»Er war ein Mann von Welt. Er stammte vom Lande«, schrieb der 1946 in Celle geborene und am 9. März dieses Jahres in Hamburg verstorbene Urheberrechtsanwalt und Schriftsteller Joachim Kersten. So charakterisierte er den dänischen Dichter Hermann Bang und beschrieb doch auch einen eigenen Grundzug. Kerstens Rückzugsort vom Hamburger Anwaltsbüro war seine vieltausend Bände umfassende, wohlgeordnete Privatbibliothek, die er sich in zwei niedersächsischen Dörfern, zuerst an der Örtze und dann an der Elbe aufgebaut hat. Ein Refugium, auch für Freunde, an beiden Orten. Celle hat er als seinen Geburtsort stets mit Liebe betrachtet, aber dennoch außerordentlich kritisch den braunen Filz »Hinter den Fassaden« bloßgelegt (1982 im Steidl Verlag, als Mitautor); der erste kritische Versuch einer Aufarbeitung der Celler Zustände nach 1945.
Um schreiben und teure Bücher erwerben zu können, wählte er den Beruf eines Anwalts. Diese Doppelfigur trug anfangs, neben dem bürgerlichen Namen, den Autorennamen Georg Eyring. Darunter finden sich seine ersten Veröffentlichungen. Eyring, so heißt der Ich-Erzähler in Wilhelm Raabes »Die Gänse von Bützow«. Allein diese Wahl gibt schon den Blick auf den Literaturenthusiasten und Buchsammler frei, der sich im Bändchen »Lose Blätter. Aus dem Tagebuch eines Büchernarren« (1997) selbst dokumentiert hat. Im Verlaufe der Jahre publizierte er nur noch unter seinem bürgerlichen Namen, das war ein wechselweise fließender Übergang. Er war alleiniger oder Mit-Herausgeber ausgewählter Werke u. a. von Victor Auburtin, Hermann Bang, Fritz Grasshoff, Johann Georg Keyßler, Karl Kraus, Klaus Mann, Ernst Schulze und Friedrich Sieburg.
Doch damit ist der Büchermensch Kersten, der Spezialist für Verlags- und Medienrecht, noch nicht hinreichend beschrieben. Er war ein brillant und formvollendet formulierender Autor, begeisterter Herausgeber und umsichtiger Nachlassverwalter, unermüdlicher Leser, Kenner des literarischen Lebens und ein Ermöglicher, der sich um fragile Lebenslagen von Dichtern kümmerte, begnadeter Vorleser, Vorstandsmitglied der Stiftung des Hamburger Instituts für Sozialforschung, der Arno Schmidt und Kurt Wolff Stiftung – und er war ein Freund, der sich den Freunden verschenken konnte. Das gehörte bei ihm alles zusammen. Zu seinem Glück wurde er auch noch ein später Familienvater, ein Lebensglück, das ihn noch einmal verwandelte.
Dass er vom Lande stammte, aus niedersächsischer Provinz, lässt sich hier und da an seinen kulinarischen Bemerkungen ablesen, wenn er in launigen Abschweifungen regional-rustikale Küche auftischt, ganz nach einem Motto Arno Schmidts: »Die Staatsform wechselt: die Boulette bleibt!« – und Kersten über »Magenfüller« und »Gaumenspieler« sinniert.
Über die Theorie des Übergangszustandes mit Joachim Kersten zu plaudern, die bekanntlich auf den Theoretiker Henry Eyring zurückgeht, die sogenannte Eyring-Theorie, dazu müsste Joachim zur Tür hereinkommen, um darüber eine halbe Nacht zwischen Ernst und Gelächter zu philosophieren. Doch Joachim Kersten hat das Zimmer verlassen. Eine Lungenentzündung hat ihm zuletzt den Atem genommen.