»Das Coronavirus zwingt uns zur Distanz. Und doch bringt dieser Ausnahmezustand auch Momente von Wärme und Solidarität«, schreibt der Spiegel. Die Beschäftigten machen in den Betrieben derzeit andere Erfahrungen – wenn es um das Verhalten von Unternehmen geht.
Während derzeit »Social Distancing« eine der wichtigsten Vorgaben der Landesregierungen ist und Bundeskanzlerin Merkel von einem empfohlenen Abstand von zwei Metern zu anderen Menschen spricht, wird diese Vorgabe in vielen Betrieben ignoriert. Der oft verwendete Begriff »Lockdown« verschleiert, dass in Betrieben durchgehend weitergearbeitet wurde und wird, nicht nur in Einzelhandel, Pflege oder Krankenhaus. Auch beispielsweise Rüstungsbetriebe, Chemieindustrie, Banken, Versicherungen oder Logistikbranche stellten keineswegs das Arbeiten ein, schickten auch nicht alle ins Homeoffice.
Berufsgenossenschaft oder Gewerbeaufsicht lassen sich in normalen Zeiten schon eher selten im Betrieb blicken, erst recht nicht zur Vorabprüfung von Pandemieplänen. Ob Distanzregeln bei der Arbeit auf der Baustelle, beim Gang zum Drucker in der Verwaltung oder im Großraumbüro eingehalten werden, interessiert Unternehmen wenig. Denn von Behördenseite wird offen zugegeben: Da Corona allen Betrieben Schutzmaßnahmen abverlange, sei derzeit eine breite Überwachung des Arbeitsschutzes nicht möglich, so das sächsische Wirtschaftsministerium. Die behördliche Überwachung beschränke sich darauf, Beschwerden Lohnabhängiger nachzugehen, so die Sprecherin. »Zu Betriebsschließungen ist es noch nicht gekommen«, erklärte die Sprecherin gegenüber dem neuen deutschland (15.4.2020).
Verordnungen auf Länderebene zeigen, dass die Regeln, die offensichtlich nicht überprüft werden, auch wachsweich formuliert sind. So ist zum Beispiel für das Baugewerbe in Baden-Württemberg die Mindestabstandsregel von 1,50 Meter nicht kategorisch vorgeschrieben. Das Landeswirtschaftsministerium legt in einer Corona-Schutzbestimmung fest: »Wo immer möglich« gelte das »Einhalten eines Abstands zu den Kolleginnen und Kollegen und zu anderen Menschen von mindestens 1,50 m.« Auch heißt es, dass gemeinsame Fahrten der Bauarbeiter in einem Fahrzeug »möglichst vermieden werden sollten«. Das Risiko tragen demnach die Beschäftigten – es geht um ihre Gesundheit.
Bei den Schwächsten, den Erntehelfern in der Landwirtschaft, sieht es noch extremer aus. Medienwirksame Erklärungen von Regierungsvertretern und Bauernverbänden, die Saisonarbeitskräfte vor Infektionen zu schützen, waren schnell vergessen. Katastrophale Arbeitsbedingungen bemängeln die Gewerkschaften: »Arbeitsgruppen mit bis zu 45 Personen, Unterbringung in voll ausgelasteten Mehrbettzimmern, Mund-Nasen-Masken meist Fehlanzeige – einen Toten gibt es schon«, kritisiert DGB-Vorstand Annelie Buntenbach.
Es überrascht kaum, dass Bundeslandwirtschaftsministerin Klöckner auf Seiten der Unternehmen steht: »Es kommen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die frei entscheiden können, wo sie arbeiten wollen in Europa, weil sie Geld verdienen möchten« (https://daserste.ndr.de). Im Sinne der Kapitalvertreter handeln auch ihre Kabinettskollegen. Die Anfang des Jahres in Kraft getretenen minimalistischen »Pflegepersonaluntergrenzen« für die Krankenhäuser hat Gesundheitsminister Spahn schon wieder ausgesetzt. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) jubelt, die Pfleger werden weiter belastet. Auch der Druck auf die Einzelhandelsangestellten wird erhöht. Eine der ersten Regierungsmaßnahmen in Corona-Zeiten war die »Erlaubnis zum Sonntagsverkauf«. Bundesarbeitsminister Heil ging im April noch einen Schritt weiter, indem er per Verordnung den 12-Stundentag für KrankenpflegerInnen ermöglichte, erst mal bis zum 30. Juni 2020. Während in Österreich dafür noch die FPÖ als Regierungspartei benötigt wurde, ist hierzulande die Pandemie ausreichend.
Der Schutz für die Belegschaften vor Überarbeitung? Fehlanzeige. Solidarität sieht anders aus.
Marcus Schwarzbach ist Autor des neuen isw-wirtschaftsinfo 56: »Homeoffice: Vom Traum zum Alptraum«, siehe: https://www.isw-muenchen.de/produkt/wirtschaftsinfo-56/