Als ich vor genau sechs Jahren in Ossietzky über das »Recht auf Frieden« schrieb, war die Welt auch nicht in Ordnung: »Schauen wir nur auf das Schlachtfeld des Nahen und Mittleren Ostens, wo der Krieg seit über 30 Jahren von Syrien über Palästina bis Afghanistan kein Land verschont hat, oder nach Afrika, wo er sich seit geraumer Zeit südlich und nördlich der Sahara von Ost nach West in fast jedem Land eingefressen hat. Für diejenigen, die sich aus sicherer Distanz mit ihren Waffen und Militärs am Krieg beteiligen oder ihn betreiben, gerät der Frieden hingegen zur Propaganda ihrer Legitimation«, schrieb ich damals. Seitdem hat sich die Lage weiter verschärft. Aber niemand hatte damals eine Vorahnung davon, dass der Krieg nach Europa zurückkommen und zu einem offenen Krieg der USA mit Russland ausarten könnte.
Was soll man in diesen Zeiten des Krieges über den Frieden schreiben, wo jeder Aufruf zu Waffenstillstand und Verhandlungen als Verrat an der Solidarität zur Ukraine in Verruf gebracht wird, wo alle Prinzipien und Normen des Völkerrechts nicht mehr das Papier wert sind, auf dem man sie nachlesen kann. Hier taugt keine erneute Abhandlung über das Gewalt- und Interventionsverbot, die Souveränität und souveräne Gleichheit der Staaten, die friedliche Lösung von Konflikten sowie die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit durch die Institutionen der UNO. Wer über Frieden reden will, sollte sich über die Werte – Freiheit, Demokratie, Menschenrechte – Gedanken machen, die die Regierungen vor sich hertragen, um ihre ökonomischen und strategischen Interessen dahinter zu verstecken. Wer über den Frieden redet, muss über die Interessen reden.
Auch dieser doppelte Krieg Russlands gegen die Ukraine und der Nato gegen Russland wird einmal zu Ende gehen. Gleichgültig, wer sich dann zum Sieger erklären wird, die USA sind die wahren Gewinner und haben ihr Augenmerk schon auf den nächsten Feind gerichtet: die VR China. Es fällt schwer, sich jetzt einen Krieg zwischen diesen derzeit mächtigsten Staaten der Erde vorzustellen. Aber das war auch vor dem 24. Februar 2022 schon so. Zuerst ist es die offene Konkurrenz um Einflusszonen, Zugang zu Märkten und Ressourcen, dann kommen das Embargo, Boykott und Sanktionen, die Einwerbung und Sammlung von Verbündeten und die Auswahl eines Nebenkriegsschauplatzes, bis es dann zur direkten Konfrontation kommt. Möge das Szenario falsch sein, aber schon sind die Vereinigten Staaten auf der Stufe dessen, was mit Embargo und Boykott als »Zuspitzung des Handelskonfliktes« umschrieben wird. Sie haben unlängst den Verkauf und Import von Telekommunikations- und Überwachungstechnik aus chinesischer Produktion »aus Sicherheitsgründen« verboten. Im Oktober hatte das Weiße Haus Exportkontrollen für die Lieferung von Mikrochips und hochspezialisierten Werkzeugmaschinen für die Chipfertigung erlassen. Ohne Lizenz dürfen die Produkte nicht mehr nach China verkauft werden, zudem dürfen Amerikaner und Greencard-Inhaber nicht mehr an der Entwicklung und Fertigung von Mikrochips für China mitwirken. Gleichzeitig setzte Biden die Sanktionspolitik seines Vorgängers Donald Trump fort, dessen Importzölle fast alle noch in Kraft sind und verschärft sie sogar durch zusätzliche Export- und Importkontrollen.
