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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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»Chowanschtschina« von Mussorgsky

Die Insze­nie­rung in der Staats­oper Unter den Lin­den bezeugt viel Mut. Wegen ihres Bekennt­nis­ses zur rus­si­schen Kunst, von der sich unser Kul­tur­le­ben inzwi­schen fast ganz abge­wen­det hat. Meh­re­re Jah­re stell­te sich Opern­re­gis­seur Claus Guth mit Team der schwie­ri­gen Auf­ga­be, rus­si­sche Wesens­zü­ge, die rus­si­sche See­le, das Volks­le­ben in Extre­men, Wider­sprü­chen und Abgrün­den im Musi­ka­li­schen Volks­dra­ma auf der Büh­ne erleb­bar zu machen. Ori­gi­nal­spra­che der Sän­ger und das Diri­gat von Simo­ne Young voll­enden den Kunst­ge­nuss. Zärt­li­ches Vor­spiel zum Son­nen­auf­gang beim Kreml, neben­her gleich eine Denun­zia­ti­on, Ver­rat, Dro­hung, Schlä­ge­rei­en, ein Lie­bes­paar. Star­ke Cha­rak­te­re fin­den Aus­druck im orche­strier­ten Handlungsablauf.

Iwan Cho­wans­kij, der Volks­held, zeigt sich von ver­schie­de­nen Sei­ten. Als »Wei­ßer Schwan« betet ihn das Volk im gro­ßen Chor an wie einen Erlö­ser. Sei­ne Abgrün­de öff­nen sich pri­va­tim, als er, vom kunst­vol­len Tanz sei­ner per­si­schen Skla­ven zur Eksta­se hoch­ge­peitscht, lang­sam einen Skla­ven­tän­zer nach dem ande­ren mit dem ele­gan­ten Kurz­mes­ser ersticht, orche­stral ele­gisch und zuneh­mend scharf stak­ka­to­ar­tig beglei­tet. Die­se Bru­ta­li­tät bezieht ihre Sug­ge­sti­vi­tät auch aus dem Gegen­satz zum mini­ma­li­sti­schen und abbre­via­tur­haf­ten Büh­nen­bild. Erschau­dern im Publi­kum. Hin­ge­gen fin­det die mas­sen­haf­te Selbst­ver­bren­nung exkom­mu­ni­zier­ter Alt­gläu­bi­ger, mit der die Oper abschließt, auf der Büh­ne nicht statt. Die­ser Geschichts­wahn­sinn bleibt hier ver­bor­gen. Er schrumpft zusam­men zur gemein­sa­men Ver­bren­nung von Mar­fa mit ihrem untreu­en Gelieb­ten Andrej, den sie nur im Tod für immer bekom­men kann. Alle haben einen Auf­tritt, aber es gibt nur kur­ze Ein­blicke. Jeder hat ein Schick­sal, das fast immer im Tod endet.

Die Bäs­se der Alt­gläu­bi­gen und Kir­chen­re­for­mer Dos­si­fej und Pastor ver­le­ben­di­gen den Reli­gi­ons­krieg Ende 17. Jahr­hun­dert. Lieb­ha­ber – Tenor Fürst Andrej Cho­wans­kij hält sich sei­ne Gelieb­te wegen neu­en Lie­bes­feu­ers mit dem Mes­ser vom Hals, der hin­ter­häl­ti­ge Höf­ling Golit­zyn im Lou­is-quin­ze Habit, bei­des Tenö­re, brin­gen rus­si­sche Sehn­suchtstie­fen zum Schwin­gen. Lei­den­schaf­ten lie­ben­der Frau­en-Sopra­ne, der luthe­risch Refor­mier­ten Emma und der alt­gläu­bi­gen Wahr­sa­ge­rin Mar­fa. Auf der Büh­ne ent­fal­tet sich eine sozi­al defi­nier­te Per­so­na­ge. Details fügen sich schlag­licht­ar­tig zum Gesell­schafts­mo­sa­ik, ohne fort­lau­fen­de Hand­lungs­strän­ge. Dar­um geht es Mode­ste P. Mussorgsky.

