Im Frühjahr 2020, zu Beginn der Corona-Krise, habe ich mich sehr schwergetan, mich in diese Problematik öffentlich einzumischen, Abwehrmaßnahmen bürgerrechtlich zu hinterfragen und Kritik zu üben – und zwar wegen der durchaus realen Befürchtung, am Ende als »Corona-Verharmloser« dazustehen, als unsolidarischer »Grundrechtsfreak« oder verantwortungsloser Freiheitsapostel. Geht es doch bei Corona, wie es immer wieder heißt, um nicht weniger als um »Leben und Tod«. Der moralische Druck und die Angst waren jedenfalls immens und wurden von Regierungsseite und auch massenmedial regelrecht forciert. Und so kam es, dass die übergroße Mehrheit der Bevölkerung den Lockdown und die ergriffenen staatlichen Abwehrmaßnahmen als »alternativlos« akzeptierte; dass viele Menschen, Verbände und auch die parlamentarische Opposition, einschließlich Linken und Grünen, den Regierungskurs allzu lange weitgehend mittrugen. Sie alle haben sich aus unterschiedlichen Gründen mit ihrer Kritik zurückgehalten und selbst unverhältnismäßige Grundrechtseingriffe nicht oder nur zögerlich hinterfragt – trotz dürftiger Datenlage, trotz mitunter widersprüchlicher und willkürlicher Maßnahmen, trotz anfänglicher verfassungswidriger Aushebelung der Versammlungsfreiheit, trotz Gesetzesverschärfungen im Eiltempo und ohne Expertenanhörung, trotz weiterer Verschiebung des politischen Machtgefüges zugunsten der Exekutive, trotz weiterer Entmachtung der Parlamente.. Und beinah täglich haben Bürger, Politiker, Virologen und Medien noch drastischere Einschränkungen gefordert.
Angesichts der erlebten Zurückhaltung oder auch Konfliktscheu fühlte ich mich schließlich doch regelrecht gedrängt, mit meinen skeptischen Gedanken und Thesen zum alptraumhaften Corona-Ausnahmezustand und zur »neuen Normalität« bürgerrechtliche Orientierung für eine offene, für eine kritische und kontroverse Debatte zu bieten (zunächst in Ossietzky, Nr. 8/2020). Wer sich ein Arbeitsleben lang mit der Gefährdung, Aushöhlung und Verletzung von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundprinzipien beschäftigt, darüber aufklärt und auf Abhilfe drängt, kann wohl schlecht den Umgang mit Grundrechten und demokratischen Prinzipien in der »Corona-Krise« unhinterfragt oder kritiklos hinnehmen, ohne sich unglaubwürdig zu machen. Zumal die gesellschaftliche Debatte – nicht zuletzt in den großen Medien – allzu lange unter Angst, Einseitigkeit und Konformitätsdruck gelitten hat, auch unter Diffamierung und Ausgrenzung. Diskussionskultur und Meinungsvielfalt haben in der Corona-Krise jedenfalls gehörig gelitten (wie übrigens aktuell auch angesichts des Ukrainekriegs) und sie leiden noch immer. Bei so viel immunschwächender, leicht manipulierbarer Angst sind Skepsis und kritisch-konstruktives Hinterfragen vermeintlicher Gewissheiten und exekutiv-autoritärer Verordnungen, die unser aller Leben stark durchdringen, nicht nur angezeigt, sondern dringend geboten. Ebenso wie die Überprüfung harter Grundrechtseingriffe auf Verhältnis- und Verfassungsmäßigkeit. Schließlich kennzeichnet das eine lebendige Demokratie – nicht nur in Schönwetterzeiten, sondern gerade in Zeiten großer Unsicherheit und Gefahren. Gefahren, die nicht nur aus einer, sondern aus unterschiedlichen Richtungen lauern; die nicht nur die Gegenwart, sondern in besonderem Maße auch unsere Zukunft und die unserer Nachkommen schwer belasten.
Denn das Corona-Virus gefährdet ja, wie seinerzeit schon ausgeführt, nicht allein Gesundheit und Leben von Menschen, sondern schädigt auch elementare Grund- und Freiheitsrechte, Rechtsstaat und Demokratie – und zwar »dank« jener gravierenden Corona-Abwehrmaßnahmen, die vornehmlich dem Ziel dienen sollten und sollen, das krank gesparte Gesundheitssystem vor dem Kollaps zu bewahren sowie Gesundheit und Leben zu schützen. Abwehrmaßnahmen, die jedoch gleichzeitig – wie noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik – tief in das alltägliche Leben aller Menschen eingreifen. Dabei verursachen sie schwerwiegende individuelle, familiäre, schulische, berufliche, gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Schäden und dramatische Langzeitfolgen, deren Ausmaß der Bundesrepublik Deutschland, ihrer Gesellschaft und ihren Bewohnern noch lange schwer zu schaffen machen wird. Es war der Historiker René Schlott, der davor warnte, die »offene Gesellschaft zu erwürgen, um sie zu retten«.
Die Justiz, die anfänglich die exekutiven Freiheitsbeschränkungen kaum infrage stellte, hat mittlerweile in zahlreichen Fällen staatliche Corona-Maßnahmen wegen Rechts- oder Verfassungswidrigkeit aufgehoben oder modifiziert. Allein das müsste zu denken geben. Im Laufe der Zeit mahnten die Gerichte mit Blick auf die jeweils aktuelle Corona-Infektionslage – die im Übrigen ebenfalls differenzierter als bislang beurteilt werden müsste – immer häufiger eine differenziertere Betrachtung und Behandlung des Einzelfalls an. Zu denken ist dabei etwa an Beherbergungsverbote und Quarantäne-Auflagen für Reisende aus inländischen Risikogebieten. Der »Bundesnotbremsen-Beschluss«, mit dem das Bundesverfassungsgericht im November 2021 (Az. 1 BvR 781/21) Kontakt- und selbst Ausgangsbeschränkungen in der »äußersten Gefahrenlage der Pandemie« mit dem Grundgesetz für vereinbar erklärte, lässt exekutiven Entscheidungen und Grundrechtsbeschränkungen hingegen einen überaus weiten und bedenklichen Gestaltungsraum.
Scheinbar in Vergessenheit geraten ist dabei: Auch soziale Verwerfungen und gesundheitliche Folgen (zum Beispiel in Altersheimen), die durch die Restriktionen unseres täglichen Lebens verursacht werden, müssen in eine verfassungsrechtlich gebotene Abwägung zwischen Freiheitsrechten, Gesundheit und Leben einbezogen werden. Denn das Grundgesetz kennt kein »Supergrundrecht Gesundheit«, das alle anderen Grundrechte in den Schatten stellt, genauso wenig wie ein »Supergrundrecht Sicherheit«. Auch die (Über-)Lebenschancen (in) einer Gesellschaft, insbesondere auch für sozial benachteiligte Menschen und Gruppen, sind bei Rechtsgüter-Abwägungen angemessen zu berücksichtigen. Gesundheitsschutz und Freiheitsrechte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, Menschenleben nicht gegen Menschenrechte.
Auch in Zeiten großer Gefahren und Angst muss man, um einen Gedanken Heribert Prantls (Süddeutsche Zeitung) aufzugreifen, nicht nur entschlossen gegen das Virus kämpfen, sondern auch gegen eine verhängnisvolle Stimmung, die in Krisenzeiten den demokratischen Rechtsstaat sowie Grund- und Bürgerrechte als Ballast, Bürde oder Luxus betrachtet und ziemlich bedenkenlos zur Disposition stellt. Diese Stimmung ist noch längst nicht überwunden.