Die Inszenierung in der Staatsoper Unter den Linden bezeugt viel Mut. Wegen ihres Bekenntnisses zur russischen Kunst, von der sich unser Kulturleben inzwischen fast ganz abgewendet hat. Mehrere Jahre stellte sich Opernregisseur Claus Guth mit Team der schwierigen Aufgabe, russische Wesenszüge, die russische Seele, das Volksleben in Extremen, Widersprüchen und Abgründen im Musikalischen Volksdrama auf der Bühne erlebbar zu machen. Originalsprache der Sänger und das Dirigat von Simone Young vollenden den Kunstgenuss. Zärtliches Vorspiel zum Sonnenaufgang beim Kreml, nebenher gleich eine Denunziation, Verrat, Drohung, Schlägereien, ein Liebespaar. Starke Charaktere finden Ausdruck im orchestrierten Handlungsablauf.
Iwan Chowanskij, der Volksheld, zeigt sich von verschiedenen Seiten. Als »Weißer Schwan« betet ihn das Volk im großen Chor an wie einen Erlöser. Seine Abgründe öffnen sich privatim, als er, vom kunstvollen Tanz seiner persischen Sklaven zur Ekstase hochgepeitscht, langsam einen Sklaventänzer nach dem anderen mit dem eleganten Kurzmesser ersticht, orchestral elegisch und zunehmend scharf stakkatoartig begleitet. Diese Brutalität bezieht ihre Suggestivität auch aus dem Gegensatz zum minimalistischen und abbreviaturhaften Bühnenbild. Erschaudern im Publikum. Hingegen findet die massenhafte Selbstverbrennung exkommunizierter Altgläubiger, mit der die Oper abschließt, auf der Bühne nicht statt. Dieser Geschichtswahnsinn bleibt hier verborgen. Er schrumpft zusammen zur gemeinsamen Verbrennung von Marfa mit ihrem untreuen Geliebten Andrej, den sie nur im Tod für immer bekommen kann. Alle haben einen Auftritt, aber es gibt nur kurze Einblicke. Jeder hat ein Schicksal, das fast immer im Tod endet.
Die Bässe der Altgläubigen und Kirchenreformer Dossifej und Pastor verlebendigen den Religionskrieg Ende 17. Jahrhundert. Liebhaber – Tenor Fürst Andrej Chowanskij hält sich seine Geliebte wegen neuen Liebesfeuers mit dem Messer vom Hals, der hinterhältige Höfling Golitzyn im Louis-quinze Habit, beides Tenöre, bringen russische Sehnsuchtstiefen zum Schwingen. Leidenschaften liebender Frauen-Soprane, der lutherisch Reformierten Emma und der altgläubigen Wahrsagerin Marfa. Auf der Bühne entfaltet sich eine sozial definierte Personage. Details fügen sich schlaglichtartig zum Gesellschaftsmosaik, ohne fortlaufende Handlungsstränge. Darum geht es Modeste P. Mussorgsky.
Doch der Komponist war selbst mutiger Reformer russischer Musiktradition. Er lebte mit Gleichgesinnten in Kommunen. Tradition verflicht er mit Volksliedern, Gedichten, Tänzen und Chören. Dem Chor gibt er seine antike Aufgabe zurück, Wichtiges auszurufen, Unveränderbares zu kommentieren, aber alles durchdrungen von russischer Mentalität. Mussorgsky wollte gegenwärtige Geschichten gestalten: Entwurzelte Bauern durchziehen als freie Besitzlose millionenfach das Land. Ebenso verelenden Großgrundbesitzer, die ohne Arbeiter unwirtschaftlich werden. Doch brachten direkte Aussagen über Mord und Totschlag manchem Intellektuellen Verbannung ein. Der junge Musiker verdingt sich deswegen im Staatsdienst mit gelegentlichen Stipendien. Musikalisch gesehen ging es ihm darum, seine Ideen an das Wort, die Aussage zu binden: Verbrechen, Katastrophen, Leiden und kollektive Selbstmordsehnsüchte.
Die Lösung für ein Libretto zum musikalischen Geschichtsmosaik fand Wladimir W. Stassow heraus. Er gilt als einer der ganz großen Sprachschöpfer und -kenner der russischen Sprache. Stassow und Mussorgsky sind uns in Meisterporträts von Ilija Repin erhalten. Stassow verlegte aktuelle Unruhen in das Jahr 1680, als Peter der Große den Zaren-Thron bestieg. Das Wort »Chowanschtschina« hat der Zarewitsch herausgeschleudert, als er 1680 über einem geheimen Strelitzen-Aufstand erschrak. Das Wort hat sich in Russisch als Synonym für Schandtaten durchgesetzt. Fürst Iwan Chowanskij, Anführer der Elite-Truppe, ist bei Hof vom Bojaren Schaklowitij als Aufrührer der Revolte angezeigt worden. In wilden Kämpfen um den Zarenthron, während der Kirchenspaltung der Russisch-Orthodoxen Kirche, löste der vom Großfürsten Iwan Chowanskij in Moskau ausgelöste Umbruch das Gemetzel der Petrowzen Anhänger Peter I. gegen Strelitzen (Zarewna Sofia) aus, es kam zur massenhaften Menschenschlachterei und Selbstverbrennung.
Der früh alkoholerkrankte Musiker hat sein Volksdrama als Fragment hinterlassen. Es fehlte der Schluss. N. Rimsky-Korsakow vollendete das Werk 1886 für eine Uraufführung in St. Petersburg. Außerhalb Russlands fand die Erstaufführung in Paris 1913 statt, in der Bearbeitung von Maurice Ravel und Igor Strawinsky. Heute wird meist die von D. Schostakowitsch bearbeitete Fassung aufgeführt, deren Uraufführung 1960 am Leningrader Kirow-Theater lief. In der Staatsoper Unter den Linden war am 2. Juni 2024 Premiere. Es sind keine neuen Termine vorgesehen.
Nicht erwarten darf man, was Kritiker aber anmahnen, durchgehende Handlungsstränge mit Liebesgeschichten oder historischen Prozessen. Ja, bemängelt wird der fehlende rote Faden sogar am Regisseur, der es nicht gerichtet habe, einen Durchblick herzustellen. Claus Guth hat sich Gedanken darüber gemacht, wie sich brutale Machtkämpfe nahezu unverändert über die Jahrhunderte in die Gegenwart ziehen. Dafür stellt er eine Abbreviatur des Arbeitszimmers von Wladimir W. Putin im Kreml an den Anfang und das Ende der Oper. Soll das heißen, dort gibt es das alles noch?