Das Datum des 11. September 1973 steht für einen irreversiblen Bruch in der Geschichte der internationalen Beziehungen, der mit seinen Folgen einen unauslöschlichen Platz in unserem Gedächtnis beansprucht. Der Staatsstreich der Militärs in Chile mit Unterstützung der US-Geheimdienste gegen die im September 1970 demokratisch gewählte sozialistische Regierung der Unidad Popular von Salvador Allende, mit den grausamen Konsequenzen der fast 17-jährigen faschistischen Diktatur von Augusto Pinochet, war von den USA lange vorbereitet und – wie inzwischen bekannt – mit brasilianischer und auch mit bundesdeutscher Waffenhilfe (über die verbrecherische Colonia Dignidad) massiv unterstützt worden. Die Brutalität der Ereignisse in Santiago, der Bombenangriff auf die Moneda und der Tod Allendes, die Verfolgung und Ermordung Zehntausender Bürger hatten eine schockierende Wirkung, nicht nur auf die lateinamerikanischen Nachbarstaaten im »Vorhof« der USA, sondern auch auf bis dahin gereifte Strategien der demokratischen Linken in Europa. Die USA wollten weitere Unruhen in ihrer nächsten Nähe ausschließen und beförderten, ihrem »Plan Condor« folgend, nach Chile noch weitere brutale Staatsstreiche in Argentinien, Uruguay und Bolivien. Noch waren sie ja auch, Anfang der 1970er Jahre, mit dem kriegerischen Versuch beschäftigt, den Kommunisten in Vietnam den Garaus zu machen – mit über zwei Mio. Toten.
Der Putsch in Chile machte auch die Ansätze und Hoffnungen all jener blockfreien Länder zunichte, die in Algier kurz zuvor die Prämissen für eine neue antikoloniale Entwicklung vereinbart hatten, denn nicht nur der Andenstaat wurde umgehend überrollt von den sogenannten »Chicago Boys«. Die machten Chile zu ihrem ersten Experimentierfeld für den Neoliberalismus: durch radikale Zurückdrängung des Staates aus der Wirtschaft, durch massive Deregulierung und Privatisierung. Institutionen wie der Internationale Währungsfonds (IMF) oder die Weltbank griffen bald zunehmend im Mittleren Orient, wie in Lateinamerika und in Europa ein und verankerten diese neue Phase des Kapitalismus, die alle gesellschaftlichen Bedürfnisse negiert oder dem Ziel der Profitmaximierung unterordnet. Seit den 70er und noch verstärkt seit den 90er-Jahren hat sich dieser Neoliberalismus weltweit ausgebreitet. Zwar stößt er inzwischen zunehmend an ökologische und ökonomische Grenzen in einer Welt mit extrem verschärften sozialen Unterschieden und Konfrontationen zwischen armen und reichen Staaten. Aber die daraus entspringenden Widersprüche provozieren bisher nur weitere Aufrüstung für neue Kriege.
Chile und auch Italien stehen heute noch immer vor großen sozio-ökonomischen Problemen, die der neoliberale Kahlschlag geschaffen oder verstärkt hat. Beide Länder sind zwar aufgrund ihrer geografischen, historischen und strukturellen Unterschiede schwer miteinander vergleichbar, haben aber doch Gemeinsamkeiten. Beide unternahmen sie Versuche, einen sogenannten »dritten Weg« zum Sozialismus zu beschreiten. In Chile war es einem Linksbündnis, der Unidad Popular, ja sogar gelungen, über Wahlen auf demokratischem Wege an die Regierung zu kommen und drei Jahre lang einschneidende Maßnahmen zum Aufbau einer sozialistischen Demokratie durchzusetzen, mittels Verbesserung der Lebensbedingungen durch Landreformen und Verstaatlichung wichtiger Industrien und Bodenschätze.
Doch eben das durfte nicht sein. Nur drei Tage nach der Etablierung der Allende-Regierung 1970 in Santiago hatte US-Präsident Nixon am 6. November vor dem Nationalen Sicherheitsrat seiner »größten Befürchtung« Ausdruck gegeben, Allende könne seine Regierung stabilisieren und »der Welt den Eindruck vermitteln, sie sei erfolgreich. Wir können nicht zulassen, dass Lateinamerika glaubt, sich auf diesen Weg begeben zu können.« Die USA wollten also – nach Kuba – kein zweites erfolgreiches sozialistisches Experiment in ihrer Nähe dulden und finanzierten mit vielen Dollarmillionen von Beginn an massiv eine aufgeputschte rechte Opposition aus Bürgertum und Großgrundbesitzern, die das ganze Experiment seinem Ende zutrieb.
