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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Covid-19 – Nutznießer der Austerität

Seit dem 4. April hat die 120 Jah­re alte Labour Par­ty einen neu­en Vor­sit­zen­den: Keir Star­mer. Der Nach­fol­ger des nach der jüngst kra­chend ver­lo­re­nen Unter­haus­wahl zurück­ge­tre­te­nen Jere­my Cor­byn hat sich als Gene­ral­staats- und Men­schen­rechts­an­walt einen Namen gemacht. Beim legen­dä­ren Refe­ren­dum 2016 setz­te er sich für den Ver­bleib in der Euro­päi­schen Uni­on ein und trat kurz dar­auf mit ande­ren Labour-Poli­ti­kern aus dem Schat­ten­ka­bi­nett von Par­tei­chef Cor­byn aus, weil er des­sen zöger­li­che und wenig enga­gier­te Hal­tung in der Fra­ge des Brexits ablehn­te (immer­hin hat­te ein erheb­li­cher Teil der Labour-Anhän­ger ent­ge­gen der offi­zi­ell ver­tre­te­nen Par­tei­li­nie für den EU-Aus­tritt gestimmt). Zudem unter­stütz­te Star­mer bei den im Sep­tem­ber 2016 durch­ge­führ­ten Wah­len zum Par­tei­vor­sitz den gemä­ßigt lin­ken Kan­di­da­ten Owen Smith gegen den sich als »demo­kra­ti­schen Sozia­li­sten« bezeich­nen­den Cor­byn, der aller­dings mit immer­hin rund 62 Pro­zent der Stim­men sei­nen Vor­sitz behaup­ten konn­te. Als Cor­byn sei­nem Kri­ti­ker kurz dar­auf den Posten des Brexit-Schat­ten­mi­ni­sters (Shadow Secre­ta­ry of Sta­te for Exi­ting the Euro­pean Uni­on) anbot, nahm Keir Star­mer bemer­kens­wer­ter­wei­se die Beru­fung an und folg­te trotz sei­ner pro­eu­ro­päi­schen Hal­tung fort­an den Vor­ga­ben Cor­byns. Jeden­falls gehör­te er zu den­je­ni­gen oppo­si­tio­nel­len Par­la­men­ta­ri­ern, die die Regie­rung von Pre­mier­mi­ni­ste­rin The­re­sa May auto­ri­sier­ten, im März 2017 den Aus­tritts­an­trag an die EU zu stel­len, was dann auch geschah. Zugleich for­der­te er ein zwei­tes Refe­ren­dum über den von der Regie­rung in der Fol­ge aus­ge­han­del­ten Brexit-Vertrag.

Unmit­tel­bar nach sei­ner Wahl bat Keir Star­mer in sei­ner neu­en Funk­ti­on als Labour-Chef den Depu­tier­ten­aus­schuss bri­ti­scher Juden brief­lich und per Video um Ent­schul­di­gung für den seit Jah­ren immer wie­der zu Tage getre­te­nen Anti­se­mi­tis­mus in sei­ner Par­tei. Zugleich ver­si­cher­te der 2014 von der Köni­gin für »Ver­dien­ste um Recht und Straf­ver­fol­gung« geadel­te sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Hoff­nungs­trä­ger der Regie­rung unter Boris John­son sei­ne Unter­stüt­zung im Kampf gegen die Covid-19-Pandemie.

