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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Brief an ehemalige Freunde

Wir waren uns nahe. Unse­re Freund­schaft wuchs aus gemein­sa­men Über­zeu­gun­gen und Zie­len in einem poli­ti­schen Kampf, für den wir vie­les zu wagen und zu opfern bereit waren. Jetzt ste­hen wir uns plötz­lich mit Grimm gegen­über, fast wie Fein­de. Oder gehen uns aus dem Weg, denn eine Ver­stän­di­gung ist nicht mög­lich. Über eine poli­ti­sche Mei­nungs­ver­schie­den­heit geht es beim Streit über den Krieg in der Ukrai­ne weit hin­aus. Unver­ständ­nis mischt sich mit Ent­täu­schung und dem Gefühl, Freun­de ver­lo­ren zu haben.

Zwar kön­nen wir uns noch tref­fen bei der Ver­ur­tei­lung des Angriffs Russ­lands, ähn­lich emp­fin­den über das gegen­sei­ti­ge Töten, das Lei­den und die Angst der Men­schen in der Ukrai­ne. Wir tei­len das Ver­ständ­nis für den Hass der Ange­grif­fe­nen und ihren Wil­len, sich gegen die rus­si­sche Kriegs­ma­schi­ne­rie zur Wehr zu set­zen. Aber dar­über hin­aus: ver­min­tes Gelände.

Im Kern geht es um mei­ne Über­zeu­gung: Der Krieg hät­te ver­mie­den wer­den kön­nen – hät­te der Westen die legi­ti­men Sicher­heits­in­ter­es­sen Russ­lands nicht gezielt und in vol­ler Absicht miss­ach­tet. Das Ziel: »Over­ex­ten­ding and Unba­lan­cing Rus­sia«, wie die Rand Cor­po­ra­ti­on 2019 der US-Regie­rung emp­fahl. Wäh­rend sogar bür­ger­li­che Pro­mi­nen­te vor die­ser gefähr­li­chen Pro­vo­ka­ti­on warn­ten (»Wie­der Krieg in Euro­pa? Nicht in unse­rem Namen!« vom 5. Dezem­ber 2014!), habt ihr die Stra­te­gie der USA und der Nato gegen­über Russ­land und der Ukrai­ne ein­fach nicht zur Kennt­nis genommen.

Wenn ich euch über die Not­wen­dig­keit von Waf­fen­lie­fe­run­gen und den Sieg über Putin reden höre, bin ich fas­sungs­los: Woher nehmt ihr das Ver­trau­en zu einem Staat, der erklär­ter­ma­ßen die ein­zi­ge Welt­macht sein und mit allen Mit­teln blei­ben will? Zu einem Mili­tär­bünd­nis, das nicht Frie­den sichert, son­dern Krie­ge schafft? In einer gro­tes­ken Umkeh­rung pro­ji­ziert ihr jetzt alle Lügen und Krie­ge und men­schen­ver­ach­ten­de Prak­ti­ken des Aus­hun­gerns, der Aus­beu­tung, der Desta­bi­li­sie­rung, des Regime Chan­ge, der Fol­ter und der extra­le­ga­len Tötun­gen von Bush, Oba­ma, Hil­la­ry Clin­ton, Trump, der Neo­cons etc. auf Putin: Das ist nicht geschichts­ver­ges­sen, ver­letzt nicht nur jede intel­lek­tu­el­le Red­lich­keit – das ist eine Form der Ver­leug­nung, die nicht ratio­nal zu fas­sen ist.

Nutz­los, auf Brze­zinskis Plan für die Welt­herr­schaft der USA und all die Gräu­el­ta­ten im Irak, Syri­en, Liby­en auf­zu­zäh­len, die hal­be Mil­li­on toter Kin­der im Irak, die Frau Alb­right so salopp zu opfern bereit war, auf Bol­tons Wahl­ver­spre­chen, den Sieg über Iran dem­nächst in Tehe­ran zu fei­ern etc. hin­zu­wei­sen – ihr wisst Bescheid. Aber all das hat eure Ein­stel­lung genau­so wenig ver­än­dert, wie das Mas­sa­ker in Odes­sa, die Mil­li­ar­den Dol­lar für Putsch und Krieg in der Ukrai­ne, die ver­lo­ge­nen Mins­ker Ver­trä­ge, die ein­zu­hal­ten weder Poro­schen­ko noch Mer­kel gedach­ten, oder die zyni­schen, men­schen­ver­ach­ten­den Äuße­run­gen der vom Westen gehät­schel­ten Timo­schen­ko und Poro­schen­ko gegen­über Rus­sen in der Ukrai­ne. Wie könnt ihr all die­ses Wis­sen verdrängen?

Der hege­mo­nia­le Anspruch des Westens zielt nicht zuletzt auf Köp­fe und Her­zen – mit Erfolg: Cogni­ti­ve War­fa­re. Ihr schaut Tages­schau, Anne Will und Mar­kus Lanz, lest die taz und die Zeit und fühlt euch gut infor­miert. Frü­her hät­tet ihr gelacht über so viel Nai­vi­tät und gefragt: Noch nie von Macht­eli­te und von der Funk­ti­on der Medi­en in einer Klas­sen­ge­sell­schaft gehört? Wie ertragt ihr die Hass­pre­di­ger wie Mel­nyk und Strack-Zim­mer­mann und Hof­rei­ter, die­se Lob­by­isten des Todes, mit ihrer unent­weg­ten Het­ze? Die abso­lut ein­sei­ti­gen Nach­rich­ten und Kom­men­ta­re der »Vier­ten Gewalt«, die zur Nato-Pres­se­stel­le mutiert und zum Sprach­rohr der Regie­rung? Allem Anschein nach lebt ihr nach dem Prin­zip: Das Sein bestimmt das Bewusst­sein. Denn ihr seid end­gül­tig ange­kom­men in die­ser kapi­ta­li­sti­schen Gesell­schaft, pro­fi­tiert von ihr und besänf­tigt den Rest von schlech­tem Gewis­sen durch Iden­ti­fi­ka­ti­on mit der Pro­pa­gan­da der »Guten«. End­lich habt ihr ein kla­res Feind­bild und müsst nicht die Ver­bre­chen des Systems ver­drän­gen, zu des­sen wich­tig­sten Stüt­zen ihr gewor­den seid. Statt­des­sen zeigt ihr vol­len Ein­satz für Gen­dern und Iden­ti­täts­po­li­tik. Eure Moral ist nicht nur selek­tiv, son­dern durch und durch heuchlerisch.