In der Nationalen Sicherheitsstrategie der USA, die die Biden-Administration am 12. Oktober dieses Jahres veröffentlicht hat, wird die VR China als der »einzige Wettbewerber« bezeichnet, der die Absicht habe, »die internationale Ordnung neu zu gestalten«. Da sie sowohl die ökonomischen und politischen wie auch militärischen Mittel habe, diese Absicht in die Tat umzusetzen, gelte es, die Volksrepublik »niederzukonkurrieren«. Am 27. Oktober legte der US-Verteidigungsminister Lloyd Austin mit der Nationalen Verteidigungsstrategie nach und bezeichnete die VR China als die zentrale »das Tempo vorgebende Herausforderung«, auf die die Vereinigten Staaten reagieren müssten. Aufgabe sei es, jede »Aggression abzuschrecken, während wir darauf vorbereitet sind, im Notfall uns in einem Konflikt durchzusetzen; vor allem gilt dies für die Herausforderung durch China in der Indo-Pazifik Region und die russische Herausforderung in Europa.«
Schon kurz zuvor hatte Präsident Biden die nächsten zehn Jahre zum »entscheidenden Jahrzehnt« ausgerufen, in dem der Machtkampf mit allen Mitteln zwischen den USA und der VR China ausgetragen werden müsse. Das heißt nichts anderes, als dass der Konkurrenzkampf über den Wirtschaftskrieg bis zu einem Konflikt mit militärischen Mitteln ausgeweitet wird. Folgerichtig spricht die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock von einer »Systemrivalität«, »in der wir keine strategische Lücke lassen« dürfen. Die letzte »systemische Rivalität« endete mit dem Untergang des letzten systemischen Rivalen Sowjetunion – das dürfte der neuen Kriegskoalition als Vorbild und als erfolgversprechender Weg vorschweben.
Dazu sammeln die USA derzeit Bündnispartner, von Japan über Australien, Süd-Korea, Vietnam, bis zu den Philippinen und Indonesien. In der Nato sind ihnen Kanada, Großbritannien und die Bundesrepublik sicher. Sollte es in Berlin in der Koalition zwischen Kanzleramt und Wirtschaftsministerium bei der Formulierung der neuen Chinastrategie Schwierigkeiten geben, so hat Washington vorgesorgt und die Bundesregierung bereits massiv unter Druck gesetzt, die deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen zu reduzieren. Das Wirtschaftsministerium von Robert Habeck ist dem Wink schon in »dienender Führung« gefolgt und hat härter werdende Restriktionen für China-lastige Investitionen in beiden Richtungen angekündigt.
Die Bundesregierung sollte sich keine Illusionen machen über die Entschlossenheit der US-Administration, auch auf Kosten der deutschen Wirtschaft ihren Wirtschaftskrieg gegen China hochzufahren. Denn so, wie es ihr Ziel im Kalten Krieg immer gewesen ist, die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion zu torpedieren, so wird ihr das auch mit den Beziehungen zu China gelingen. Die Sprengung der Gas-Pipelines Nord Stream 1 und 2, die ohne Zweifel von den USA zu verantworten ist, zeigt die Entschlossenheit und Brutalität, mit der sie ihre Bündnis-Vasallen zur Unterwerfung zwingen. Es ist offensichtlich keine Verschwörungstheorie, wenn der US-Historiker George Friedmann die schon oftmals zitierten Sätze sagt: »Das primäre Interesse der USA, wofür wir seit einem Jahrhundert die Kriege führen – Erster und Zweiter Weltkrieg und Kalter Krieg – waren die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland. Weil vereint sind sie die einzige Macht, die uns bedrohen kann. Und unser Interesse war es immer sicherzustellen, dass dieser Fall nicht eintritt.«
Den nächsten Schritt der Eskalation sind die USA bereits gegangen. Ihr Hebel: Taiwan. Von dem Besuch der ehemaligen Sprecherin der US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, mehreren Besuchen von Kongressabgeordneten, der Fahrt von US-Kriegsschiffen durch die Meeresstraße zwischen Festland und Insel bis zu der jüngsten Genehmigung des Verkaufs von Waffen, vor allem Raketen, in Höhe von 1,1 Mrd. US-Dollar reicht das derzeitige Arsenal der Provokationen. Dem folgte die Bundesrepublik mit der Entsendung einer Fregatte und mehrerer Bundestagsdelegationen. Man fragt sich, wozu das Theater, wenn man gleichzeitig betont, die Ein-China-Politik der chinesischen Führung zu akzeptieren, die diese Art politischer Demonstrationen als Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten ablehnt.
