Zeiten der Gefahr, Krisen und Umbrüche suchen uns bekanntlich immer wieder heim; und offenbar gehört der hilflose Schrei nach dem starken autoritären Sicherheitsstaat angesichts solcher Lebensrisiken in einer Risikogesellschaft und in einer globalisierten Welt fast schon zur gesellschaftlichen und staatlichen Normalität. Und seit 2020 ist dieser Ruf nicht mehr in allererster Linie angesichts von Terror-, Gewalt- und Kriminalitätsbedrohungen zu vernehmen, sondern auch angesichts der Bedrohung durch ein gefährliches Virus, das prinzipiell alle befallen und mitunter auch tödlich sein kann. Zwar handelt es sich dabei um ein vollkommen anderes Szenario, aber dennoch stellt sich die Frage: Sind mit der »Corona-Krise« inzwischen neue Meilensteine auf dem Weg in den präventiv-autoritären Sicherheits- und Überwachungsstaat hinzugekommen? Meilensteine, die mit tiefgreifenden Corona-Abwehrmaßnahmen zeitweise in einen gesundheitspolitischen »Ausnahmezustand« führ(t)en – mit gravierenden Folgen und gesellschaftlichen Langzeitschäden. Hinzu kommt ein weiteres Problem, besonders schwerwiegend für einen demokratischen Rechtsstaat: Die von den Regierungen des Bundes und der Länder verhängten Exekutivmaßnahmen sind zwar mit recht tiefgreifenden Grundrechtseinschränkungen verbunden, aber allzu lange Zeit weitgehend ohne Beteiligung der Parlamente zustande gekommen und erlassen worden – und damit unter Aushebelung der parlamentarischen Demokratie.
Im Zuge der »Corona-Krise« beschleunigt sich ganz offensichtlich und spürbar die Digitalisierung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft. Es geht dabei um die forcierte Entwicklung digitaler Methoden und Prozesse, deren möglicherweise schweren »Nebenwirkungen« zu einer weiteren Gefährdung von Freiheitsrechten und Privatsphäre führen können: denken wir etwa an die datenschutzrechtlichen Auseinandersetzungen um die Corona-Warn-Apps zur Kontaktkontrolle, an Übermittlungen von personenbezogenen Daten Infizierter und ihrer Kontaktpersonen an die Polizei, denken wir an oft ungesicherte Datenabfragen bei Veranstaltungen und in der Gastronomie, an Drohnen-Überwachungen in bestimmten Städten zwecks Einhaltung der Verhaltensregeln, an Homeoffice und Video-Konferenzen, forcierte Digitalisierung von Schulen und von Kommunikationsprozessen. Mit dieser Entwicklung ist erhebliches Kontroll-, Überwachungs- und Missbrauchspotential verbunden.
Was allein von den digitalen und analogen Präventions-, Sicherheits- und Kontrollmaßnahmen zur Virus-Eindämmung auch künftig fortbestehen und mit allen »Nebenwirkungen« und »Kollateralschäden« in einer »neuen Normalität« nachwirken wird, wie stark diese tiefgreifende Corona-Krise und ihre Beschleunigungseffekte auch Rechtsstaat, Bürgerrechte, Demokratie, Gesellschaft, Kultur, Arbeitswelt und Wirtschaft in Mitleidenschaft ziehen oder gar in die Krise stürzen kann, das alles ist zwar in Ansätzen längst sichtbar, aber noch lange nicht in der gesamten Dimension realistisch abzuschätzen.
