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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Brief von Viktor Orbán an die EU (aus der Presse)

The Pio­neer Brie­fing vom 16. Juli 2024:

»Ungarn hat den EU-Rats­vor­sitz über­nom­men – und schon star­tet Regie­rungs­chef Vik­tor Orbán eine außen­po­li­ti­sche Solo-Initia­ti­ve. Er traf sich – ohne Betei­li­gung der EU-Kom­mis­si­ons­prä­si­den­tin – mit Putin, Xi, Selen­skyj, Erdoğan und Trump. Das Ergeb­nis fasst er in einem 10-Punk­te-Plan an den Euro­päi­schen Rat zusam­men, der The Pio­neer (…) vorliegt.

Fazit: Man muss Orbán nicht mögen. Aber sei­nen 10-Punk­te-Plan soll­te man im Detail kennen.

An den Prä­si­den­ten des Euro­päi­schen Rates

Buda­pest, den 12. Juli 2024

Sehr geehr­ter Herr Präsident,

nach­ste­hend fin­den Sie eine zusam­men­fas­sen­de Bewer­tung mei­ner jüng­sten Gesprä­che mit den Staats- und Regie­rungs­chefs der Ukrai­ne, Russ­land, Chi­na, der Tür­kei und Prä­si­dent Donald J. Trump, sowie eini­ge Vor­schlä­ge, die Sie berück­sich­ti­gen sollten.