Die von Boris John­son im Dezem­ber 2019 instal­lier­te Tory-Regie­rung hat in ihren von Brexi­sten domi­nier­ten Rei­hen zahl­rei­che Mini­ste­rin­nen und Mini­ster, die admi­ni­stra­tiv alles ande­re als erfah­ren sind und spä­te­stens seit dem Beginn der Coro­na-Kri­se genau­so über­for­dert wir­ken wie ihr Chef. Wie beton­te nicht Boris John­son am 3. März in der Dow­ning Street: »Wir haben bereits einen fan­ta­sti­schen NHS [Natio­nal Health Ser­vice], fan­ta­sti­sche Test­sy­ste­me und eine fan­ta­sti­sche Über­wa­chung der Aus­brei­tung von Krank­hei­ten.« – Hat­ten die Bri­ten rea­li­ter aber nicht, denn es fehl­te an Inten­siv­bet­ten und Beatmungs­ge­rä­ten, an Schutz­be­klei­dung, Ein­mal­hand­schu­hen und Gesichts­mas­ken für die Mit­ar­bei­ter in den Kli­ni­ken und Alters­hei­men sowie erheb­lich an Tests. Im Übri­gen waren im Lau­fe des März gut ein Vier­tel der rund 500.000 Ärz­te, Kran­ken­schwe­stern und Pfle­ger krank gemel­det oder in der Selbst­iso­la­ti­on. Schließ­lich zog John­son am 23. März in einem »Prime Mini­ste­ri­al State­ment« die Reiß­lei­ne und erließ har­te Aus­gangs­be­schrän­kun­gen, weil ohne »eine rie­si­ge natio­na­le Anstren­gung zum Auf­hal­ten des Virus« das staat­li­che Gesund­heits­sy­stem NHS nicht mehr alle Schwer­kran­ken ver­sor­gen kön­ne. Den­noch stieg die Zahl der Toten und Infi­zier­ten täg­lich wei­ter, wobei gegen alle Bit­ten der Exper­ten zunächst nur die Todes­fäl­le aus den Kran­ken­häu­sern, nicht aber die aus den hef­tig betrof­fe­nen (Alten-) Pfle­ge­hei­men und nicht­sta­tio­nä­ren Ein­rich­tun­gen ver­öf­fent­licht wurden.

Der neue Oppo­si­ti­ons­füh­rer Keir Star­mer ver­steht sich zuneh­mend dar­auf, der der Coro­na-Kri­se offen­bar nicht gewach­se­nen Regie­rung und ihrem Chef John­son ihre Ver­feh­lun­gen zu ver­deut­li­chen. Das zeig­te sich nicht zuletzt im Mai, als der Archi­tekt der Brexit-Kam­pa­gne und ein­fluss­rei­che Chef­be­ra­ter Domi­nic Cum­mings in den Fokus der Medi­en gera­ten war, weil er trotz stren­ger Aus­gangs­be­schrän­kun­gen eine lan­ge Rei­se zu sei­nen Eltern und einen wei­te­ren Aus­flug unter­nom­men hat­te. Zwar behaup­te­te Cum­mings, er habe im Rah­men der Lock­down-Regeln gehan­delt, und teil­te die Poli­zei schließ­lich mit, der Son­der­be­ra­ter brau­che nicht mit Kon­se­quen­zen zu rech­nen; aber sei­ne offen­ba­ren Ver­stö­ße gegen die Regie­rungs­auf­la­gen lösten sowohl in der brei­ten Bevöl­ke­rung als auch bei der Oppo­si­ti­on und sogar bei diver­sen kon­ser­va­ti­ven Abge­ord­ne­ten Rück­tritts­for­de­run­gen aus. Der Tenor lau­te­te – hier in den Wor­ten des Tory Ste­ve Bak­er: »Domi­nic Cum­mings muss gehen, bevor er Groß­bri­tan­ni­en, der Regie­rung, dem Pre­mier­mi­ni­ster, unse­ren Insti­tu­tio­nen oder der Con­ser­va­ti­ve Par­ty noch mehr Scha­den zufügt.« (BBC, 25.5.2020, eig. Übers.) Pre­mier Boris John­son stell­te sich jedoch hin­ter sei­nen mit am Kabi­netts­tisch sit­zen­den Top-Stra­te­gen und block­te alle Fra­gen zu der »poli­tisch moti­vier­ten Ange­le­gen­heit« ab. Sehr zum Unwil­len Keir Star­mers. »Boris John­son hät­te einen Strich unter die Domi­nic-Cum­mings-Saga zie­hen sol­len, aber er war zu schwach, um zu agie­ren«, ließ er am 28. Mai die BBC wis­sen und beton­te, unter ihm wäre Cum­mings »längst ent­las­sen« worden.