Dieses Ende beeinflusste auch die zwiespältige Situation der Kommunisten in Italien, die aufgrund ihres wachsenden Einflusses von ihren Antagonisten zunehmend bekämpft wurden. Der Staatsstreich in Chile verursachte ein großes Trauma in der KPI, wie auch in den links von ihr stehenden Formationen. Die Einsicht, dass es offenbar nicht ausreicht, für strukturelle Veränderungen nur ein Linksbündnis von 36 Prozent der Wähler – wie in Chile – zu haben, ohne weitere Teile der Mittelschichten einzubeziehen, die sich andernfalls von rechts manipulieren lassen, brachte die KPI dazu, wenige Monate nach dem Putsch ihre Bereitschaft zu einem »historischen Kompromiss« mit den Sozialisten und den linkskatholischen Kräften der Christdemokraten zu verkünden.
Die KPI, die nach ihrer führenden Rolle in der Resistenza bei der Befreiung Italiens über großes politisches Prestige verfügte und seitdem die zweitstärkste Partei im Lande war, verfolgte schon lange einen »dritten Weg«. Ihr Parteivorsitzender Palmiro Togliatti hatte gleich 1944, nach seiner Rückkehr aus dem Moskauer Exil, begonnen, die KPI als Volkspartei zu etablieren. Alle revolutionären Ambitionen wurden vorerst zurückgestellt, denn zunächst wurde ein umfassender Demokratisierungsprozess als notwendig erachtet, der die historisch so unterschiedlich entwickelten Gesellschaften Italiens mit noch stark agrarischen Komponenten nach über zwanzig Jahren faschistischer Diktatur fortentwickeln sollte. Diese neue Ausrichtung der sogenannten »Wende von Salerno« (1944) bedeutete jedoch keine reformistische Absage an systemverändernde Perspektiven (wie bei der SPD in Bad Godesberg), sondern eben diese sollten zu den von unten erkämpften Elementen eines breit zu verankernden Demokratisierungsprozesses werden. Enrico Berlinguer, charismatischer KPI-Parteisekretär seit 1972, verfolgte diese pluralistische Perspektive auf einen spezifisch italienischen Weg zum Sozialismus konsequent weiter, in immer stärkerer Abgrenzung von der Sowjetunion – bis zu seinem frühen Tod 1984. Seine Distanz zur Sowjetunion bedeutete keine Negierung ihrer sozialistischen Errungenschaften (wie Antikommunisten damals frohlockten), aber er bestand auf der Notwendigkeit der Beschreitung eigener Wege zum Sozialismus für die einzelnen Länder, je nach ihren spezifischen historischen Voraussetzungen. Er eröffnete folglich der Partei eine neue internationale Dimension vor allem auf europäischer Ebene mit Kommunisten und Sozialisten, nahm im Kontext der Ostpolitik Kontakte zur SPD Willy Brandts auf und hoffte, vor allem Frankreich, Spanien und Portugal auf den Weg des Eurokommunismus mitnehmen zu können. Ein so ausgerichtetes Europa sollte selbstständig werden können, losgelöst von den Blöcken, wozu die damalige Entspannungsphase des KSZE-Prozesses Raum zu bieten schien. Berlinguer stieß damit auf vielerlei Widerspruch, nicht nur vonseiten der Sowjetunion. Diverse außerparlamentarische Kräfte der Linken hatten sich von seiner Linie entfernt, bis hin zu jenen, die einen direkten Kampf aufnehmen wollten. Denn bald schlossen sich weitere politische Spielräume. Der erneute Stimmenzuwachs der KPI auf fast 35 Prozent bei den Parlamentswahlen 1976 veranlasste nicht nur die USA zu einer Warnung für den Fall einer Regierungsbeteiligung, auch Kanzler Helmut Schmidt drohte mit finanziellen Konsequenzen und sah die Präsenz der Nato in Italien bedroht.
Die erfolgreichen Arbeiterkämpfe der 60er Jahre, die 1969 im »autunno caldo« gipfelten, bekamen eine erste Antwort von rechts schon am 12. Dezember 1969 mit dem schwersten Attentat der bisherigen Nachkriegsgeschichte: Die Bombe an der Piazza Fontana in Mailand hinterließ viele Tote und Verletzte. Dieses erste sogenannte Staatsmassaker (»strage di Stato«) war schon so etwas wie ein angedrohter Staatsstreich, dem weitere folgten, und eröffnete eine bis in die 80er Jahre anhaltende »strategia della tensione«, jene Phase der von in -und ausländischen rechten Kräften alimentierten »Spannung« durch diverse Staatsstreichversuche und Attentate, die seitdem wie eine schwere Hypothek das öffentliche Bewusstsein in Italien belasten. Zahlreiche Strafprozesse zur Aufdeckung der Verantwortlichen blieben bis heute stecken in einem Gewirr politischer und geheimdienstlicher Verstrickungen und verstärken entscheidend jene sprichwörtliche Ferne zwischen den Regierenden im »Palazzo« und der Bevölkerung.
