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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Carl von Ossietzky und die Kirchen

Carl von Ossietzky wur­de am 3. Okto­ber 1889 in Ham­burg gebo­ren und am 10. Novem­ber des­sel­ben Jah­res wegen der katho­li­schen Kon­fes­si­on sei­nes Vaters Carl Igna­ti­us von Ossietzky in der »römisch-katho­li­schen Kir­che zu Ham­burg«, genannt »der klei­ne Michel«, getauft. Nach dem frü­hen Tod des Vaters 1891 nahm des­sen Schwe­ster den klei­nen Carl bis zu sei­nem zehn­ten Lebens­jahr in ihre Obhut. Carl von Ossietz­kys Ehe­frau Maud ver­merk­te dazu spä­ter: »Hier war die katho­li­sche Kir­che, in wel­che die streng gläu­bi­ge Frau den Jun­gen stets mit­nahm, und hier keim­te durch das reli­giö­se Zuviel die erste Abnei­gung gegen kirch­li­che Dog­men, die spä­ter wie ein lästi­ger Bal­last abge­wor­fen wurden.«

Nach­dem Ossietz­kys Mut­ter Rosa­lie Marie, die evan­ge­lisch war, 1898 in zwei­ter Ehe den Bild­hau­er und Sozi­al­de­mo­kra­ten Gustav Walt­her gehei­ra­tet hat­te, nahm sie den Jun­gen wie­der zu sich und erzog ihn fort­an evan­ge­lisch, so dass er am 23. März 1904 in einer der Ham­bur­ger Haupt­kir­chen, St. Michae­lis, dem »Michel«, kon­fir­miert wur­de, und zwar ver­mut­lich durch den Haupt­pa­stor Georg Behr­mann, der als »Seni­or« zugleich höch­ster Reprä­sen­tant der »Evan­ge­lisch-Luthe­ri­schen Kir­che im Ham­bur­gi­schen Staa­te« war. Hin­sicht­lich der vor­aus­ge­hen­den zwei­jäh­ri­gen Kon­fir­man­den­un­ter­wei­sung galt um 1900: »Der Stoff ist der Kate­chis­mus, durch Bibellesen unter­stützt, wäh­rend der Pfar­rer Bibli­sche Geschich­te und Kir­chen­lie­der dem Leh­rer über­läßt.« (»Kon­fir­man­den­un­ter­wei­sung«, in: »Reli­gi­on in Geschich­te und Gegen­wart«, Bd. 3, 1959) Dazu kamen bis­wei­len erbau­li­che Geschich­ten aus der »Hei­den-Mis­si­on«, die damals zeit­wei­se mit den bru­ta­len Kolo­ni­al­be­hör­den, zum Bei­spiel im Gebiet der Here­ros, Hand in Hand arbei­te­te, sowie Erzäh­lun­gen der Hel­den­ta­ten Luthers. Das Glau­bens­be­kennt­nis, das der Kon­fir­mand Ossietzky bei der Kon­fir­ma­ti­on öffent­lich able­gen muss­te, hat­te für ihn eben­so­we­nig Bestand wie die Dog­men, die er in der katho­li­schen Erzie­hung bei sei­ner Tan­te gelernt hat­te. Dazu trug sicher­lich bei, dass sein Stief­va­ter ihn auf Par­tei­ver­an­stal­tun­gen der SPD mit­nahm, wo sein Inter­es­se an Poli­tik und Geschich­te geweckt wur­de und er die Argu­men­te der »anschwel­len­den Kir­chen­aus­tritts­be­we­gung gegen die Staats­kir­che«… »mit ihrer unheil­vol­len Macht über die Schu­le« ken­nen­lern­te, die ihn überzeugten.

In sei­nen über 1000 Ver­öf­fent­li­chun­gen in den Jah­ren 1911 bis 1933 setzt Ossietzky sich immer wie­der mit den bei­den Groß­kir­chen aus­ein­an­der, mit ihren Struk­tu­ren und Tra­di­tio­nen, ihren Ein­flüs­sen auf Poli­tik, Kunst und Kul­tur sowie auch mit ihren nam­haf­ten Reprä­sen­tan­ten, wie bei­spiels­wei­se Luther, etli­chen Päp­sten, beson­ders her­vor­ge­ho­ben Bene­dikt XV., den Poli­ti­kern des katho­li­schen Zen­trums, vor allem mit dem durch Rechts­extre­me ermor­de­ten Mat­thi­as Erz­ber­ger, spä­ter auch mit dem Hit­ler­freund, Prä­la­ten und Vor­sit­zen­den des Zen­trums ab 1928 Lud­wig Kaas.