Diese Ein-China-Politik steht auf soliden völkerrechtlichen Füßen. Im Oktober 1945 wurde China (Taiwan) zwar Gründungsmitglied der UNO, 1971 übertrug die Generalversammlung aber mit der Resolution 2758 die Mitgliedschaft der Republik China (Taiwan) in der UNO auf die Volksrepublik als alleinige Vertreterin Chinas. Sie wurde damit rechtmäßige Nachfolgerin der Republik und erlangte rechtlich die Souveränität über Taiwan. Derzeit haben nur noch 14 Staaten sowie der Heilige Stuhl diplomatische Vertretungen in Taipeh. Der Nationale Volkskongress verabschiedete am 14. März 2005 das sog. Anti-Abspaltungsgesetz, das mit militärischen Konsequenzen drohte, sollte sich Taiwan formal für unabhängig erklären. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die spanische Regierung in Madrid sonderlich erfreut wäre, wenn Frau Pelosi nach Barcelona käme und der US-Kongress im Nachgang die Lieferung von Flug- und Schiffsabwehrraketen genehmigen würde, um einen möglichen Angriff Madrids auf Katalonien abzuschrecken. Was ist das Bekenntnis zur »Ein China-Politik« wert, wenn in der täglichen Politik mit Sanktionen, politischen Symbolen und Waffengerassel die Separationsträume angestachelt werden und die Souveränität Pekings in Zweifel gezogen wird?
Es ist eines der grundlegenden Prinzipien der Vereinten Nationen, die in der UNO-Charta in Art. 2. Z. 7 verankert sind, nicht in »Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören«, einzugreifen. Der Westen – und das sind die alten Kolonialmächte – muss endlich einsehen, dass die Zeit vorbei ist, in der er die Welt nach seinen Wert- und Ordnungsvorstellungen, sprich Interessen, einrichten konnte. Er hatte die überlegenen militärischen Mittel, um seine Interessen durchzusetzen, und er nutzte sie gnadenlos gegen die schwächeren Völker. Vor gut 120 Jahren konnte das Kaiserreich noch seine Korvetten nach Tsingtau entsenden, um seine kolonialen Interessen gegen den Boxer-Aufstand mit Gewalt zu verteidigen – Deutschlands erster großer Kolonialkrieg. Heute werden die Menschenrechte vorgeschoben, um sich ein Einmischungsrecht zu nehmen, das unter dem Deckmantel der »humanitären Intervention« 1999 zum ersten Krieg in Europa nach 1945 mit über 200 000 Toten und mehreren Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen führte.
Jeder Krieg hat seine Vorgeschichte, über die nicht gern gesprochen wird. Doch eines haben sie alle gemeinsam, ob 1990 vor dem Krieg der Nato gegen Jugoslawien, 2003 vor dem Angriff der USA auf den Irak oder 2022 vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine, alle Konzepte, Institutionen oder Organisationen, die in der Welt zur Wahrung des Friedens entwickelt wurden, haben die Interessen nicht zähmen und die Kriege nicht verhindern können. Man hat das Scheitern sehen können und hat dennoch nicht reagiert. Die Aggressivität der gegenwärtigen Anti-China-Politik treibt uns wieder in eine Vorgeschichte, in der uns die Institutionen der UNO oder der OSZE kaum helfen und den Frieden schon gar nicht garantieren können. Allein der Verzicht auf Provokation und Einmischung in die Probleme der chinesischen Gesellschaft sind die sichersten Voraussetzungen, dass diese Vorgeschichte nicht in den Krieg führt.