Nach der Ermordung Aldo Moros (1978) durch die Brigate rosse, ihrerseits unterwandert von und verstrickt mit diversen in- und ausländischen Geheimdiensten (USA/Israel), blieb Italien weiterhin jene »blockierte Demokratie«, in der es zwar fast Jahr um Jahr Regierungswechsel gab, aber immer innerhalb des herrschenden Machtblocks, nie im Austausch mit der stärksten Partei der Opposition. Denn nach dem Putsch in Chile waren die USA auch in Europa weiterhin bestrebt, keinerlei linke Experimente zu tolerieren und die Ausschaltung der Kommunisten zu beschleunigen, denn den Eurokommunismus Berlinguers hielten sie für eine gefährliche Taktik. Einem »historischen Kompromiss« in Italien, der ja nicht nur als nationale Regierung von oben gedacht war, sondern als eine Volksbewegung von unten, musste Einhalt geboten werden. Henry Kissinger soll Aldo Moro mehrfach bei seinen Staatsbesuchen in Washington gewarnt haben, zuletzt 1976 ausdrücklich, eine weitere Annäherung an die Kommunisten »werde er teuer bezahlen müssen«.
Der Journalist Gianni Barbacetto resümierte: »In der italienischen Geschichte gibt es eine lange Phase, in der untergründige und okkulte Kräfte sich immer wieder begegnet sind und sich mit den sichtbaren Kräften der Politik, der Wirtschaft und Gesellschaft gekreuzt haben, in einem geheimen Krieg zwischen dem Westen und dem kommunistischen Block. (…) Dieser Krieg hat eine Vielzahl von Opfern produziert und das Leben unserer Republik auf immer vergiftet« (zit. nach Dodicesima disposizione, Bordeaux 2022, S. 185).
Nach der schweren Erschütterung Italiens durch die Ermordung Moros im Mai 1978 – ein indirekter Staatsstreich – versuchte Enrico Berlinguer umzusteuern. Er entzog der DC-Minderheitsregierung seine bisherige Unterstützung. Die Christdemokraten setzten ihrerseits rasch auf den Sozialistenchef Bettino Craxi, einen bewährten Antikommunisten, der 1979 einen geringfügigen Stimmenverlust der PCI zu seinen Gunsten ausnutzte und in die Regierung eintrat. 1983 wurde er dann mit weniger als 10 Prozent der Wählerstimmen mit der Führung der Regierung beauftragt, die bereits in den frühen 80er Jahren einem Berlusconi die propagandistischen Medien-Steigbügel hielt. Und nach dem Ende der Sowjetunion wurde dann in Italien das gesamte christdemokratisch zentrierte Parteiensystem durch spektakuläre Justizmaßnahmen aus den Angeln gehoben, rechtsorientierte KPI-Führer lösten die größte kommunistische Partei Europas auf, und Silvio Berlusconi holte bereits die heute an der Spitze der Regierung stehenden Faschisten (aus MSI/AN) in seine Regierungen.
Die Chile und Italien gemeinsame Erfahrung, dass ein demokratischer Weg zum Sozialismus nicht erlaubt war, wurde nochmals bestätigt durch die Erfahrung der Griechen 2015, deren linke Syriza-Regierung zu Fall gebracht wurde durch die EU. Bis heute ist auch die Abhängigkeit der drei Länder von den geopolitischen Interessen der USA ungebrochen, die eben keine politische Entwicklung nach eigenen souveränen Erfordernissen gestatten.
Die chilenischen Exilanten, mit denen die lateinamerikanische Musik dann nach Europa kam – hier seien unter vielen nur die Inti-Illimani genannt, die ab 1973 in Italien Aufnahme fanden und eine Vielzahl italienischer Musiker inspirierten – sangen »Venceremos!«. Entgegen der gerade gemachten Erfahrung, dass »el pueblo unido« schwer geschlagen worden war, musste damals – und muss noch immer – die Hoffnung aufrecht erhalten werden auf eine andere mögliche Entwicklung unserer Welt. Eine Erfahrung bleibt jedoch: Es genügt nicht, an die Regierung zu kommen, ohne die Macht zu haben.
Die Autorin kommt am 17. Oktober zu einem Vortrag über diese Thematik nach Kassel: Italien heute: Vom »historischen Kompromiss« zum historischen Rechtsruck. Ort: Germaniastraße 14, Café Buch-Oase, Kultursaal, 19.30 Uhr.