Zum Plateau auf den Seelower Höhen gelangt man über verschiedene Stufen und Schrägen. Unzählige Male war ich dort oben und schaute wie der Soldat aus Bronze ins Oderbruch. Die Denkmalanlage hatten im Herbst vor 75 Jahren Lew Kerbel und Wladimir Zigal geschaffen, die beiden zeichneten auch verantwortlich für die zeitgleich im Berliner Tiergarten errichtete. Und immer lenkte ich, wenn die Höhe erklommen, sofort meine Schritte nach links zum Gräberfeld. Man hätte auch geradeaus gehen und weitere Stufen nehmen können, doch stets versperrte eine schmiedeeiserne Kette den Aufstieg, und ein daran befestigtes Schild warnte: »Kein Durchgang. Betreten auf eigene Gefahr!« Daran hielt ich mich, wie alle anderen es auch taten – bis mir aufging: Die Risikowarnung bedeutet ja nicht, dass man überhaupt nicht diesen Weg nehmen dürfe.
Also stieg ich mutig über die Kette und die bemoosten Stufen hinauf. Und nach der letzten Stufe lagen Pflastersteine in Reihe. Schwarz, rot, gold und grau … Wer hatte diese Fahne ausgebreitet?
Nun wusste ich, dass die DDR zum 50. Jahrestag der Gründung der UdSSR im Jahre 1972 die Gedenkstätte neu gestaltet und mit einem Museum ergänzt hatte, das dem Kommandostand von Marschall Shukow nachempfunden war, von dem aus er den Sturm auf die Seelower Höhen kommandiert hatte. Aber gab es diesen Weg damals schon? Ich konnte mich nicht entsinnen. Also recherchierte ich im Netz.
Und tatsächlich: Der Nebenweg war erst Jahre später vom Seelower Kreisbaubetrieb angelegt worden. Mit den gleichen Platten, die er bereits am Fuße des Denkmals verlegt hatte. Aber um deutlich zu machen, dass dieser Pfad nicht Teil der (später denkmalgeschützten) Anlage war, wurden die dort eingesetzten Platten farblich abgesetzt. Der Baubetrieb besorgte sich vom VEB Kali-Chemie Farbenfabrik Nerchau im Bezirk Leipzig einige Fässer, um die Farben dem Beton für die Platten unterzumischen. Nun ist nicht überliefert, ob es an Farbpigmenten mangelte oder an der Fantasie der Kreisbaubetriebler. Jedenfalls nahmen sie nur Gelb, Rot und Schwarz mit nach Seelow. Zunächst hieß es, sie sollten beim Verlegen flexibel sein, wie es in den siebziger Jahren modern war, also kreuz und quer, auf keinen Fall Bahnen. Das könnte als Fahne wahrgenommen werden, und eine Flagge tritt man nicht mit Füßen. »Wir haben damals die Betonplatten so verlegt, wie wir es für gut befunden haben. Da hat uns niemand groß reingeredet«, sagte Hubert Nowak 2017 der Lokalpresse. In den Siebzigern leitete er den Kreisbaubetrieb.
Nun waren Farbe und Beton wohl nicht der beste, beides verwitterte, und als nach fast einem halben Jahrhundert die Restaurierung der gesamten Gedenkstätte beschlossen wurde – natürlich den grauen Nebenweg eingeschlossen –, da erinnerte sich niemand mehr, wie der mal ausgesehen hatte. Aber die Bauarbeiter entdeckten, als sie die alten Platten entfernten, an deren Unterseite die ursprünglichen Farben. Und da sie von der Denkmalpflege die Auflage bekommen hatten, den ursprünglichen Zustand herzustellen, verlegten sie neue Steine in eben jenen drei Farben. Allerdings in Bahnen, weil sie die Historie und die Freiheit in der Diktatur beim Verlegen von Steinen nicht kannten. Nur die vierte Bahn ließen sie grau. Die deutsche Fahne ist schließlich eine Trikolore und nicht vierfarbig.
Die Maßnahme verursachte Tränen: beim brandenburgischen Landeskonservator Tränen der Entrüstung, beim bundesweiten Publikum Tränen der Heiterkeit. Der Konflikt zog nämlich durch die Presse, denn einerseits hatten sich die Bauarbeiter an die Vorgabe gehalten – andererseits hatte der Landeskonservator damit gemeint, dass der Fußweg wieder so grau werden sollte, wie er bei Beginn der Restaurierung war. So missverständlich kann Denkmalpflege mitunter sein, wenn unklar ist, was ursprünglich meint. Es gab eine große Runde mit allen Beteiligten beim Landrat, und virtuell saßen auch drei Spender mit am Tisch, die zusammen 45.000 Euro für den Weg auf den Weg gebracht hatten.
Das war im Frühjahr 2017. Seither hat man nichts wieder darüber gelesen oder gehört.
Ich stieg also unlängst am Ende des Wegs über die zweite Absperrung und wusste nun um deren eigentliche Bedeutung: Die beiden Ketten lösten das Problem, das augenscheinlich nicht gelöst worden war.
Beim nächsten Besuch werde ich wieder nach links abbiegen und diesen Weg meiden. Er existiert ja praktisch nicht.