Der Regie­rungs­chef, der sich bis zum Beginn der Coro­na-Kri­se im Wohl­wol­len sei­ner gro­ßen Frak­ti­on und der kon­ser­va­ti­ven Medi­en – ein­schließ­lich der auf­la­gen­star­ken Bou­le­vard­blät­ter – son­nen konn­te, ver­liert seit Wochen ten­den­zi­ell an Rück­halt selbst bei sei­nen gro­ßen Fans. Sei­ne Umfra­ge­wer­te sin­ken. Denn auch die zum Juni-Beginn in Kraft getre­te­nen, teils wider­sprüch­li­chen Locke­run­gen schaf­fen nur bedingt Klar­heit. So gibt es bei­spiels­wei­se kei­ne gesetz­li­che Pflicht, Mas­ken zu tra­gen – selbst nicht in den stark fre­quen­tier­ten Lon­do­ner U-Bah­nen, wo kaum jemand die gefor­der­ten 2-Meter-Abstän­de ein­hält. (»Wea­ring a face cove­ring is optio­nal and is not requi­red by the law.«) Und weil Pre­mier John­son die Locke­run­gen zuvor nicht mit Schott­land, Wales und Nord­ir­land abge­stimmt hat­te, ern­te­te er zusätz­lich Kri­tik, denn nun gel­ten in Eng­land ande­re Regeln als im Rest des Lan­des. Die Zahl der Kom­men­ta­to­ren, die den Umgang der Regie­rung mit der Kri­se als Kata­stro­phe gei­ßeln, nimmt jeden­falls zu. Sogar die Tory-freund­li­che Tages­zei­tung Dai­ly Tele­graph ver­liert zuneh­mend die Geduld mit ihrem ein­sti­gen Star-Kolumnisten.

Boris John­son führt eine Regie­rung, deren gro­tes­kes Coro­na-Miss­ma­nage­ment bereits mehr als 50.000 Men­schen im (noch) Ver­ei­nig­ten König­reich das Leben geko­stet hat. »Wir haben die höch­sten Todes­zah­len in Euro­pa und die zweit­höch­sten in der Welt«, sta­tu­ier­te Keir Star­mer bei einer Fra­ge­stun­de im Par­la­ment und fuhr fort: »Das ist kein Erfolg […] – kann der Pre­mier­mi­ni­ster uns bit­te sagen, wie um Him­mels wil­len es dazu kom­men konn­te.« Der ver­meint­li­che Gute-Lau­ne-Bär Boris blieb dem elo­quen­ten Schat­ten-Pre­mier in sei­ner miss­mu­ti­gen Gegen­re­de jedoch Anga­ben über kon­kre­te Grün­de schul­dig, beließ es bei dem unnüt­zen Hin­weis auf die Pro­ble­ma­tik inter­na­tio­na­ler Ver­glei­che. Der scharf­sin­ni­ge Star­mer wie­der­um hat­te zuvor auf einer Video­kon­fe­renz bereits ver­deut­licht, war­um die Pan­de­mie aus­ge­rech­net im Ver­ei­nig­ten König­reich einen so guten Nähr­bo­den gefun­den hat. Die von den Tories über zehn Jah­re lang extrem prak­ti­zier­te Austeri­täts­po­li­tik hat einen so »schwe­ren Scha­den« ange­rich­tet, ana­ly­sier­te er, dass das Land kei­ne aus­rei­chen­den Abwehr­kräf­te mehr hat.

In der Tat hat die sozia­le und wirt­schaft­li­che Ungleich­heit mas­siv zuge­nom­men. Sie beschleu­nig­te sich – um genau zu sein – am 22. Juni 2010, als Schatz­kanz­ler Geor­ge Osbor­ne die bis­lang umfas­send­ste Kür­zungs­pe­ri­ode der Aus­ga­ben für den öffent­li­chen Dienst seit dem Zwei­ten Welt­krieg ankün­dig­te. Die tief­grei­fen­den Kür­zun­gen bei Dienst­lei­stun­gen, Kom­mu­nal­ver­wal­tun­gen und dem Gesund­heits­sy­stem NHS sowie gene­rell die von den Tories durch­ge­setz­te Umstruk­tu­rie­rung und Ver­mark­tung des öffent­li­chen Sek­tors haben dazu geführt, dass Groß­bri­tan­ni­en grö­ße­re Not­fäl­le kaum mehr bewäl­ti­gen kann. Eben des­halb ist die Coro­na-Todes­ra­te in den ärme­ren Groß­stadt­vier­teln und Regio­nen dop­pelt so hoch wie in den rei­che­ren, sind Ange­hö­ri­ge der asia­ti­schen und schwar­zen Bevöl­ke­rungs­grup­pen stär­ker betrof­fen als die wei­ßen europäischen.