Es kön­nen aus der Fül­le des Mate­ri­als nur eini­ge, aller­dings, wie ich mei­ne, wesent­li­che Ein­sich­ten Ossietz­kys zu den Groß­kir­chen wie­der­ge­ge­ben wer­den, die dem bis heu­te unin­for­miert gehal­te­nen Kir­chen­volk immer noch weit­ge­hend unbe­kannt sind.

Ossietzky beschreibt den »Katho­li­zis­mus in Deutsch­land« am Ende des Welt­krie­ges als eine »hoff­nungs­lo­se Spie­ßer­an­ge­le­gen­heit«, die durch Bis­marcks »Kul­tur­kampf« 1871 bis 1878 und die nach­fol­gen­de Bevor­mun­dung durch »klei­ne pro­te­stan­ti­sche Pfaf­fen«, »die ihre katho­li­schen Volks­ge­nos­sen mit kon­si­sto­ri­al­rät­li­chem Ana­the­ma beleg­ten«, zu einer Orga­ni­sa­ti­on ohne Selbst­be­wusst­sein gewor­den war. Ihr ruft er, mit Bit­ter­keit gegen »die graue Mucke­rei der Luther- und Cal­vin-Epi­go­nen«, »die Zei­ten in Erin­ne­rung, da Kir­chen­für­sten am Rhein und Main die Schlös­ser, Kir­chen und Klö­ster mit Kunst­wer­ken schmücken lie­ßen«. Das schrieb Ossietzky im März 1921, kurz bevor der katho­li­sche Poli­ti­ker Mat­thi­as Erz­ber­ger im August des­sel­ben Jah­res von Rechts­ra­di­ka­len hin­ter­häl­tig erschos­sen wur­de. In dem Arti­kel »Zwi­schen den Schlach­ten«, der kurz nach der Ermor­dung erschien und in etli­chen Aus­sa­gen heu­te wie­der aktu­ell ist, bewun­dert der Ver­fas­ser »die muti­ge Hand« Erz­ber­gers, mit der er das Waf­fen­still­stands­ab­kom­men zwi­schen Deutsch­land und der Entente unter­zeich­net hat­te, wozu »die stol­zen Her­ren mit Por­te­pee und Gold­bor­dü­ren, die drei Jah­re hin­durch jedem Ver­stän­di­gungs­frie­den gewehrt haben« – die Her­ren v. Hin­den­burg und Gene­ral v. Stein –, plötz­lich kei­nen Ehr­geiz ver­spür­ten …«. Wie der Fall Erz­ber­ger zeigt, hat sich die (gemeint: die katho­li­sche) Kir­che nach Auf­fas­sung Ossietz­kys ja »nicht immer … gegen pro­gres­si­ve Strö­mun­gen so feind­lich, so ableh­nend ver­hal­ten«. Dazu ver­weist er auf die »gewal­ti­gen Päp­ste der Renais­sance«, den Papst Cle­mens XIV., einen »Geistesgenosse[n] Vol­taires«, auf den »bedeu­tend­sten Papst des vori­gen Jahr­hun­derts, … Pio nono, [der] wenig­stens in sei­nen Anfän­gen mit den Libe­ra­len und den Car­bo­na­ri­ten, den Bol­sche­wi­sten von damals, pak­tiert« hat. Und er – der Pazi­fist Ossietzky – rühmt Bene­dikt XV., »de[n] große[n] Papst des Welt­krie­ges, der mit Demo­kra­ten, Pazi­fi­sten und Frei­mau­rern zusammen[ging] und … damit jenes hohe poli­ti­sche Anse­hen der päpst­li­chen Kurie (schuf), wovon sie bis jetzt gezehrt hat. Wie­viel von dem Kapi­tal ver­wirt­schaf­tet ist, wer­den wir bald wis­sen«. Im Weltbühne-Auf­satz »Katho­li­sche Dik­ta­tur« stell­te Ossietzky 1931 fest: »Was dem deut­schen Katho­li­zis­mus fehlt, das ist ein wahr­haft christ­li­ches Genie, ein neu­er Fran­cis­cus [sic! H. H.], der Gott in der lei­den­den Krea­tur sucht und fin­det. Die Vor­se­hung hat es indes­sen anders gewollt. Sie hat ihm kei­nen Hei­li­gen beschert, son­dern einen Dik­ta­tor, Herrn Dok­tor Brü­ning« – einen Zen­trums­mann als Reichs­kanz­ler, und dazu, als Vor­sit­zen­den der Par­tei, einen Prä­la­ten, Lud­wig Kaas, einen »wie­sel­na­si­gen Herrn« (»Der erlö­ste Vati­kan«, Weltbühne 1929), der die »Tin­ten­fisch­tak­tik« beherrsch­te, womit »schwar­ze Wol­ken ver­dun­kel­ten, was geschah oder nicht geschah« und womit er, nota bene, 1933 sei­ne Frak­ti­on dazu brach­te, Hit­lers Ermäch­ti­gungs­ge­setz zuzustimmen.

