schriftsteller Oleg Serebrian (Jahrgang 1969, mit nicht uninteressanter Karriere, siehe Seite 403 des Buches) schildert in seinem Roman »Tango in Czernowitz« ein besonders finsteres Kapitel der Geschichte Czernowitz’ im Frühjahr 1944. Die Stadt war nach einer kurzen Besetzung durch sowjetische Truppen 1940/41 (reiche Bürger, viele Juden darunter, wurden als »Klassenfeinde« verfolgt oder deportiert) wieder zu Rumänien gekommen, das mit Nazideutschland verbündet war. Die Verfolgung jüdischer Menschen ging mit deutscher Beteiligung weiter.
Im Verlaufe des Krieges rückte 1944 die Rote Armee wieder vor und besetzte die Stadt erneut. Es begann die nächste Tragödie. Diese erleiden auch die Protagonisten des Romans, der Erzpriester Filip Skawronski, seine Frau Marta, eine geborene von Randa, und beider Tochter Iuliana. Auch viele der anderen im Buch auftretenden Menschen, von denen einige dank der Kunst des Autors einem wirklich als Menschen nahekommen, wie etwa der Doktor Șveț oder Filips Vater, der Förster Arhip, oder die Dienst- und Kinderfrau Perla. Sie werden in ihrer Widersprüchlichkeit, Güte, Härte, Hilfsbereitschaft, Arglosigkeit, Bosheit, Beschränktheit, die Weitsicht nicht ausschließt, geschildert Andere bleiben Figuren im Sinne des Wortes. Besonders bei der Darstellung sowjetischer Besatzer geht es meistens über »Typen« nicht hinaus.
Die Ehe Filips und Martas ist kompliziert, wobei zuerst nicht so recht klar wird, warum sich die beiden so schwertun miteinander. Dann begreift man, wie sehr die Herkunft und die Sprache Weltsichten prägen – und Distanz, Kälte fast, schaffen. Das sinnfällig zu machen, ist Serebrian gut gelungen. Das Schicksal der später von den Sowjets deportierten Marta wird ergreifend geschildert, ebenso die Verhängnisse und Verstrickungen vieler anderer Menschen. Dazu gehört auch, dass der Erzpriester Filip Skawronski Zuträger des sowjetischen Geheimdienstes ist.
Die angestrebte und verwirklichte epische Breite fordert jedoch Tribut: Es wird ausgewalzt, wo Lakonik guttäte und wirkungsvoller wäre. Eine Flut von Adjektiven ergießt sich über den Leser, aufgeblähte Sätze sind die Folge, die den Lesefluss hemmen. Auch mehr Strenge in der deutschen Orthographie könnte nicht schaden.
Es ist klar, dass bei der Komplexität des Stoffes, für die Veranschaulichung von Topografie und historischen Fakten und Namen auch Erklärungen unumgänglich sind. Ob es freilich sinnvoll war, für die Fußnoten den Apparat von Symbolen und Sonderzeichen aus Textverarbeitungsprogrammen aufzubieten, das bleibt zu bezweifeln. So findet man mitunter auf einer Seite im Fußnotenapparat untereinander: *, †, ‡, §. Unübersichtlichkeit ist die Folge.
Dennoch: Dieses Buch zu lesen, ist ein unbedingter Gewinn. Nicht nur, weil es eine Fülle fesselnder Geschichten vor einem ausbreitet und die Historie der Stadt Czernowitz und der Bukowina verstehen lehrt. Sondern weil es auf dezente und gleichzeitig eindringliche Weise zeigt, dass nichts erledigt, nichts abgeschlossen ist in jenem schönen Landstrich zwischen Rumänien, Russland, Moldau, Ukraine, Transnistrien nicht weit entfernt. Denn wieder ist Czernowitz der Krieg nahe, drohen der Stadt Zerstörung, Tod, Deportation. Erzpriester Filip Skawronski »zweifelte nicht daran, dass in einigen Monaten (…) nach und nach alle Kriegsengel gestürzt würden, wie auch alle ihre großen nationalen Mythen«. Er hat sich furchtbar geirrt mit seinen Hoffnungen.
Oleg Serebrian: Tango in Czernowitz. Roman. Aus dem Rumänischen von Anke Pfeifer. Morio Verlag 2023, 404 S., 30 €.