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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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C.-Ausnahmezustand und autoritärer Sicherheitsstaat (2)

Zei­ten der Gefahr, Kri­sen und Umbrü­che suchen uns bekannt­lich immer wie­der heim; und offen­bar gehört der hilf­lo­se Schrei nach dem star­ken auto­ri­tä­ren Sicher­heits­staat ange­sichts sol­cher Lebens­ri­si­ken in einer Risi­ko­ge­sell­schaft und in einer glo­ba­li­sier­ten Welt fast schon zur gesell­schaft­li­chen und staat­li­chen Nor­ma­li­tät. Und seit 2020 ist die­ser Ruf nicht mehr in aller­er­ster Linie ange­sichts von Ter­ror-, Gewalt- und Kri­mi­na­li­täts­be­dro­hun­gen zu ver­neh­men, son­dern auch ange­sichts der Bedro­hung durch ein gefähr­li­ches Virus, das prin­zi­pi­ell alle befal­len und mit­un­ter auch töd­lich sein kann. Zwar han­delt es sich dabei um ein voll­kom­men ande­res Sze­na­rio, aber den­noch stellt sich die Fra­ge: Sind mit der »Coro­na-Kri­se« inzwi­schen neue Mei­len­stei­ne auf dem Weg in den prä­ven­tiv-auto­ri­tä­ren Sicher­heits- und Über­wa­chungs­staat hin­zu­ge­kom­men? Mei­len­stei­ne, die mit tief­grei­fen­den Coro­na-Abwehr­maß­nah­men zeit­wei­se in einen gesund­heits­po­li­ti­schen »Aus­nah­me­zu­stand« führ(t)en – mit gra­vie­ren­den Fol­gen und gesell­schaft­li­chen Lang­zeit­schä­den. Hin­zu kommt ein wei­te­res Pro­blem, beson­ders schwer­wie­gend für einen demo­kra­ti­schen Rechts­staat: Die von den Regie­run­gen des Bun­des und der Län­der ver­häng­ten Exe­ku­tiv­maß­nah­men sind zwar mit recht tief­grei­fen­den Grund­rechts­ein­schrän­kun­gen ver­bun­den, aber all­zu lan­ge Zeit weit­ge­hend ohne Betei­li­gung der Par­la­men­te zustan­de gekom­men und erlas­sen wor­den – und damit unter Aus­he­be­lung der par­la­men­ta­ri­schen Demokratie.

Im Zuge der »Coro­na-Kri­se« beschleu­nigt sich ganz offen­sicht­lich und spür­bar die Digi­ta­li­sie­rung von Staat, Gesell­schaft und Wirt­schaft. Es geht dabei um die for­cier­te Ent­wick­lung digi­ta­ler Metho­den und Pro­zes­se, deren mög­li­cher­wei­se schwe­ren »Neben­wir­kun­gen« zu einer wei­te­ren Gefähr­dung von Frei­heits­rech­ten und Pri­vat­sphä­re füh­ren kön­nen: den­ken wir etwa an die daten­schutz­recht­li­chen Aus­ein­an­der­set­zun­gen um die Coro­na-Warn-Apps zur Kon­takt­kon­trol­le, an Über­mitt­lun­gen von per­so­nen­be­zo­ge­nen Daten Infi­zier­ter und ihrer Kon­takt­per­so­nen an die Poli­zei, den­ken wir an oft unge­si­cher­te Daten­ab­fra­gen bei Ver­an­stal­tun­gen und in der Gastro­no­mie, an Droh­nen-Über­wa­chun­gen in bestimm­ten Städ­ten zwecks Ein­hal­tung der Ver­hal­tens­re­geln, an Home­of­fice und Video-Kon­fe­ren­zen, for­cier­te Digi­ta­li­sie­rung von Schu­len und von Kom­mu­ni­ka­ti­ons­pro­zes­sen. Mit die­ser Ent­wick­lung ist erheb­li­ches Kon­troll-, Über­wa­chungs- und Miss­brauchs­po­ten­ti­al verbunden.

Was allein von den digi­ta­len und ana­lo­gen Prä­ven­ti­ons-, Sicher­heits- und Kon­troll­maß­nah­men zur Virus-Ein­däm­mung auch künf­tig fort­be­stehen und mit allen »Neben­wir­kun­gen« und »Kol­la­te­ral­schä­den« in einer »neu­en Nor­ma­li­tät« nach­wir­ken wird, wie stark die­se tief­grei­fen­de Coro­na-Kri­se und ihre Beschleu­ni­gungs­ef­fek­te auch Rechts­staat, Bür­ger­rech­te, Demo­kra­tie, Gesell­schaft, Kul­tur, Arbeits­welt und Wirt­schaft in Mit­lei­den­schaft zie­hen oder gar in die Kri­se stür­zen kann, das alles ist zwar in Ansät­zen längst sicht­bar, aber noch lan­ge nicht in der gesam­ten Dimen­si­on rea­li­stisch abzuschätzen.