Mit der luthe­ri­schen Kir­che, dem Pro­te­stan­tis­mus, den Ossietzky »stets nur als ein Organ des Staa­tes, ein sozu­sa­gen gei­sti­ges Mit­tel zur Beherr­schung der Unter­ta­nen«, beschreibt, geht er nicht so ein­fühl­sam-kri­tisch um wie mit der katho­li­schen Kir­che, ihrer Kunst und etli­chen »bedeu­ten­den« Gestal­ten wie Papst Bene­dikt XV. und Erz­ber­ger, die sie auch hervorbrachte.

Zwar fin­det er für den jun­gen Luther bis 1525 rüh­men­de Wor­te für sei­nen »guten alten Luther-Zorn«, der ihn, anders als die Huma­ni­sten, zur Tat trieb, wodurch »das Volk auf­stand« und er »die Supre­ma­tie des Pap­stes dadurch erle­dig­te«, dass er ihr »das Recht der frei­en Per­sön­lich­keit ent­ge­gen­ge­stellt hat­te«. Erin­nert wird dabei an den »The­sen­an­schlag« von 1517, an die Ver­bren­nung der päpst­li­chen Bul­le von 1520, die den Bann über den Ket­zer androh­te, sowie an Luthers Auf­tritt am 18. April 1521 in Worms vor Kai­ser und Reich, wo Luther es ablehn­te, sei­ne Wer­ke zu wider­ru­fen. »Der Luther war 1521 noch der unge­bro­che­ne, kom­pro­miss­lo­se Mann … Ein Wort wie das ›Hier steh‘ ich, ich kann nicht anders! Gott hel­fe mir! Amen!‹ schwingt sich, trot­zig zugleich und früh­lings­jung, durch die Jahr­hun­der­te.« (»Luther in Worms«, 1921). Doch bald danach »über­lie­fer­te er das Volk sofort den Für­sten und wur­de der Vater des ›beschränk­ten Unter­ta­nen­ver­stan­des‹« – »der neue Papst von Wit­ten­berg«, des­sen Kir­che schließ­lich »kei­ne gei­sti­ge Macht war, son­dern eben nur eine Behör­de … wie das Kriegs­mi­ni­ste­ri­um und die Remon­te­kam­mern« (»Die Kir­che Luthers«, 1921). Das wur­de erst­mals sicht­bar in den Unru­hen im Früh­jahr 1525, die bald danach zum »Bau­ern­krieg« führ­ten, in dem er sich vor­be­halt­los auf die Sei­te der Für­sten stell­te und sie zur Abmet­ze­lung der Auf­stän­di­schen antrieb. Davon betrof­fen: Auch sein lang­jäh­ri­ger Mit­ar­bei­ter Tho­mas Mün­zer, den er »Volks­ver­füh­rer schalt«, den »Satan von All­stedt«. Sol­che »Lügen«, schreibt Ossietzky in einem Auf­satz von 1925 (»Tho­mas Mün­zer bei Fran­ken­hau­sen. Gegen eine Geschichts­lü­ge«) haben »sei­nen [gemeint: Mün­zers] Ruf ver­gif­tet. Die Nach­welt hat in ihm immer ent­we­der einen grau­sa­men Dem­ago­gen oder einen irren Fana­ti­ker gese­hen. Er war kei­nes von bei­den … Er trug in die hem­mungs­lo­se Men­schen­aus­beu­tung sei­ner Epo­che die sozia­le Idee viel spä­te­rer Zei­ten … Er war Licht­brin­ger, nicht Brand­fackel«. Die Wahr­heit die­ser Ein­sicht, die in der DDR-Geschichts­schrei­bung erst­mals umfas­send auf­ge­nom­men und ver­brei­tet wur­de, ist in den west­li­chen Kir­chen immer noch nicht ange­kom­men. Das wäre in der kürz­li­chen Refor­ma­ti­ons­de­ka­de für das Luther­bild ja auch abträg­lich gewesen!

