Corona-Blues
In meinem Leben habe ich schon über viele Themen gestritten – mit Kollegen und Vorgesetzten, mit Freunden, in politischen Gruppen oder bei Aktionen auf der Straße. Über Atompolitik oder die Aushöhlung des Asylrechtes; über die ungerechte Vermögensverteilung, die Ausbeutung von Menschen und Ländern oder die Abschaffung der Würde durch die Hartz-IV-Gesetzgebung; über Überwachung, die Rolle der Medien oder die Digitalisierung. Im schlechtesten Fall war einfach keine Einigung zu erzielen über das, was jede Seite als Fakten anführte, oder darüber, wie die offensichtlichen Fakten zu bewerten waren. Aber wir haben um Meinungen und Deutungen gerungen, wir haben argumentiert und auch gekämpft, in der Kantine oder am Kneipentisch. Oder in den Medien.
Kein Missverständnis: Ich will die Vergangenheit nicht verklären. Es gab Denunziationen und Verfolgungen, Berufsverbote und Zensur, Medien in speichelleckender Gefolgschaft der Macht und Wasserwerfer oder Gummischrotgeschosse gegen Demonstranten. Es war nie gemütlich, es war nie einfach. Widerstand kostete schon immer Mut. Aber noch nie habe ich, die ich lange nach dem Nationalsozialismus geboren wurde, ein so vergiftetes Klima erlebt wie heute. Eine so bedrohliche Mischung aus Propaganda, Meinungsunterdrückung und fundamentalen Grundrechtseinschränkungen, die von der Mehrheit hingenommen oder gar begrüßt werden. Die »bereitwillige Selbstentmündigung des Souveräns«, wie es die Schweizer Ökonomin Margit Osterloh formulierte, vollzieht sich in rasendem Tempo: Herdentrieb statt Widerstand, Sehnsucht nach Führung statt Selberdenken, Moralkeulen statt demokratischer Auseinandersetzungen. Ein »Autoritätsvirus«, dessen Verbreitung ich langfristig für gefährlicher halte als das Corona-Virus.
Wer sich kritisch zur Corona-Politik äußeren möchte, muss mindestens vorausschicken, kein Verschwörungstheoretiker und kein das Virus leugnender »Covidiot« zu sein. Wer darüber reden möchte, welchen Schaden Demokratie und Menschenrechte durch die Corona-Maßnahmen nehmen, wird verdächtigt, ein Feind der Demokratie zu sein. Und wer der herrschenden Meinung andere Fakten entgegensetzt, gerät sofort unter Verschwörungs-Verdacht. Man ertappt sich dabei, es erst gar nicht zu versuchen. Schließlich will man keinen Shitstorm riskieren und nicht als rechtsradikaler »Querdenker« denunziert werden. Oder im Zusammensein mit alten Freunden, mit der Familie nicht plötzlich diese Sprachlosigkeit erleben, die immer mehr Beziehungen beschädigt. Eine Reihe von Menschen aus meinem Bekannten- oder Freundeskreis wollen mit mir oder anderen Corona-Politik-Bedenkenträgern nicht mehr über Corona sprechen.
Auch früher konnten Auseinandersetzungen über die Verdrängung der Mit-täterschaft während des Nationalsozialismus oder die Ablehnung des Lebensstils der Eltern zu tiefen Rissen in Familien führen, auch früher konnte man sich über Atomkraft oder Asylrecht dauerhaft entzweien, aber Kritiker der Corona-Maßnahmen erleben heute eine bisher ungeahnte kollektive Aggression und Abwertung, sie erfahren üble Nachrede und Diffamierungen, die sie als unsolidarische und fehlgeleitete Personen brandmarken und ihnen insgesamt jede Urteilsfähigkeit absprechen.
Wenn sich Menschen – wie zum Beispiel im sozialen Nachbarschafts-Netzwerk nebenan.de – gegen das Impfen aussprechen oder einzelne Corona-Regeln für unangemessen halten, werden ihre Beiträge gelöscht. Man müsse ja, so argumentierte ein nebenan.de-Mitglied, auch in seinem privaten Wohnzimmer keine Meinung dulden, die den Gastgebern nicht gefalle. Das Gleiche gelte eben für den Betreiber einer Plattform.