Eine Sicht­wei­se, die sich neben den Schutz­maß­nah­men gegen das Virus und sei­ne Aus­brei­tung auch um sol­che »Kol­la­te­ral­schä­den« der Coro­na-Abwehr­maß­nah­men küm­mert, ist zwar uner­läss­lich, gilt aber in die­ser Zeit der Angst und pro­kla­mier­ter Soli­da­ri­tät nicht sel­ten als kon­tra­pro­duk­tiv, unso­li­da­risch, ego­istisch und suspekt. Doch eine sol­che kri­ti­sche und dif­fe­ren­zie­ren­de Betrach­tung hat nichts mit Coro­na-Ver­harm­lo­sung, Wis­sen­schafts­leug­nung oder gar Ver­schwö­rungs­my­then gemein, auch nicht mit Ent­so­li­da­ri­sie­rung und Indi­vi­dua­lego­is­mus – nein: Die­se Betrach­tungs­wei­se ori­en­tiert sich an inter­dis­zi­pli­nä­ren wis­sen­schaft­li­chen Erkennt­nis­sen, dar­über hin­aus aber im Wesent­li­chen an grund­le­gen­den Ver­fas­sungs­wer­ten: an Grund­ge­setz, Bür­ger- und Frei­heits­rech­ten, par­la­men­ta­ri­scher Demo­kra­tie und demo­kra­ti­schem Rechts­staat, die unter der Coro­na-Abwehr­po­li­tik und Pan­de­mie­be­kämp­fung, so viel dürf­te fest­ste­hen, längst schon zu lei­den hat­ten. Und eine sol­che hin­ter­fra­gen­de und kri­ti­sche Posi­ti­on sorgt sich eben auch um die Ver­hält­nis­mä­ßig­keit der schwer­wie­gen­den Coro­na-Abwehr­maß­nah­men sowie um deren demo­kra­ti­sche Legi­ti­mi­tät und sozia­len Lang­zeit­fol­gen bezie­hungs­wei­se -schäden.

Auch wenn man­che die­ser Ver­fas­sungs­wer­te inzwi­schen von gewis­sen »Quer­den­kern«, Coro­na-Leug­nern und auch rechts­ori­en­tier­ten Kräf­ten geka­pert wor­den sind, so wer­den sie durch miss­bräuch­li­chen Gebrauch nicht etwa falsch und unbrauch­bar, son­dern sie gel­ten nach wie vor als grund­sätz­li­che Maß­stä­be. Und wir wer­den uns auch wei­ter­hin klar und deut­lich auf sie beru­fen müs­sen. Das gilt vor allem ange­sichts der Tat­sa­che, dass sich man­che Zeit­ge­nos­sen, Medi­en, NGOs und par­la­men­ta­ri­sche Oppo­si­ti­ons­frak­tio­nen all­zu lan­ge mit Hin­ter­fra­gen, mit ver­nünf­ti­ger und dif­fe­ren­zie­ren­der Kri­tik stark zurück­ge­hal­ten haben. Sie haben damit das Mei­nungs- und Debat­ten-Spek­trum erheb­lich ver­engt, letzt­lich dem offe­nen und demo­kra­ti­schen Dis­kurs einen Bären­dienst erwie­sen (ähn­lich wie in der öffent­li­chen Debat­te um den poli­ti­schen und mili­tä­ri­schen Umgang mit Russ­lands Krieg gegen die Ukraine).

Zu Recht fragt Heri­bert Prantl (Süd­deut­sche Zei­tung), ob die »Coro­na-Kri­se« wohl »zur Blau­pau­se für das Han­deln in ech­ten oder ver­meint­li­chen Extrem­si­tua­tio­nen« wer­den könn­te (SZ 15.03.2020 online). Und womög­lich nicht nur in Extrem­si­tua­tio­nen, son­dern auch im All­tag. Des­halb noch ein Warn­hin­weis für die Zukunft: Der Aus­nah­me­zu­stand im moder­nen Prä­ven­ti­ons­staat, wie er sich hier­zu­lan­de längst ent­wickelt hat, ten­diert dazu, auch nach erfolg­ter Kri­sen­be­wäl­ti­gung zum recht­li­chen Nor­mal­zu­stand zu mutie­ren; dies kann zu einer gefähr­li­chen Beschleu­ni­gung des längst ein­ge­schla­ge­nen Kur­ses in Rich­tung eines prä­ven­tiv-auto­ri­tä­ren Sicher­heits-, Kon­troll- und Über­wa­chungs­staats füh­ren. Das hat sich nach 9/​11 deut­lich gezeigt – mit inzwi­schen ent­fri­ste­ten »Anti­ter­ror­ge­set­zen«, die Frei­heits­rech­te stark beschnei­den und längst schon als »Not­stands­ge­set­ze für den All­tag« qua­li­fi­ziert wer­den kön­nen. Des­halb ist höch­ste Wach­sam­keit gebo­ten, damit sich der neue gesund­heits­po­li­ti­sche Aus­nah­me­zu­stand nicht all­mäh­lich nor­ma­li­siert – schließ­lich ist längst die Rede von »neu­er Nor­ma­li­tät« auf unbe­stimmt lan­ge Zeit; und damit sich die längst zu ver­zeich­nen­de auto­ri­tä­re Wen­de nicht wei­ter ver­fe­stigt – mit einem pater­na­li­sti­schen Staat, einer restrik­ti­ven und über­re­gu­lier­ten Gesell­schaft sowie einem stark kon­trol­lier­ten und ver­krampf­ten Alltag.

 
Lite­ra­tur­hin­wei­se:
Rolf Gös­s­ner, Gedan­ken und The­sen zum Coro­na-Regime, in: Ossietzky Nr. 8/​2020: https://www.ossietzky.net/artikel/gedanken-und-thesen-zum-corona-regime/
Ders., Men­schen­rech­te und Demo­kra­tie im Aus­nah­me­zu­stand. Gedan­ken und The­sen zum Coro­na-Lock­down, zur »neu­en Nor­ma­li­tät« und den Fol­gen, her­aus­ge­ge­ben von der Ver­ei­ni­gung Demo­kra­ti­scher Juri­stin­nen und Juri­sten (VDJ) und erschie­nen im Ver­lag Ossietzky, Däh­re 2020: https://www.ossietzky.net/laden/menschenrechte-und-demokratie-im-ausnahmezustand-rolf-goessner/