Nach­dem den luthe­ri­schen »Für­sten­kir­chen« 1918 ihre Her­ren abhan­den gekom­men waren, brei­te­ten sich bei ihnen zunächst gro­ße Unsi­cher­heit und Trau­er um den Ver­lust des Kai­sers aus, so dass Ossietzky 1921 mut­maß­te: »Die evan­ge­li­sche Kir­che befin­det sich mit­ten in einem Auf­lö­sungs­pro­zess.« Dazu ist es bekannt­lich nicht gekom­men: Ihr Füh­rungs­per­so­nal fand, von Aus­nah­men wie den »reli­giö­sen Sozia­li­sten« abge­se­hen, Platz und Aner­ken­nung im rech­ten Lager bei der DNVP und spä­ter auch als »Deut­sche Chri­sten« in der NS-Bewe­gung. Ins­be­son­de­re durch ihren Kampf gegen die »ent­schä­di­gungs­lo­se Für­sten­ent­eig­nung« 1926 wur­de der Volks­ent­scheid, von der SPD und KPD gemein­sam getra­gen, dazu abge­lehnt – mit Aus­wir­kun­gen bis in unse­re Tage, in denen das ehe­mals kriegs­trei­be­ri­sche und spä­ter teil­wei­se NS-ver­ban­del­te »Haus Hohen­zol­lern« eine Resti­tu­ti­on und Ent­schä­di­gung für nach 1945 beschlag­nahm­te Wer­te for­dert. Damals, 1926, beschwor die evan­ge­li­sche Kir­che in ihren Ver­laut­ba­run­gen und Pre­dig­ten gegen die »Gott­lo­sen« unauf­hör­lich das 7. Gebot (»Du sollst nicht steh­len!«) als angeb­lich Got­tes hei­li­ger Wil­le zur Ableh­nung der »Für­sten­ent­eig­nung«. Ossietzky hat­te das im Vor­feld der Abstim­mung befürch­tet und geschrie­ben: »Die Kir­che wird ihren gan­zen Ein­fluss bald spie­len, bald wuch­ten las­sen. Faul­ha­ber und Doeh­ring [gemeint: Bru­no D., der mar­tia­li­sche Dom­pre­di­ger des Kai­sers, H. H.], Krumm­stab und Swa­stika wer­den Ver­brü­de­rung fei­ern.« (»Für­sten­ab­fin­dung und Rus­sen­ver­trag«, 1926) Zu einer sol­chen Ver­brü­de­rung kam es auch bei einem wei­te­ren Volks­ent­scheid drei Jah­re spä­ter: Dies­mal hat­ten Hit­ler und Hugen­berg für die NSDAP und die DNVP den »Ent­wurf eines Geset­zes gegen die Ver­skla­vung des deut­schen Vol­kes« vor­ge­legt und wur­den dabei unter­stützt vom Stahl­helm­füh­rer Franz Sel­dte, vom Vor­sit­zen­den des All­deut­schen Ver­ban­des Hein­rich Claß und vom würt­tem­ber­gi­schen Kir­chen­prä­si­den­ten Theo­phil Wurm für die evan­ge­li­sche Kir­che, dem­sel­ben ent­schie­de­nen Anti­se­mi­ten Wurm, der auch 1945 als erster Rats­vor­sit­zen­der der EKD die Lei­tung der evan­ge­li­schen Kir­che über­nahm. Doch das, was dann folg­te, ist ein neu­es dunk­les Kapi­tel aus der Kir­chen­ge­schich­te, die die Gemein­den heu­te eben­so­we­nig ken­nen wie die Geschich­te ihrer Kir­che zur Zeit der Wei­ma­rer Repu­blik, in der sie die »ver­hass­te Demo­kra­tie« (Hans Pro­ling­heu­er: »Klei­ne poli­ti­sche Kir­chen­ge­schich­te«, 1984) bekämpf­te, um wie­der einen star­ken »Füh­rer« zu haben. So kam es, dass nach dem 30. Janu­ar 1933, als der Reichs­prä­si­dent Hin­den­burg Hit­ler zum Reichs­kanz­ler ernannt hat­te, in ihr Jubel über Jubel zu hören war. Nun »beseel­ten allein Freu­de und Dank­bar­keit die Chri­sten­heit in Deutsch­land!« (eben­da). Ossietzky hat­te das geahnt!

Alle Zita­te die­ses Auf­sat­zes, soweit nicht anders gekenn­zeich­net, aus: Carl von Ossietzky, Sämt­li­che Schrif­ten in VIII Bän­den, Rowohlt 1994.