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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Corona-Nachlese

Mit eini­gem Abstand scheint es mir sinn­voll, auf die Zeit mit Coro­na zurück­zu­blicken und fest­zu­stel­len, wie die Krank­heit und wie die Reak­tio­nen dar­auf auf die Gesell­schaft ein­ge­wirkt haben. Zunächst ein­mal ist fest­zu­stel­len, dass Coro­na in fata­ler Wei­se einen Trend ver­stärkt hat, der uns bereits seit vie­len Jahr­zehn­ten bedroht: Den Trend zur Iso­la­ti­on, zur Ato­mi­sie­rung der Indi­vi­du­en. Es wur­de als offi­zi­el­le Ideo­lo­gie ver­kün­det, Abstand sei nun die neue Art der Soli­da­ri­tät. Ein Schelm, wer dabei an Orwell und sein »Neu­sprech« denkt. Im Fal­le von Coro­na traf es vor allem die angeb­lich beson­ders zu schüt­zen­den Vul­ner­ablen, näm­lich die Alten und Kran­ken. Erstaun­li­cher­wei­se haben sich beson­ders die Jun­gen und die­je­ni­gen, die sich als links emp­fin­den, mit gera­de­zu fun­da­men­ta­li­sti­schen, auto­ri­tä­ren Vor­schlä­gen her­vor­ge­tan. Auf Nach­fra­gen erklär­ten auch sie, sie woll­ten die Vul­ner­ablen schüt­zen, sie woll­ten sich nicht schul­dig machen am Tod des Groß­va­ters, der Groß­mutter. Ein ehren­wer­tes Motiv. ABER: Wer so han­delt, mag das für sich tun, aber es besteht immer die Gefahr, dass man die eige­nen Vor­sichts­maß­nah­men abso­lut setzt, sie ande­ren auf­zwin­gen will. Außer­dem hat sich die Stra­te­gie »Zero Covid« ja inzwi­schen im Muster­land der Gän­ge­lung, in Chi­na, als abso­lu­te Kata­stro­phe entpuppt.

In den Kran­ken­häu­sern und Alten­hei­men wur­den die Betrof­fe­nen, wie auch sonst üblich, über­haupt nicht gefragt, sie muss­ten ohn­mäch­tig hin­neh­men, was ver­fügt wur­de. Letzt­lich geht es dort immer nur um den Betriebs­ab­lauf: Den zu stö­ren ist das größt­mög­li­che Ver­bre­chen. Und so sind Unge­zähl­te ohne den Bei­stand ihrer Ange­hö­ri­gen gestor­ben oder an Ein­sam­keit zugrun­de gegangen.

In Poli­tik und Wis­sen­schaft kamen libe­ra­le Stim­men kaum zu Wort. Es gab sie, das ist nicht zu leug­nen. Doch sie wur­den mit größ­tem Eifer nie­der­ge­macht. »Wir rich­ten uns nur nach dem Stand der Wis­sen­schaft«, tön­te die Poli­tik. Aber die Wis­sen­schaft hat­te als Stan­dard eta­bliert, dass es eine Rei­he von Jah­ren braucht, um einen Impf­stoff zu ent­wickeln. Gegen die­se bewähr­te wis­sen­schaft­li­che Evi­denz wur­de den Leu­ten inner­halb weni­ger Mona­te ein Impf­stoff prä­sen­tiert: Wie kann man sich noch wun­dern, dass dar­auf­hin der Wider­stand gegen die­se intel­lek­tu­el­le Zumu­tung wuchs? Vor allem die­je­ni­gen, die in die­sem Bereich arbei­te­ten, muss­ten sich ja wohl an den Kopf grei­fen, wenn von einem Tag auf den ande­ren alles umge­wor­fen wur­de, was sie in Stu­di­um und Aus­bil­dung über Jah­re hin­weg gelernt und prak­ti­ziert hat­ten! Zusätz­lich wur­de ruch­bar, dass die Biontec-Sprit­ze ande­re Eigen­schaf­ten hat­te als frü­he­re Impf­stof­fe. Wo die Nano­par­ti­kel, die dar­in ver­ar­bei­tet wer­den, im Kör­per ver­blie­ben, das konn­te nie­mand sagen. Trotz­dem hieß es, all das sei alter­na­tiv­los. Und so wei­ter und so fort – ich will hier nicht lan­ge Bekann­tes wie­der­ho­len. Kein Wun­der, dass die Rechts­ra­di­ka­len einen Auf­schwung erleb­ten und dass die ver­un­si­cher­ten Mas­sen bereit waren, ange­sichts der regie­rungs­amt­li­chen Pro­pa­gan­da auch abstru­sen Theo­rien Glau­ben zu schenken.