  1. Es lässt sich fest­stel­len, dass die Inten­si­tät des mili­tä­ri­schen Kon­flikts in naher Zukunft radi­kal eska­lie­ren wird.
  2. Ich habe per­sön­lich erlebt, dass die Kriegs­par­tei­en ent­schlos­sen sind, sich immer tie­fer in den Kon­flikt zu ver­stricken, und kei­ne der bei­den Par­tei­en möch­te die Initia­ti­ve für einen Waf­fen­still­stand oder Frie­dens­ver­hand­lun­gen ergrei­fen. Daher kön­nen wir davon aus­ge­hen, dass die Span­nun­gen nicht abneh­men wer­den und die Par­tei­en nicht nach einem Aus­weg aus dem Kon­flikt suchen wer­den, ohne dass es zu einer nen­nens­wer­ten Betei­li­gung von außen kommt.
  3. Es gibt drei glo­ba­le Akteu­re, die in der Lage sind, die Ent­wick­lun­gen zu beein­flus­sen: die Euro­päi­sche Uni­on, die Ver­ei­nig­ten Staa­ten und Chi­na. Wir müs­sen auch die Tür­kei ein­be­zie­hen – als wich­ti­ge regio­na­le Macht und als ein­zi­ge erfolg­rei­che Ver­mitt­le­rin zwi­schen der Ukrai­ne und Russ­land seit dem Aus­bruch der Feind­se­lig­kei­ten 2022.
  4. Chi­na wird sei­ne auch in inter­na­tio­na­len Doku­men­ten for­mu­lier­te Poli­tik für einen Waf­fen­still­stand und Frie­dens­ge­sprä­che fort­set­zen. Aller­dings wird Chi­na nur dann eine akti­ve­re Rol­le spie­len, wenn die Erfolgs­aus­sich­ten eines Enga­ge­ments nahe­zu sicher sind. Nach sei­ner Ein­schät­zung ist dies gegen­wär­tig nicht der Fall.
  5. Was die Ver­ei­nig­ten Staa­ten betrifft, so habe ich auf dem Nato-Gip­fel und bei mei­nen Gesprä­chen mit Prä­si­dent Trump erfah­ren, dass die USA im Moment sehr mit dem Prä­si­dent­schafts­wahl­kampf beschäf­tigt sind. Der amtie­ren­de Prä­si­dent unter­nimmt immense Anstren­gun­gen, um im Ren­nen zu blei­ben. Es ist offen­sicht­lich, dass er nicht in der Lage ist, die der­zei­ti­ge Pro-Kriegs-Poli­tik der USA zu ändern, daher ist eine neue Poli­tik nicht zu erwar­ten. Wie wir in den letz­ten Jah­ren immer wie­der gese­hen haben, wird in sol­chen Situa­tio­nen die Büro­kra­tie ohne poli­ti­sche Füh­rung wei­ter den bis­he­ri­gen Weg fortsetzen.
  6. In mei­nen Gesprä­chen mit Prä­si­dent Trump bin ich zu dem Schluss gekom­men, dass die Außen­po­li­tik nur eine klei­ne Rol­le in sei­nem Wahl­kampf spie­len wird, der von innen­po­li­ti­schen Fra­gen domi­niert wird. Daher kön­nen wir bis zu den Wah­len kei­ne Frie­dens­in­itia­ti­ve von ihm erwar­ten. Ich kann jedoch mit Sicher­heit sagen, dass er nach dem Wahl­sieg nicht bis zu sei­nem Amts­an­tritt war­ten wird, son­dern bereit sein wird, sofort als Frie­dens­ver­mitt­ler zu fun­gie­ren. Dafür hat er detail­lier­te und fun­dier­te Pläne.
  7. bin mehr als über­zeugt, dass im wahr­schein­li­chen Fall eines Sie­ges von Prä­si­dent Trump das Ver­hält­nis der finan­zi­el­len Bela­stung zwi­schen den USA und der EU zuun­gun­sten der EU ver­än­dern wird, wenn es um die finan­zi­el­le Unter­stüt­zung der Ukrai­ne geht.
  8. Unse­re euro­päi­sche Stra­te­gie im Namen der trans­at­lan­ti­schen Ein­heit hat die Pro-Kriegs­po­li­tik der USA kopiert. Wir hat­ten bis­her kei­ne sou­ve­rä­ne und unab­hän­gi­ge euro­päi­sche Stra­te­gie oder einen poli­ti­schen Akti­ons­plan. Ich schla­ge vor, dar­über zu dis­ku­tie­ren, ob die Fort­set­zung die­ser Poli­tik in Zukunft sinn­voll ist. In der gegen­wär­ti­gen Situa­ti­on kön­nen wir eine Mög­lich­keit fin­den, mit einer star­ken mora­li­schen und ratio­na­len Basis ein neu­es Kapi­tel in unse­rer Poli­tik auf­zu­schla­gen. In die­sem neu­en Kapi­tel könn­ten wir Anstren­gun­gen unter­neh­men, um die Span­nun­gen abzu­bau­en und/​oder die Vor­aus­set­zun­gen für einen vor­über­ge­hen­den Waf­fen­still­stand zu schaf­fen und/​oder Frie­dens­ver­hand­lun­gen zu beginnen.
  9. Ich schla­ge vor, eine Dis­kus­si­on über die fol­gen­den Vor­schlä­ge einzuleiten: 
  10. der Start einer Initia­ti­ve für poli­ti­sche Gesprä­che auf hoher Ebe­ne mit Chi­na über die Moda­li­tä­ten der näch­sten Friedenskonferenz; 
  11. unter Bei­be­hal­tung der der­zei­ti­gen hoch­ran­gi­gen poli­ti­schen Kon­tak­te mit der Ukrai­ne die gleich­zei­ti­ge Wie­der­eröff­nung direk­ter diplo­ma­ti­scher Kom­mu­ni­ka­ti­ons­we­ge mit Russ­land, und die Wie­der­be­le­bung sol­cher direk­ten Kon­tak­te in unse­rer poli­ti­schen Kommunikation;
  12. die Ein­lei­tung einer koor­di­nier­ten poli­ti­schen Offen­si­ve gegen­über dem glo­ba­len Süden, des­sen Wert­schät­zung wir wegen unse­rer Posi­ti­on zum Krieg in der Ukrai­ne ver­lo­ren haben, was zu einer glo­ba­len Iso­lie­rung der trans­at­lan­ti­schen Gemein­schaft führt.
  13. Ich hof­fe, dass mei­ne Berich­te und Anre­gun­gen ein nütz­li­cher Bei­trag zu mög­li­chen Vor­schlä­gen und Initia­ti­ven sein wer­den, die Sie den Staats- und Regie­rungs­chefs der EU bei geeig­ne­tem Anlass und in einer ange­mes­se­nen Form vor­le­gen werden.

Mit freund­li­chen Grüßen,

Vik­tor ORBÁN

 

Ausgabe 15.16/2024