Eine Sichtweise, die sich neben den Schutzmaßnahmen gegen das Virus und seine Ausbreitung auch um solche »Kollateralschäden« der Corona-Abwehrmaßnahmen kümmert, ist zwar unerlässlich, gilt aber in dieser Zeit der Angst und proklamierter Solidarität nicht selten als kontraproduktiv, unsolidarisch, egoistisch und suspekt. Doch eine solche kritische und differenzierende Betrachtung hat nichts mit Corona-Verharmlosung, Wissenschaftsleugnung oder gar Verschwörungsmythen gemein, auch nicht mit Entsolidarisierung und Individualegoismus – nein: Diese Betrachtungsweise orientiert sich an interdisziplinären wissenschaftlichen Erkenntnissen, darüber hinaus aber im Wesentlichen an grundlegenden Verfassungswerten: an Grundgesetz, Bürger- und Freiheitsrechten, parlamentarischer Demokratie und demokratischem Rechtsstaat, die unter der Corona-Abwehrpolitik und Pandemiebekämpfung, so viel dürfte feststehen, längst schon zu leiden hatten. Und eine solche hinterfragende und kritische Position sorgt sich eben auch um die Verhältnismäßigkeit der schwerwiegenden Corona-Abwehrmaßnahmen sowie um deren demokratische Legitimität und sozialen Langzeitfolgen beziehungsweise -schäden.
Auch wenn manche dieser Verfassungswerte inzwischen von gewissen »Querdenkern«, Corona-Leugnern und auch rechtsorientierten Kräften gekapert worden sind, so werden sie durch missbräuchlichen Gebrauch nicht etwa falsch und unbrauchbar, sondern sie gelten nach wie vor als grundsätzliche Maßstäbe. Und wir werden uns auch weiterhin klar und deutlich auf sie berufen müssen. Das gilt vor allem angesichts der Tatsache, dass sich manche Zeitgenossen, Medien, NGOs und parlamentarische Oppositionsfraktionen allzu lange mit Hinterfragen, mit vernünftiger und differenzierender Kritik stark zurückgehalten haben. Sie haben damit das Meinungs- und Debatten-Spektrum erheblich verengt, letztlich dem offenen und demokratischen Diskurs einen Bärendienst erwiesen (ähnlich wie in der öffentlichen Debatte um den politischen und militärischen Umgang mit Russlands Krieg gegen die Ukraine).
Zu Recht fragt Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung), ob die »Corona-Krise« wohl »zur Blaupause für das Handeln in echten oder vermeintlichen Extremsituationen« werden könnte (SZ 15.03.2020 online). Und womöglich nicht nur in Extremsituationen, sondern auch im Alltag. Deshalb noch ein Warnhinweis für die Zukunft: Der Ausnahmezustand im modernen Präventionsstaat, wie er sich hierzulande längst entwickelt hat, tendiert dazu, auch nach erfolgter Krisenbewältigung zum rechtlichen Normalzustand zu mutieren; dies kann zu einer gefährlichen Beschleunigung des längst eingeschlagenen Kurses in Richtung eines präventiv-autoritären Sicherheits-, Kontroll- und Überwachungsstaats führen. Das hat sich nach 9/11 deutlich gezeigt – mit inzwischen entfristeten »Antiterrorgesetzen«, die Freiheitsrechte stark beschneiden und längst schon als »Notstandsgesetze für den Alltag« qualifiziert werden können. Deshalb ist höchste Wachsamkeit geboten, damit sich der neue gesundheitspolitische Ausnahmezustand nicht allmählich normalisiert – schließlich ist längst die Rede von »neuer Normalität« auf unbestimmt lange Zeit; und damit sich die längst zu verzeichnende autoritäre Wende nicht weiter verfestigt – mit einem paternalistischen Staat, einer restriktiven und überregulierten Gesellschaft sowie einem stark kontrollierten und verkrampften Alltag.
Literaturhinweise:
Rolf Gössner, Gedanken und Thesen zum Corona-Regime, in: Ossietzky Nr. 8/2020: https://www.ossietzky.net/artikel/gedanken-und-thesen-zum-corona-regime/
Ders., Menschenrechte und Demokratie im Ausnahmezustand. Gedanken und Thesen zum Corona-Lockdown, zur »neuen Normalität« und den Folgen, herausgegeben von der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ) und erschienen im Verlag Ossietzky, Dähre 2020: https://www.ossietzky.net/laden/menschenrechte-und-demokratie-im-ausnahmezustand-rolf-goessner/