Die anspruchsvollste und vornehmste Aufgabe des Journalismus ist die Auswahl der Nachrichten, die Auswahl der Fakten. Diese Auswahl ist selbst beim besten Willen nie ganz objektiv, sie ist immer geprägt von der eigenen Weltanschauung oder der Grundhaltung des Mediums, für das die Journalisten arbeiten. Doch besonders die Idee des öffentlich-rechtlichen Rundfunks oder die längst widerlegte Utopie eines »freien« Internets beinhalteten einst die Idee vieler Stimmen, vieler Meinungen und Argumente, vieler Fakten aus unterschiedlichen Quellen. »Fakten« sind widerlegbar, sie werden aber nicht mehr widerlegt, sondern schlicht als »Fake« bezeichnet, wenn sie der eigenen Position entgegenstehen. Es gibt Fälschungen oder Betrugsversuche, es gibt Hetze und Hass, es gibt Macht und Zensur – und es gibt den anstrengenden Versuch, sich und andere umfassend zu informieren und Hintergründe, Querverbindungen oder Macht-Interessen zu recherchieren. Als Grundlage fürs Zuhören, fürs Argumentieren, fürs Selberdenken.
Was wir wissen, so der Soziologe Niklas Luhmann, wissen wir aus den Medien. Doch die Medien, durch die Echokammern der sozialen Netzwerke längst von kommunikativer Inzucht geschwächt, orientieren sich immer weniger an Ansprüchen wie Aufklärung oder Volksbildung, sondern – manchmal schon von Algorithmen gesteuert – an den Bedürfnissen der Nutzer und deren Konsumverhalten. Die immer kürzer werdenden Aufmerksamkeitsspannen, die digital veränderte Aufmerksamkeitsökonomie, verlangen nach Schlagzeilen und Spannung, nach Vereinfachung und schrumpfhirngerechten Häppchen. Interesse wird mit Dramatik und einseitiger Fokussierung geweckt, beides schürt aber auch Angst. Und diese Angst braucht neue Corona-Nachrichten, neue Überlebensregeln. Die für die Quote geschürte Angst braucht das Gefühl der Schutzgemeinschaft und der moralischen Überlegenheit über die, die sich nicht an Regeln und Denkverbote halten – und dadurch angeblich die Gemeinschaft gefährden. Doch damit nicht genug. Auch die Politiker bedienen die Wünsche der Mediennutzer, der potenziellen Wähler. Und die wollen nun den starken Mann. Über Parteigrenzen hinweg halten fast 80 Prozent (!) der Deutschen den bayerischen Ministerpräsidenten Söder für den richtigen Kanzlerkandidaten. Für den Einzug in Berlin braucht Söder die Marschmusik des Corona-Panikorchesters. Braucht er den Overkill der Corona-Berichterstattung. Braucht er weiter die willfährige Zustimmung der Grünen und der Linken. Während die Erziehung und Überwachung zum guten Menschen der grünen Politikvorstellung entspricht und als willkommene Einstimmung auf weitere Verbote und Disziplinierungsmaßnahmen (kein Fleisch, kein Benziner, kein Ballermann, kein Geschlecht) begrüßt wird, träumen die Linken offenbar noch davon, für ihr Wohlverhalten endlich geliebt zu werden und mit Hilfe des Corona-Virus den Kapitalismus abzuschaffen. Oder mit dem neuen Motto – »Gesundheit vor Freiheit« – das alte neoliberale Denkmuster zu überwinden. Falsch gehofft. Derweil die kleinen Geschäfte für unsere kollektive Gesundheit und die ständig beschworene Solidarität im Lockdown still verenden, findet ein riesiger Kapitaltransfer statt: hin zu den großen multinationalen Konzernen.
