Brief an ehemalige Freunde
Wir waren uns nahe. Unsere Freundschaft wuchs aus gemeinsamen Überzeugungen und Zielen in einem politischen Kampf, für den wir vieles zu wagen und zu opfern bereit waren. Jetzt stehen wir uns plötzlich mit Grimm gegenüber, fast wie Feinde. Oder gehen uns aus dem Weg, denn eine Verständigung ist nicht möglich. Über eine politische Meinungsverschiedenheit geht es beim Streit über den Krieg in der Ukraine weit hinaus. Unverständnis mischt sich mit Enttäuschung und dem Gefühl, Freunde verloren zu haben.
Zwar können wir uns noch treffen bei der Verurteilung des Angriffs Russlands, ähnlich empfinden über das gegenseitige Töten, das Leiden und die Angst der Menschen in der Ukraine. Wir teilen das Verständnis für den Hass der Angegriffenen und ihren Willen, sich gegen die russische Kriegsmaschinerie zur Wehr zu setzen. Aber darüber hinaus: vermintes Gelände.
Im Kern geht es um meine Überzeugung: Der Krieg hätte vermieden werden können – hätte der Westen die legitimen Sicherheitsinteressen Russlands nicht gezielt und in voller Absicht missachtet. Das Ziel: »Overextending and Unbalancing Russia«, wie die Rand Corporation 2019 der US-Regierung empfahl. Während sogar bürgerliche Prominente vor dieser gefährlichen Provokation warnten (»Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!« vom 5. Dezember 2014!), habt ihr die Strategie der USA und der Nato gegenüber Russland und der Ukraine einfach nicht zur Kenntnis genommen.
Wenn ich euch über die Notwendigkeit von Waffenlieferungen und den Sieg über Putin reden höre, bin ich fassungslos: Woher nehmt ihr das Vertrauen zu einem Staat, der erklärtermaßen die einzige Weltmacht sein und mit allen Mitteln bleiben will? Zu einem Militärbündnis, das nicht Frieden sichert, sondern Kriege schafft? In einer grotesken Umkehrung projiziert ihr jetzt alle Lügen und Kriege und menschenverachtende Praktiken des Aushungerns, der Ausbeutung, der Destabilisierung, des Regime Change, der Folter und der extralegalen Tötungen von Bush, Obama, Hillary Clinton, Trump, der Neocons etc. auf Putin: Das ist nicht geschichtsvergessen, verletzt nicht nur jede intellektuelle Redlichkeit – das ist eine Form der Verleugnung, die nicht rational zu fassen ist.
Nutzlos, auf Brzezinskis Plan für die Weltherrschaft der USA und all die Gräueltaten im Irak, Syrien, Libyen aufzuzählen, die halbe Million toter Kinder im Irak, die Frau Albright so salopp zu opfern bereit war, auf Boltons Wahlversprechen, den Sieg über Iran demnächst in Teheran zu feiern etc. hinzuweisen – ihr wisst Bescheid. Aber all das hat eure Einstellung genauso wenig verändert, wie das Massaker in Odessa, die Milliarden Dollar für Putsch und Krieg in der Ukraine, die verlogenen Minsker Verträge, die einzuhalten weder Poroschenko noch Merkel gedachten, oder die zynischen, menschenverachtenden Äußerungen der vom Westen gehätschelten Timoschenko und Poroschenko gegenüber Russen in der Ukraine. Wie könnt ihr all dieses Wissen verdrängen?
Der hegemoniale Anspruch des Westens zielt nicht zuletzt auf Köpfe und Herzen – mit Erfolg: Cognitive Warfare. Ihr schaut Tagesschau, Anne Will und Markus Lanz, lest die taz und die Zeit und fühlt euch gut informiert. Früher hättet ihr gelacht über so viel Naivität und gefragt: Noch nie von Machtelite und von der Funktion der Medien in einer Klassengesellschaft gehört? Wie ertragt ihr die Hassprediger wie Melnyk und Strack-Zimmermann und Hofreiter, diese Lobbyisten des Todes, mit ihrer unentwegten Hetze? Die absolut einseitigen Nachrichten und Kommentare der »Vierten Gewalt«, die zur Nato-Pressestelle mutiert und zum Sprachrohr der Regierung? Allem Anschein nach lebt ihr nach dem Prinzip: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Denn ihr seid endgültig angekommen in dieser kapitalistischen Gesellschaft, profitiert von ihr und besänftigt den Rest von schlechtem Gewissen durch Identifikation mit der Propaganda der »Guten«. Endlich habt ihr ein klares Feindbild und müsst nicht die Verbrechen des Systems verdrängen, zu dessen wichtigsten Stützen ihr geworden seid. Stattdessen zeigt ihr vollen Einsatz für Gendern und Identitätspolitik. Eure Moral ist nicht nur selektiv, sondern durch und durch heuchlerisch.