Doch der Kom­po­nist war selbst muti­ger Refor­mer rus­si­scher Musik­tra­di­ti­on. Er leb­te mit Gleich­ge­sinn­ten in Kom­mu­nen. Tra­di­ti­on ver­flicht er mit Volks­lie­dern, Gedich­ten, Tän­zen und Chö­ren. Dem Chor gibt er sei­ne anti­ke Auf­ga­be zurück, Wich­ti­ges aus­zu­ru­fen, Unver­än­der­ba­res zu kom­men­tie­ren, aber alles durch­drun­gen von rus­si­scher Men­ta­li­tät. Mus­sorgs­ky woll­te gegen­wär­ti­ge Geschich­ten gestal­ten: Ent­wur­zel­te Bau­ern durch­zie­hen als freie Besitz­lo­se mil­lio­nen­fach das Land. Eben­so ver­elen­den Groß­grund­be­sit­zer, die ohne Arbei­ter unwirt­schaft­lich wer­den. Doch brach­ten direk­te Aus­sa­gen über Mord und Tot­schlag man­chem Intel­lek­tu­el­len Ver­ban­nung ein. Der jun­ge Musi­ker ver­dingt sich des­we­gen im Staats­dienst mit gele­gent­li­chen Sti­pen­di­en. Musi­ka­lisch gese­hen ging es ihm dar­um, sei­ne Ideen an das Wort, die Aus­sa­ge zu bin­den: Ver­bre­chen, Kata­stro­phen, Lei­den und kol­lek­ti­ve Selbstmordsehnsüchte.

Die Lösung für ein Libret­to zum musi­ka­li­schen Geschichts­mo­sa­ik fand Wla­di­mir W. Stas­sow her­aus. Er gilt als einer der ganz gro­ßen Sprach­schöp­fer und -ken­ner der rus­si­schen Spra­che. Stas­sow und Mus­sorgs­ky sind uns in Mei­ster­por­träts von Ili­ja Repin erhal­ten. Stas­sow ver­leg­te aktu­el­le Unru­hen in das Jahr 1680, als Peter der Gro­ße den Zaren-Thron bestieg. Das Wort »Cho­wanscht­schi­na« hat der Zare­witsch her­aus­ge­schleu­dert, als er 1680 über einem gehei­men Stre­lit­zen-Auf­stand erschrak. Das Wort hat sich in Rus­sisch als Syn­onym für Schand­ta­ten durch­ge­setzt. Fürst Iwan Cho­wans­kij, Anfüh­rer der Eli­te-Trup­pe, ist bei Hof vom Boja­ren Schak­lo­wi­tij als Auf­rüh­rer der Revol­te ange­zeigt wor­den. In wil­den Kämp­fen um den Zaren­thron, wäh­rend der Kir­chen­spal­tung der Rus­sisch-Ortho­do­xen Kir­che, löste der vom Groß­für­sten Iwan Cho­wans­kij in Mos­kau aus­ge­lö­ste Umbruch das Gemet­zel der Petrow­zen Anhän­ger Peter I. gegen Stre­lit­zen (Zarew­na Sofia) aus, es kam zur mas­sen­haf­ten Men­schen­schlach­te­rei und Selbstverbrennung.

Der früh alko­hol­er­krank­te Musi­ker hat sein Volks­dra­ma als Frag­ment hin­ter­las­sen. Es fehl­te der Schluss. N. Rims­ky-Kor­sa­kow voll­ende­te das Werk 1886 für eine Urauf­füh­rung in St. Peters­burg. Außer­halb Russ­lands fand die Erst­auf­füh­rung in Paris 1913 statt, in der Bear­bei­tung von Mau­rice Ravel und Igor Stra­win­sky. Heu­te wird meist die von D. Schost­a­ko­witsch bear­bei­te­te Fas­sung auf­ge­führt, deren Urauf­füh­rung 1960 am Lenin­gra­der Kirow-Thea­ter lief. In der Staats­oper Unter den Lin­den war am 2. Juni 2024 Pre­mie­re. Es sind kei­ne neu­en Ter­mi­ne vorgesehen.

Nicht erwar­ten darf man, was Kri­ti­ker aber anmah­nen, durch­ge­hen­de Hand­lungs­strän­ge mit Lie­bes­ge­schich­ten oder histo­ri­schen Pro­zes­sen. Ja, bemän­gelt wird der feh­len­de rote Faden sogar am Regis­seur, der es nicht gerich­tet habe, einen Durch­blick her­zu­stel­len. Claus Guth hat sich Gedan­ken dar­über gemacht, wie sich bru­ta­le Macht­kämp­fe nahe­zu unver­än­dert über die Jahr­hun­der­te in die Gegen­wart zie­hen. Dafür stellt er eine Abbre­via­tur des Arbeits­zim­mers von Wla­di­mir W. Putin im Kreml an den Anfang und das Ende der Oper. Soll das hei­ßen, dort gibt es das alles noch?