Es wird bei dir keine Armen geben, denn reichlich wird der Herr dich segnen in dem Land, das er dir geben wird. (5. Mose 15,4)
Ein Satz, der wie gemeißelt vor uns steht. Wir finden in dieser Verheißung kein Vielleicht, kein Fragezeichen, keine Bedingung. Nein, hier gibt Gott seinem Volk vor dreitausend Jahren das unumstößliche Versprechen: Bei dir, Israel, wird es keine Armen gegen. Staunend hören wir diese Prophezeiung, die von der Gegenwart noch so weit entfernt ist. Schlimmer: Die längst von einer anderen Prophezeiung ersetzt scheint. »Es wird bei dir immer mehr Arme geben, denn reichlich wird das kapitalistische System die Reichen segnen.«
Doch wie kam es in Israel zu dieser unglaublichen Gewissheit von einer künftigen sozialen Gerechtigkeit, wie kam es zu dieser Zuversicht? Um das zu verstehen, muss man sich die Geschichte des Volkes Israel ansehen. Die Israeliten waren ein Nomadenvolk und Nomaden kennen keinen Privatbesitz. Ihre Landschaft ist offen und jene Orte, die zum Überleben der Sippen und des Viehs unerlässlich sind, die Wasserstellen nämlich, müssen für alle zugänglich sein. Wer hier Privatbesitz beansprucht, zerstört das Leben der Gemeinschaft und vernichtet ganze Familienverbände. Weshalb wir in der Bibel immer wieder den Streit der Hirten darüber finden, wer seine Herde zuerst tränken darf. Denn manchmal war die Wasserstelle schon erschöpft, bevor die letzte Herde trinken konnte. Dann stand alles auf dem Spiel: Das Leben des Viehs und das Leben der Sippe. Jakob erwarb sich die Liebe seiner Rahel, weil er bei ihrer ersten Begegnung dafür sorgt, dass Rahels Herde zuerst trinken durfte.
Schrittweise wurden die nomadisierenden Stämme der Israeliten sesshaft. Doch sie konnten sich nicht einfach alle ein Stück Land nehmen. Vor allem deshalb, weil schon ein anderes Volk in dem Land lebte, die Kanaanäer nämlich. Die freilich wohnten in Städten und gaben den Israeliten Platz für den Ackerbau auf den umliegenden Feldern, die man sich aber nicht zu fruchtbar vorstellen darf, sondern die eher Halbwüsten glichen. Das geschenkte Land wurde gleichmäßig verteilt, jede Sippe bekam ihren Anteil, welcher das war, bestimmte das Los. Und Losentscheid hieß immer Gottesurteil. Die Faustregel lautete: ein Sippenältester, ein Haus, ein Anteil an Boden. Der Landbesitz durfte nur in einer extremen Notlage verkauft werden.
Grund und Boden darf nicht für immer verkauft werden, denn das Land ist mein und ihr seid Fremdlinge und Beisassen bei mir. (3. Mose 25,23)
In jedem siebten Jahr musste das Land ruhen. Diese Regel beugte einerseits einer Übersäuerung des Bodens vor, andererseits erinnerte sie daran, wem das Land wirklich gehörte: Gott nämlich.
Sechs Jahre kannst Du in deinem Land säen und die Ernte einbringen, im siebten sollst du es brach liegen lassen und nicht bestellen. Die Armen in deinem Volk sollen davon essen, den Rest mögen die Tiere des Feldes fressen. Das Gleiche sollst du mit deinem Weinberg und deinen Ölbäumen tun. (2. Mose 23, 10-12)
Das war ein völlig anderes Verständnis von Besitz, als es das Volk Israel in seinem Umfeld vorfand. In Ägypten gehörte das Land dem Pharao, er konnte damit schalten und walten, wie er wollte. Israel aber kannte nur einen wahren König, seinen Gott Jahwe.
Ein alttestamentarisches Gesetz, ein Gebot der Tora, an das sich die Israeliten zu jener Zeit gebunden fühlten, schreibt – einmalig in der Menschheitsgeschichte – alle fünfzig Jahre ein sogenanntes Erlassjahr, Halljahr oder Jubeljahr vor: In diesem Jahr wurden sämtliche Schulden erlassen und der verkaufte Boden, also die in der Not veräußerte Existenzgrundlage, wurde der Sippe zurückgegeben. Die Not oder die Misswirtschaft der Väter sollten nicht von den Nachkommen ausgebadet werden müssen. Nach dem Halljahr waren alle wieder gleich, hatten alle wieder die gleichen Chancen. Das Halljahr wurde übrigens mit dem Blasen des Widderhorns eröffnet, dessen hebräischer Name ‹yôvel› in ‹Jubeljahr› erhalten blieb.
Für diejenigen, deren politisches Ziel eine sozial gerechte Gesellschaft ist, sollten das Alte und das Neue Testament Pflichtlektüre sein.
Es wird bei dir keine Armen geben, denn reichlich wird der Herr dich segnen in dem Land, das er dir geben wird. (5. Mose 15,4)