Glaubt wirklich irgendwer, es ginge um den Schutz der Bevölkerung? Wenn es tatsächlich um das Leben von Menschen ginge, dann doch nur um das Leben aller Menschen. Doch wenn woanders gestorben wird, ist es uns offenbar egal. 1,4 Millionen an Tuberkulose erkrankte Menschen haben wegen der Corona-Maßnahmen 2020 keine Behandlung erhalten. Eine halbe Million Kranke mehr als in den Jahren zuvor sind deshalb durch Tuberkulose umgekommen. In Afrika oder auch in Indien sterben deutlich mehr Menschen an den indirekten als an den direkten Folgen von Covid-19. Die Wirtschaft ist eingebrochen, die Lieferketten für die kleinen Bauern sind gekappt, Tagelöhner haben millionenfach ihre Arbeit verloren, die Lebensmittelpreise steigen. Es werden keine Masernimpfungen durchgeführt, keine Mückennetze mehr verteilt, HIV-Behandlungen bleiben aus, Medikamente werden nicht ausgegeben. Der Hunger und die Zahl der Hungertoten nehmen dramatisch zu. Und währenddessen lagern die Impfstoffe in den Kühlkellern der wohlhabenden Nationen, und die armen Länder warten auf Almosen vom Tisch der Reichen.
Die Triage, also das vielfach für Europa beschworene Horrorszenario, dass bei drohender Knappheit der medizinischen Ressourcen ausgewählt werden müsste, wer lebensrettende Maßnahmen erhält und wer nicht, findet täglich statt. Auch bei uns. Isolation und Angst verstärken Depressionen und andere psychische Erkrankungen. Kleine Gewerbetreibende, Niedriglöhner in Kurzarbeit, die vielen arbeitslosen Kulturschaffenden können ihre Arbeit nicht ausüben, müssen ihr Erspartes verbrauchen oder haben es längst ausgegeben. Menschen werden krank, wenn ihnen ihre Existenzgrundlage oder ihre Würde genommen wird.
Unmenschlich und traurig ist es auch in den Altenheimen. Also dort, wo seit einem Jahr diejenigen vegetieren, die wir angeblich besonders schützen wollen. Seit ungefähr zehn Jahren betreue ich in meiner Freizeit einige alte Menschen – und ich bin wütend. Die Menschen, um die ich mich kümmere, müssen nicht vor dem Virus, sondern vor Vereinsamung und Verwahrlosung geschützt werden. Dort, wo ich es selbst entscheiden kann, widersetze ich mich allen Corona-Regeln oder Anordnungen. Selbstverständlich nehme ich – auf Wunsch der Alten – die Maske ab, selbstverständlich halte ich den Abstand nicht ein, schon damit ich mich mit den Schwerhörigen unterhalten kann, selbstverständlich umarme ich die Menschen, halte ihre Hand, berühre sie eben. Nur so entsteht Geborgenheit und Vertrauen. Meine Schützlinge wünschen sich Nähe, und dieser Wunsch ist größer als ihre Angst vor Corona. Und: Wann immer sie sterben, ob mit oder ohne Corona, ich will, dass sie sich bis zum letzten Tag ihres Lebens nicht allein, vergessen, ungeliebt fühlen. Und das funktioniert nur über Berührung. Über Nähe. Geht es um die Quantität, um die Länge des Lebens, oder vielleicht mehr um seine Würde?