Die Test­pflicht für Schü­le­rIn­nen hat einen Kin­der­arzt aus Bad Sal­zu­flen die Zulas­sung geko­stet. Er hat­te Vide­os ver­öf­fent­licht, in denen er die (beson­ders zu Anfang durch­ge­hend durch­ge­führ­te) Pra­xis anpran­ger­te, das Test­stäb­chen beson­ders tief in die Nase ein­zu­füh­ren und absicht­lich die Schleim­haut zu ver­let­zen, um sicher an mög­li­che Kei­me zu gelan­gen. In der Fol­ge stie­gen Hals- und Nasen­ent­zün­dun­gen bei den Kin­dern an; außer­dem erwähn­te er Fäl­le, in denen sich die Kin­der wei­ger­ten, zur Schu­le zu gehen, um sich der schmerz­haf­ten Pro­ze­dur nicht mehr aus­set­zen zu müs­sen. Der Arzt schlug eine ande­re Test­me­tho­de vor: Die Kin­der soll­ten ihren Nasen­schleim auf eine Test­fo­lie abge­ben, dort erst soll­te das Test­stäb­chen zum Ein­satz kom­men. Ein höchst plau­si­bler Vor­schlag, nicht jedoch für die Behör­den, die mit dis­zi­pli­na­ri­schen Maß­nah­men reagierten.

Auch die Mas­ken­pflicht in Schu­len führ­te zu kras­sen und unbe­ab­sich­tig­ten Fol­gen. Ein Kind, des­sen Zahn wäh­rend des Unter­richts zu wackeln anfing, pul­te so lan­ge mit der Zun­ge dar­an her­um, dass er sich schließ­lich völ­lig löste. Wie nun damit umge­hen, ohne die Mas­ke abzu­set­zen? Das Kind schluck­te den Zahn schließ­lich her­un­ter und sag­te spä­ter, als man es frag­te, war­um es die Mas­ke nicht abge­setzt hat­te, um den Zahn aus dem Mund zu neh­men: »Aber das ist doch gefährlich!«

Bis heu­te habe ich ein mul­mi­ges Gefühl, wenn ich einen Laden betre­te, nicht gera­de im Sin­ne von »Das ist doch gefähr­lich«, son­dern: »Müss­te ich jetzt nicht eine Mas­ke auf­set­zen, aber wo ist die?« Bis wir die­se Prä­gun­gen los­wer­den, wird es noch eine Wei­le dauern.

Ich hat­te ein selt­sa­mes Erleb­nis, als die Mas­ken­pflicht schon über­all abge­schafft war, nur nicht bei der Bahn. Ich stei­ge aus einem vol­len Zug aus, der in mei­ner Stadt endet, gro­ßes Gedrän­ge auf dem Bahn­steig, aber der Auf­zug befin­det sich ganz in der Nähe. Die Tür ist noch offen, und ich gehe hin­ein. An der gegen­über­lie­gen­den Sei­te steht eine Frau, eine wei­te­re mit Kin­der­wa­gen in der Mit­te. Als die Tür sich schon schließt, kommt noch ein Mann hin­ter­her. Da sagt auf ein­mal die Frau, die als erste ein­ge­stie­gen ist: »Nein, ich will raus, jetzt sind hier schon meh­re­re Leu­te ohne Mas­ke!« Ich set­ze sofort mei­ne Mas­ke wie­der auf und fra­ge die Frau, was sie denn an ande­ren Orten mache, wo die Mas­ken­pflicht auf­ge­ho­ben sei? Die Mas­ke wur­de zu einem Fetisch. Und dann hieß es auch noch, dass der Gebrauch der Mas­ke, statt zu schüt­zen, im Gegen­teil dazu geführt hat, dass das Immun­sy­stem der Men­schen geschwächt wur­de. Wenn sich das nach­wei­sen lie­ße, wäre es ein wei­te­rer Beleg der Tat­sa­che, dass ange­sichts einer Pan­de­mie alle Vor­sichts­maß­nah­men ver­geb­lich sind oder zumin­dest unge­plan­te Neben­wir­kun­gen entfalten.

Ich selbst habe alle Vor­schrif­ten zäh­ne­knir­schend befolgt, in Abwä­gung der gesell­schaft­li­chen Nach­tei­le der Nicht­be­fol­gung, nicht aus Über­zeu­gung. Die Frei­heit war mir immer wich­ti­ger, oder anders­her­um: Von den staat­li­chen Vor­schrif­ten habe ich nie­mals eine wirk­li­che Ver­bes­se­rung der Lage erwartet.

Geschicht­lich ist die Coro­na­si­tua­ti­on natür­lich nichts Neu­es. Schon immer haben die Behör­den zu hilf­lo­sen Extremmaß­nah­men gegrif­fen, die so gut wie nichts bewirkt, aber gro­ßen gesell­schaft­li­chen Scha­den ange­rich­tet haben, ob es um Pest oder Cho­le­ra oder sonst eine Epi­de­mie ging. Ich erin­ne­re mich an Geschich­ten und Legen­den von selbst­lo­sen Men­schen, denen die Mensch­lich­keit über alles ging und die trotz aller Ver­bo­te die Kran­ken gepflegt und ver­sorgt haben. Man­che von ihnen sind an der jewei­li­gen Epi­de­mie gestor­ben, ande­re nicht. Spä­ter wur­den sie als Hei­li­ge ver­ehrt, dabei haben sie nur das gemacht, was sie machen muss­ten, weil sie ihre Mensch­lich­keit bewah­ren und die Aus­ge­sto­ße­nen nicht ihrem Schick­sal über­las­sen wollten.