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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Casey Jones

Der viel­be­sun­ge­ne US-Bür­ger ist vor allem für sei­ne (angeb­li­che) Selbst­lo­sig­keit bekannt. Gebo­ren am 14. März 1863 in Ken­tucky, brach­te er es bei diver­sen Eisen­bahn­ge­sell­schaf­ten bis zum Loko­mo­tiv­füh­rer. Als sein Per­so­nen­zug am 30. April 1900 mit unver­schul­de­ter Ver­spä­tung und daher mit Voll­dampf von Mem­phis, Ten­nes­see, nach Can­ton, Mis­sis­sip­pi, brau­ste, droh­te im Städt­chen Vaug­han, mit­ten in der Nacht, unver­mu­tet ein Rie­sen­un­fall, weil ein Güter­zug auf dem Durch­gangs­gleis abge­stellt wor­den war. Hei­zer Sim Webb, wohl auch von sei­ner Haut­far­be her ein Schwar­zer, erkann­te es dank einer Kur­ve noch recht­zei­tig und ver­an­lass­te so sei­nen Chef, mit aller Macht das Tem­po zu dros­seln. Gleich­wohl zeich­ne­te sich ein Auf­prall ab. Des­halb habe Jones geschrien: »Spring, Sim, spring!« Das tat er denn auch, als der Abstand nur noch 100 Meter betrug. Webb kam mit glimpf­li­chen Ver­let­zun­gen davon. Jones dage­gen, der hart­näcki­ge Brem­ser, zuletzt nur noch rund 55 km/​h schnell, büß­te, erst 37, sein Leben ein – als ein­zi­ger von den Insas­sen des Per­so­nen­zugs. Des­halb galt er hin­fort als Ret­ter und Held.

Etwas zwie­lich­tig kommt mir jedoch die Rol­le von Webb vor. Nie­mand scheint sich zu fra­gen, woher das Wis­sen um jene angeb­li­che Auf­for­de­rung Jones’ »aus­zu­stei­gen« stammt. Mei­nes Erach­tens kommt nur der Koh­len­schauf­ler als Quel­le in Fra­ge. Und ich wäre nicht ver­blüfft, wenn er die Auf­for­de­rung erfun­den hät­te, um im Ver­gleich zu dem zukünf­ti­gen Hel­den nicht etwa als Hasen­fuß dazu­ste­hen. Der Chef hat­te ihm einen Befehl erteilt, und den muss­te er selbst­ver­ständ­lich befolgen.

Über die Per­sön­lich­keit des Befehls­ha­bers ist lei­der so gut wie nichts zu erfah­ren. Er war eben selbst­los und mutig – man glaubt es eigent­lich nur schwer. Täu­sche ich mich nicht, teil­ten Gra­teful Dead mei­ne Skep­sis bereits 1970 auf ihrem Album Workingman’s Dead. Sie stel­len Casey Jones echt frech als einen Jun­kie dar, einen Typen auf »high speed«, der vor wie hin­ter sich nichts als »trou­ble« hat und viel­leicht doch bes­ser tot wäre. Der Rat wird befolgt – nicht nur vom Casey des Lie­des, son­dern auch von zahl­rei­chen Rock­mu­si­kern, wie wir wis­sen, Mrs. Janis Jop­lin ein­ge­schlos­sen. Da die­se aber sowie­so nur inbrün­stig brül­len, nicht sin­gen konn­te, war der Ver­lust für die Musik­ge­schich­te kaum kata­stro­phal. Anders im Fal­le Jer­ry Gar­ci­as. In einem Video, das im Inter­net fisch­bar ist, bringt der umwer­fen­de Sän­ger und Lead-Gitar­rist der »Dank­ba­ren Toten« auch den Casey-Jones-Song zu Gehör. Sei­ne brü­chi­ge, oft ver­schwe­ben­de Stim­me betört min­de­stens 3o Mal mehr als die von Jop­lin, Van Mor­ri­son und erst recht mei­ne eige­ne. Das Ver­schwe­ben hat­te Gar­cia auch in sei­nen Gitar­ren­riffs drauf – und im Leben. Er zer­rüt­te­te sei­ne Gesund­heit über Jah­re hin­weg ziel­stre­big, bis er, 1995, mit 53 Jah­ren starb.

Ich bin Lie­der­ma­cher, somit kein Exper­te für Rock­mu­sik. Gleich­wohl habe ich den Ein­druck, Gar­ci­as Band habe damals ein bis dahin unbe­kann­tes Klang­bild in die Rock­mu­sik ein­ge­führt: wie hin­ge­tupft, gleich­sam impres­sio­ni­stisch, von Schwer­mut und Klas­sen­kampf glei­cher­ma­ßen mei­len­weit ent­fernt. Wür­de mich jemand fra­gen, ob es ein Para­dies gäbe, wür­de ich erwi­dern, es gibt die Musik von Gra­teful Dead. Ande­rer­seits hat es ohne Zwei­fel auch um 1970 bereits die Höl­le gege­ben, an deren Ein­fahrt eine Fackel­trä­ge­rin und ein Wei­ßes Haus ste­hen. Die Eisen­bahn spiel­te eine wesent­li­che Rol­le bei der soge­nann­ten Erschlie­ßung des Westens der USA. Dann nah­men sie sich den Pazi­fik vor. Das Blut der jewei­li­gen Urein­woh­ne­rIn­nen floss in Strö­men. Ich wäre also nicht ver­blüfft, wenn Casey Jones kein küh­ner und tap­fe­rer Pro­le­ta­ri­er, viel­mehr der übli­che Impe­ria­li­sten­knecht gewe­sen wäre.