»Wenn ein ein­zel­ner einem andern kör­per­li­chen Scha­den tut, und zwar sol­chen Scha­den, der dem Beschä­dig­ten den Tod zuzieht, so nen­nen wir das Tot­schlag«, for­mu­lier­te Fried­rich Engels um 1844 in sei­nem bahn­bre­chen­den Werk »Die Lage der arbei­ten­den Klas­se in Eng­land«. Und wei­ter: »Wenn der Täter im vor­aus wuß­te, daß der Scha­den töd­lich sein wür­de, so nen­nen wir sei­ne Tat einen Mord. Wenn aber die Gesell­schaft Hun­der­te von Pro­le­ta­ri­ern in eine sol­che Lage ver­setzt, daß sie not­wen­dig einem vor­zei­ti­gen, unna­tür­li­chen Tode ver­fal­len, einem Tode, der eben­so gewalt­sam ist wie der Tod durchs Schwert oder die Kugel; wenn sie Tau­sen­den die nöti­gen Lebens­be­din­gun­gen ent­zieht, sie in Ver­hält­nis­se stellt, in wel­chen sie nicht leben kön­nen; wenn sie sie durch den star­ken Arm des Geset­zes zwingt, in die­sen Ver­hält­nis­sen zu blei­ben, bis der Tod ein­tritt, der die Fol­ge die­ser Ver­hält­nis­se sein muß; wenn sie weiß, nur zu gut weiß, daß die­se Tau­sen­de sol­chen Bedin­gun­gen zum Opfer fal­len müs­sen, und doch die­se Bedin­gun­gen bestehen läßt – so ist das eben­so­gut Mord wie die Tat des ein­zel­nen, nur ver­steck­ter, heim­tücki­scher Mord, ein Mord, gegen den sich nie­mand weh­ren kann, der kein Mord zu sein scheint, weil man den Mör­der nicht sieht, weil alle und doch wie­der nie­mand die­ser Mör­der ist, weil der Tod des Schlacht­op­fers wie ein natür­li­cher aus­sieht und weil er weni­ger eine Bege­hungs­sün­de als eine Unter­las­sungs­sün­de ist. Aber er bleibt Mord. Ich wer­de nun zu bewei­sen haben, daß die Gesell­schaft in Eng­land die­sen von den eng­li­schen Arbei­ter­zei­tun­gen mit vol­lem Rech­te als sol­chen bezeich­ne­ten sozia­len Mord täg­lich und stünd­lich begeht; daß sie die Arbei­ter in eine Lage ver­setzt hat, in der die­se nicht gesund blei­ben und nicht lan­ge leben kön­nen; daß sie so das Leben die­ser Arbei­ter stück­wei­se, all­mäh­lich unter­gräbt und sie so vor der Zeit ins Grab bringt; ich wer­de fer­ner bewei­sen müs­sen, daß die Gesell­schaft weiß, wie schäd­lich eine sol­che Lage der Gesund­heit und dem Leben der Arbei­ter ist, und daß sie doch nichts tut, um die­se Lage zu ver­bes­sern.« (MEW Bd. 2, Ber­lin 1972, S. 324-326)

Und wer hat heu­te zu bewei­sen, dass die kon­ser­va­ti­ven Regie­run­gen seit über einem Jahr­zehnt Bedin­gun­gen geschaf­fen haben, die – wie Engels schrei­ben wür­de – »eine über­mä­ßi­ge Pro­por­ti­on von Ster­be­fäl­len, eine fort­wäh­ren­de Exi­stenz von Epi­de­mien, eine sicher fort­schrei­ten­de kör­per­li­che Schwä­chung der arbei­ten­den Gene­ra­ti­on« nach sich zie­hen? Doch wohl Keir Star­mer und die von ihm geführ­te Labour Party.