The Pioneer Briefing vom 16. Juli 2024:
»Ungarn hat den EU-Ratsvorsitz übernommen – und schon startet Regierungschef Viktor Orbán eine außenpolitische Solo-Initiative. Er traf sich – ohne Beteiligung der EU-Kommissionspräsidentin – mit Putin, Xi, Selenskyj, Erdoğan und Trump. Das Ergebnis fasst er in einem 10-Punkte-Plan an den Europäischen Rat zusammen, der The Pioneer (…) vorliegt.
Fazit: Man muss Orbán nicht mögen. Aber seinen 10-Punkte-Plan sollte man im Detail kennen.
An den Präsidenten des Europäischen Rates
Budapest, den 12. Juli 2024
Sehr geehrter Herr Präsident,
nachstehend finden Sie eine zusammenfassende Bewertung meiner jüngsten Gespräche mit den Staats- und Regierungschefs der Ukraine, Russland, China, der Türkei und Präsident Donald J. Trump, sowie einige Vorschläge, die Sie berücksichtigen sollten.
- Es lässt sich feststellen, dass die Intensität des militärischen Konflikts in naher Zukunft radikal eskalieren wird.
- Ich habe persönlich erlebt, dass die Kriegsparteien entschlossen sind, sich immer tiefer in den Konflikt zu verstricken, und keine der beiden Parteien möchte die Initiative für einen Waffenstillstand oder Friedensverhandlungen ergreifen. Daher können wir davon ausgehen, dass die Spannungen nicht abnehmen werden und die Parteien nicht nach einem Ausweg aus dem Konflikt suchen werden, ohne dass es zu einer nennenswerten Beteiligung von außen kommt.
- Es gibt drei globale Akteure, die in der Lage sind, die Entwicklungen zu beeinflussen: die Europäische Union, die Vereinigten Staaten und China. Wir müssen auch die Türkei einbeziehen – als wichtige regionale Macht und als einzige erfolgreiche Vermittlerin zwischen der Ukraine und Russland seit dem Ausbruch der Feindseligkeiten 2022.
- China wird seine auch in internationalen Dokumenten formulierte Politik für einen Waffenstillstand und Friedensgespräche fortsetzen. Allerdings wird China nur dann eine aktivere Rolle spielen, wenn die Erfolgsaussichten eines Engagements nahezu sicher sind. Nach seiner Einschätzung ist dies gegenwärtig nicht der Fall.
- Was die Vereinigten Staaten betrifft, so habe ich auf dem Nato-Gipfel und bei meinen Gesprächen mit Präsident Trump erfahren, dass die USA im Moment sehr mit dem Präsidentschaftswahlkampf beschäftigt sind. Der amtierende Präsident unternimmt immense Anstrengungen, um im Rennen zu bleiben. Es ist offensichtlich, dass er nicht in der Lage ist, die derzeitige Pro-Kriegs-Politik der USA zu ändern, daher ist eine neue Politik nicht zu erwarten. Wie wir in den letzten Jahren immer wieder gesehen haben, wird in solchen Situationen die Bürokratie ohne politische Führung weiter den bisherigen Weg fortsetzen.
- In meinen Gesprächen mit Präsident Trump bin ich zu dem Schluss gekommen, dass die Außenpolitik nur eine kleine Rolle in seinem Wahlkampf spielen wird, der von innenpolitischen Fragen dominiert wird. Daher können wir bis zu den Wahlen keine Friedensinitiative von ihm erwarten. Ich kann jedoch mit Sicherheit sagen, dass er nach dem Wahlsieg nicht bis zu seinem Amtsantritt warten wird, sondern bereit sein wird, sofort als Friedensvermittler zu fungieren. Dafür hat er detaillierte und fundierte Pläne.
- bin mehr als überzeugt, dass im wahrscheinlichen Fall eines Sieges von Präsident Trump das Verhältnis der finanziellen Belastung zwischen den USA und der EU zuungunsten der EU verändern wird, wenn es um die finanzielle Unterstützung der Ukraine geht.
- Unsere europäische Strategie im Namen der transatlantischen Einheit hat die Pro-Kriegspolitik der USA kopiert. Wir hatten bisher keine souveräne und unabhängige europäische Strategie oder einen politischen Aktionsplan. Ich schlage vor, darüber zu diskutieren, ob die Fortsetzung dieser Politik in Zukunft sinnvoll ist. In der gegenwärtigen Situation können wir eine Möglichkeit finden, mit einer starken moralischen und rationalen Basis ein neues Kapitel in unserer Politik aufzuschlagen. In diesem neuen Kapitel könnten wir Anstrengungen unternehmen, um die Spannungen abzubauen und/oder die Voraussetzungen für einen vorübergehenden Waffenstillstand zu schaffen und/oder Friedensverhandlungen zu beginnen.
- Ich schlage vor, eine Diskussion über die folgenden Vorschläge einzuleiten:
- der Start einer Initiative für politische Gespräche auf hoher Ebene mit China über die Modalitäten der nächsten Friedenskonferenz;
- unter Beibehaltung der derzeitigen hochrangigen politischen Kontakte mit der Ukraine die gleichzeitige Wiedereröffnung direkter diplomatischer Kommunikationswege mit Russland, und die Wiederbelebung solcher direkten Kontakte in unserer politischen Kommunikation;
- die Einleitung einer koordinierten politischen Offensive gegenüber dem globalen Süden, dessen Wertschätzung wir wegen unserer Position zum Krieg in der Ukraine verloren haben, was zu einer globalen Isolierung der transatlantischen Gemeinschaft führt.
- Ich hoffe, dass meine Berichte und Anregungen ein nützlicher Beitrag zu möglichen Vorschlägen und Initiativen sein werden, die Sie den Staats- und Regierungschefs der EU bei geeignetem Anlass und in einer angemessenen Form vorlegen werden.
Mit freundlichen Grüßen,
Viktor ORBÁN