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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Briefe nach London

Die Hoff­nung stirbt zuletzt. Wie fühl­ten sich Men­schen, deren Hoff­nun­gen star­ben? Ange­sichts der Pogro­me und Flam­men der „Reichs­kri­stall­nacht”? Auf dem Weg in die Gas­kam­mern von Auschwitz?

Mar­ga­re­te Edel, die Mut­ter des spä­te­ren Schrift­stel­lers hat­te in Ber­lin als so genann­te »Arie­rin« den Krieg über­lebt. Ende 1945 erhielt sie einen Brief aus Lon­don. Han­na Schit­kow­ski, deren Schwe­ster ins War­schau­er Ghet­to gekom­men war, schrieb ihr: »Lei­der wird man nie erfah­ren, wie die­se armen Men­schen ihre Leben been­det haben.«

In den Lebens­we­gen der Ber­li­ner Fami­li­en Edel und Strauß offen­bart sich ledig­lich ein Bruch­teil des­sen, was sich wirk­lich voll­zog (s. auch »Könn­ten Stol­per­stei­ne reden«, Ossietzky 17/​2020).

Bei den Groß­el­tern Max und Eva Edel, Groß­on­kel und -tan­te des damals jun­gen Peter Edel, leb­te ihre Enke­lin Rose­ma­rie Noah. Die ver­zwei­fel­ten Bemü­hun­gen, Nazi-Deutsch­land zu ent­kom­men, wer­den in ihren Brie­fen aus Ber­lin nach Lon­don deut­lich. Ihre Freun­din konn­te noch recht­zei­tig emi­grie­ren. Durch die von der Brief­schrei­be­rin gewähl­te Form des Tage­buch­ein­trags wer­den die täg­li­chen Ver­än­de­run­gen in der emo­tio­na­len Gefühls­la­ge des Mäd­chens ein­drucks­voll ver­mit­telt. So schrieb sie: »… (ach, eben bim­melt das Tele­fon) Hur­ra!!! Mein Vater hat ange­ru­fen. Er hat das Affi­da­vit. Ich bekom­me meins dann auch in eini­ger Zeit. Ich bin see­lig. Aber sage das blos kei­nem. Bit­te, bit­te. Aber ich muss mich irgend­wie erleichtern.«

Nach den Aus­schrei­tun­gen, Über­grif­fen und Ver­haf­tun­gen wäh­rend des Novem­ber­po­groms 1938 notier­te sie: »In die­sem geseg­ne­ten Land wach­sen mir schon wei­ße Haa­re. Fen­ster zer­trüm­mert, Läden demo­liert usw. Ich darf nicht zur Schu­le gehen. Mei­ne Mut­ter hat Angst. Das rei­ne Ghet­to. Schreibt man das so? Ich bin ganz froh, dass ich mal mich aus­ru­hen kann.« Und in dem­sel­ben Brief noch: »Man kriegt kei­ne Ant­wort­schei­ne bis zum näch­sten Monat. Wegen des Atten­tats auf vom Rath. 1000000000 Mark Stra­fe haben die Juden bekom­men. Wie sol­len sie das auf­brin­gen? Alles ist ver­bo­ten wor­den. Selbst Kino. Es ist furcht­bar und gefähr­lich hier zu sein. Die Läden sind geplün­dert. In den Zei­tun­gen steht das Gegenteil.«

Rose Marie (Schreib­wei­se spä­ter Rose­ma­rie) kom­men­tier­te zum Bei­spiel die am 24. Novem­ber 1938 erlas­se­ne Ver­ord­nung, wel­che die Juden zur Annah­me der Zwangs­vor­na­men »Sara« bezie­hungs­wei­se »Isra­el« ver­pflich­te­te, so: »Mei­ne Mut­ter woll­te durch­aus nicht, dass ich Sara hei­ße und des­we­gen hat sie einen Antrag auf ›Bela‹ (ha, ha denkst Du) gestellt.« Und wei­ter: »Mei­ne Namens­än­de­rung ist abge­lehnt wor­den.« Die Kennt­lich­ma­chung ihrer Zuge­hö­rig­keit zum Juden­tum durch einen wei­te­ren Namen war für sie nicht vorstellbar.

Ihrer Mut­ter gelang am 17. April 1939 die Aus­rei­se nach Richmond/​Großbritannien, wo sie als Haus­mäd­chen eine Anstel­lung fand. Zum Abschied notier­te Rose Marie Noah: »Ich habe sie bis an den Flug­platz gebracht. Komi­scher­wei­se war ich gar nicht trau­rig und wir rech­ne­ten uns schon aus, wann wir uns wie­der­se­hen wür­den.« In einem wei­te­ren Brief wird jedoch ihre Angst spür­bar, und sie offen­bart ihrer Freun­din: »Wenn ich bloß bald nach Eng­land kom­men wür­de … Ich seh­ne mich schreck­lich nach Dir. Du wür­dest mich gar nicht wie­der­erken­nen, so habe ich mich in der letz­ten Zeit ver­än­dert. Ich mei­ne nicht äußer­lich, son­dern innerlich.«

So oder ähn­lich dürf­ten alle gefühlt haben. Auf den Trans­por­ten ins Unge­wis­se, trü­ge­risch von den Her­ren­men­schen als »Eva­ku­ie­rung« bezeich­net. Um ihr letz­tes Hab und Gut gebracht, pro for­ma als »deutsch« geführt, durch die Zwangs­vor­na­men ras­si­stisch als »Juden« verfemt.

Das Arol­sen-Archiv gilt als das umfas­send­ste Archiv zu etwa 17,5 Mil­lio­nen Opfern und Über­le­ben­den der Nazi-Dik­ta­tur. Es gehört zum Welt­do­ku­men­ten­er­be der UNESCO (https://collections.arolsen-archives.org/search/). Zu Lie­se­lot­te Hirsch­weh gibt es eine Per­so­nal­kar­te der Sie­mens-Schuckert­wer­ke Ber­lin. Der Name der Ehe­frau von Peter Hirsch­weh-Edel ist dar­auf noch mit Reich­mann ange­ge­ben. Bei­de waren beim »Ein­tritts­da­tum 12.5.41« zur Zwangs­ar­beit noch nicht ver­hei­ra­tet. Wei­ter wur­de unter ande­rem ver­merkt: »Natio­na­li­tät: Dtsch. Reich Jude. Masch. Arb. Ein­tritt 12.5.41, Aus­tritts­da­tum 2.43«. Eine wei­te­re Kar­tei­kar­te hielt für sie fest: »Reich­mann, Lie­se­lot­te o. Hirsch­weg o. Hirsch­weh – Relig. kei­ne Anga­be – Nat. dtsch. – Jan. 1943 Auschwitz/​Buna kam von Ber­lin-Neu­kölln«. Auf bei­den Kar­ten fin­det sich eine iden­ti­sche Num­mer: T/​D 433229. Die Ver­nich­tungs­bü­ro­kra­tie wuss­te sich nach außen zu tarnen.

Aus­tritts­da­tum 2.43 – der Beginn ihres Mar­ty­ri­ums. In Ausch­witz wur­de ihr Leben ausgelöscht.

 

Dem­nächst: »Wor­te eines Täters« und »Die Berei­che­rung«. Brief­zi­ta­te aus: Gud­run Mai­er­hof, Cha­na Schütz, Her­mann Simon (Hg.): »Aus Kin­dern wur­den Brie­fe. Die Ret­tung jüdi­scher Kin­der aus Nazi-Deutsch­land«, Metro­pol Ver­lag, Ber­lin 2004