Habt ihr euren kritisch-demokratischen Anspruch aufgegeben? An politischen Aktionen beteiligt ihr euch ohnehin nicht mehr. Ihr habt das Agieren an die Instanzen delegiert, die ihr früher radikal kritisiert, ihre Legitimation in Frage gestellt habt: an den Staat mit seinen Institutionen und an die Systemparteien. Endlich könnt ihr euch an der Seite der Starken und Guten ausruhen. An diesem Platz werden wir uns nicht begegnen.
Ein grauenhafter Krieg in der Ukraine – übrigens seit vielen Jahren, in denen nichts von euch zu hören war. Ausbeutung eines Landes durch IWF und Konzerne, verbunden mit Oligarchenherrschaft und Korruption – ihr habt geschwiegen. Jetzt die Zerstörung aller menschlichen Werte, Menschen, die geschickt werden, zu töten und zu sterben. Aber ich frage euch: Wo war euer Entsetzen, wenn ihr von den Kriegen und Zerstörungen und Toten und Gräueltaten der letzten zwanzig Jahre »all over the world« gehört habt? Wie kann euer Mitleid so selektiv sein? Habt ihr da auch für Wirtschaftssanktionen gegen die Aggressoren plädiert, gar Waffenlieferungen, den Ausschluss ihrer Künstler und Sportler gefordert, ihre Politiker isoliert und ihre Oligarchen enteignet? Ihr hättet viel zu tun gehabt. Macht euch diese Zeitenwende keine Angst? Wir wissen inzwischen alles über Kaliber und Reichweite des Leopard-2, aber nichts über Konfliktvermeidung und Konfliktlösung. Kinder wachsen derzeit mit Feindbildern auf und lernen, dass bei Streit Reden zwecklos und Gewalt das einzig Vernünftige ist. Sich in den anderen hineinversetzen? Gegenseitige Sicherheitsbedürfnisse respektieren? Gefährlich!
Enttäuschung, sogar Trauer: Ja, ich vermisse euch, gerade jetzt, wenn ich in dieser Atmosphäre von Hass und Lüge und Heuchelei und Kriegshetze besonders stark auf Mitdenker und Mitstreiter angewiesen wäre. Ich habe keine Hoffnung, dass wir uns wieder in gemeinsamen Einsätzen gegen hegemoniale Ansprüche, Militarismus und Neokolonialismus treffen. In eurem selbstgefälligen Schwarz-Weiß- und Freund-Feind-Enthusiasmus fühle ich mich deplatziert. Ich sehe euch in einer selektiven Empathie nicht moralisch handeln, sondern moralisieren.
Manchmal finde ich mit meinen Befürchtungen und Ängsten Resonanz – bei euch schon länger nicht mehr. Ich fühle mich nicht mehr so isoliert, wenn mir eine Unbekannte von einer Hochschule auf einen offenen Brief von mir antwortet: »Ich bin entsetzt über die weiteren Eskalationen von allen Seiten, über die Kriegsbegeisterung in den Medien und die konstante Abwertung aller gewaltdeeskalierenden Stimmen, die quasi-religiöse Verklärung der ukrainischen Streitkräfte zu Verteidigern ›europäischer Werte‹, die Verkennung der Tatsache, dass es auch unter den ukrainischen Soldaten, die subjektiv meinen, für eine gerechte Sache zu kämpfen, unzählige PTBS Fälle und Suizide geben wird, über die Ignoranz, die Feindbilder, den Militarismus in ganz Westeuropa, über die Nachricht, wie durch die Einmischungen aus Großbritannien und den USA ein schon weit gediehener Verhandlungsstand im Frühjahr 2022 zunichte gemacht wurde – und über vieles, vieles mehr.« Vielleicht sind diese Menschen neue Verbündete und Freunde.