Das seit Corona ständig wiederholte Gerede von den schützenswerten Alten ertrage ich nur mit einem Brecheimer. Neusprech, eklig. Nach zehn Jahren privater Altenpflege in Wohnungen und Heimen weiß ich, wie gleichgültig dieser Gesellschaft die Alten sind. Ich kenne alles. Gefälschte Entlassungsbriefe aus der Geriatrie, die Reha-Maßnahmen behaupten, die es nie gegeben hat; der vergebliche Kampf mit der Krankenkasse um ausreichende Mengen von Inkontinenzmaterial, weil genügend Hilfsmittel mit der Grundsicherung nicht aus eigener Tasche zu bezahlen sind; die Abhängigkeit von ambulanten Pflegediensten, die man nicht kritisieren darf, weil sie ihren Kunden jederzeit kündigen können und es zu wenige Alternativen gibt; die zermürbenden Gespräche mit dem Medizinischen Dienst, um eine höhere Pflegestufe und damit etwas mehr Geld und Pflege zu bekommen; Nachbarn, die sich über den Rollator im Hausflur aufregen. Ich kenne die Zustände in vielen Altenheimen – zu wenig Personal; alte Menschen, die den ganzen Tag auf einem Stuhl im Aufenthaltsraum sitzen, die nie Besuch bekommen; bettelnde Alte, deren 120 Euro Sozialamts-Taschengeld im Monat nicht für Zeitungen, Zigaretten, Schokolade, für neue Schuhe, einen neuen Pullover oder einen Cafè-Besuch reicht. Und jetzt plötzlich sind diese allein gelassenen Alten besonders schützenswert? Das hieß und heißt: Zu ihrem eigenen Schutz weggesperrt und endgültig entmündigt. Nach ihrer Meinung zu den Schutzmaßnahmen wurden und werden die Alten nicht gefragt. Also Quarantäne, keine gemeinsamen Mitttagessen, geschlossene Cafeterien, Besuchs- und Ausgehverbote, Maskenpflicht, Trennscheiben. In einem Gespräch mit mir begann ein Arzt zu weinen: »Wir bringen diese Menschen um. Schon weil das Gehirn ohne Kontakte und Berührungen schnell abbaut.« Das sind Corona-Tote, die nicht am Virus gestorben sind. Niemand zählt sie.
Nein, es geht hier und jetzt in der »Corona-Krise« nicht um die Alten. Oder haben Sie schon etwas von neuen Plänen gehört, die Versorgung und Pflege der Alten menschenwürdig zu verändern? Und es geht nicht um Solidarität. Es geht immer nur um das Ich in einer Gesellschaft, in der der eigene Körper und die eigene Gesundheit einen immer größeren Stellenwert bekommen haben. ICH will gesund sein, ICH will überleben. Und die Notstandsgesetze sind zu meinem Schutz oder zum Schutz unserer Nation.
Ich befürchte, dass die Infektions-Notstandsgesetze im Namen des Gesundheitsschutzes die Bedingungen überdauern, die sie hervorriefen. Die Zentralisierung von Entscheidungsbefugnissen weckt Bedürfnisse, sie auch dann beizubehalten, wenn die Krise vorbei ist. Oder gleich die nächste Krise auszurufen. Autokratisch regierten Staaten kommt die Abschaffung der Normalität ohnehin entgegen, Überwachung und Kontrolle gehören zum politischen Repertoire. Doch im Windschatten von Corona machen auch wir hier in Westeuropa riesige Schritte in die gleiche Richtung. Im Namen der Gesundheit. Aber »Gesundheitsschutz und Freiheitsrechte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, Menschenleben nicht gegen Menschenrechte«, wie es einer der Ossietzky-Herausgeber, Rolf Gössner, erst kürzlich während einer Online-Tagung der Rosa-Luxemburg-Stiftung formuliert hat (nachzulesen in: D. F. Bertz (Hg.): Die Welt nach Corona, Bertz + Fischer, Berlin 2021, 732 Seiten, 24 €).
Was hier in Deutschland noch stört, ist der lästige Föderalismus. Doch dafür hatte gerade eben der frühere Bundesinnenminister Thomas de Maizière eine tolle Idee. Er schlägt eine Änderung des Grundgesetzes vor, um für künftige Krisen in Deutschland die Möglichkeit eines befristeten Ausnahmezustands einzuführen. Die gegenwärtigen Entscheidungsverfahren – zum Beispiel über die Ministerpräsidentenkonferenz – verlangten in Krisensituationen zu viel Zeit, sagte der CDU-Politiker der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. »In der Krise aber braucht man Tempo, Verbindlichkeit, klare Verantwortlichkeiten.« Und nach der Corona-Pandemie, so de Maizière, werde auch die nächste Krise kommen. Deshalb sei »die Regelung eines Ausnahmezustandes für Deutschland« unerlässlich.
Wer hier noch still bleibt, wer sich hier noch hinter seiner Maske versteckt, wer hier nicht endlich für die Würde und Gleichheit von Menschenleben eintritt, wer hier nicht laut wird, der wird mitverantwortlich sein für eine digitale Gesundheitsdiktatur, in der sich der Wert eines Menschen endgültig nach Wohlverhalten und Nützlichkeit bemisst.