Habt ihr euren kri­tisch-demo­kra­ti­schen Anspruch auf­ge­ge­ben? An poli­ti­schen Aktio­nen betei­ligt ihr euch ohne­hin nicht mehr. Ihr habt das Agie­ren an die Instan­zen dele­giert, die ihr frü­her radi­kal kri­ti­siert, ihre Legi­ti­ma­ti­on in Fra­ge gestellt habt: an den Staat mit sei­nen Insti­tu­tio­nen und an die System­par­tei­en. End­lich könnt ihr euch an der Sei­te der Star­ken und Guten aus­ru­hen. An die­sem Platz wer­den wir uns nicht begegnen.

Ein grau­en­haf­ter Krieg in der Ukrai­ne – übri­gens seit vie­len Jah­ren, in denen nichts von euch zu hören war. Aus­beu­tung eines Lan­des durch IWF und Kon­zer­ne, ver­bun­den mit Olig­ar­chen­herr­schaft und Kor­rup­ti­on – ihr habt geschwie­gen. Jetzt die Zer­stö­rung aller mensch­li­chen Wer­te, Men­schen, die geschickt wer­den, zu töten und zu ster­ben. Aber ich fra­ge euch: Wo war euer Ent­set­zen, wenn ihr von den Krie­gen und Zer­stö­run­gen und Toten und Gräu­el­ta­ten der letz­ten zwan­zig Jah­re »all over the world« gehört habt? Wie kann euer Mit­leid so selek­tiv sein? Habt ihr da auch für Wirt­schafts­sank­tio­nen gegen die Aggres­so­ren plä­diert, gar Waf­fen­lie­fe­run­gen, den Aus­schluss ihrer Künst­ler und Sport­ler gefor­dert, ihre Poli­ti­ker iso­liert und ihre Olig­ar­chen ent­eig­net? Ihr hät­tet viel zu tun gehabt. Macht euch die­se Zei­ten­wen­de kei­ne Angst? Wir wis­sen inzwi­schen alles über Kali­ber und Reich­wei­te des Leo­pard-2, aber nichts über Kon­flikt­ver­mei­dung und Kon­flikt­lö­sung. Kin­der wach­sen der­zeit mit Feind­bil­dern auf und ler­nen, dass bei Streit Reden zweck­los und Gewalt das ein­zig Ver­nünf­ti­ge ist. Sich in den ande­ren hin­ein­ver­set­zen? Gegen­sei­ti­ge Sicher­heits­be­dürf­nis­se respek­tie­ren? Gefährlich!

Ent­täu­schung, sogar Trau­er: Ja, ich ver­mis­se euch, gera­de jetzt, wenn ich in die­ser Atmo­sphä­re von Hass und Lüge und Heu­che­lei und Kriegs­het­ze beson­ders stark auf Mit­den­ker und Mit­strei­ter ange­wie­sen wäre. Ich habe kei­ne Hoff­nung, dass wir uns wie­der in gemein­sa­men Ein­sät­zen gegen hege­mo­nia­le Ansprü­che, Mili­ta­ris­mus und Neo­ko­lo­nia­lis­mus tref­fen. In eurem selbst­ge­fäl­li­gen Schwarz-Weiß- und Freund-Feind-Enthu­si­as­mus füh­le ich mich deplat­ziert. Ich sehe euch in einer selek­ti­ven Empa­thie nicht mora­lisch han­deln, son­dern moralisieren.

Manch­mal fin­de ich mit mei­nen Befürch­tun­gen und Äng­sten Reso­nanz – bei euch schon län­ger nicht mehr. Ich füh­le mich nicht mehr so iso­liert, wenn mir eine Unbe­kann­te von einer Hoch­schu­le auf einen offe­nen Brief von mir ant­wor­tet: »Ich bin ent­setzt über die wei­te­ren Eska­la­tio­nen von allen Sei­ten, über die Kriegs­be­gei­ste­rung in den Medi­en und die kon­stan­te Abwer­tung aller gewalt­de­es­ka­lie­ren­den Stim­men, die qua­si-reli­giö­se Ver­klä­rung der ukrai­ni­schen Streit­kräf­te zu Ver­tei­di­gern ›euro­päi­scher Wer­te‹, die Ver­ken­nung der Tat­sa­che, dass es auch unter den ukrai­ni­schen Sol­da­ten, die sub­jek­tiv mei­nen, für eine gerech­te Sache zu kämp­fen, unzäh­li­ge PTBS Fäl­le und Sui­zi­de geben wird, über die Igno­ranz, die Feind­bil­der, den Mili­ta­ris­mus in ganz West­eu­ro­pa, über die Nach­richt, wie durch die Ein­mi­schun­gen aus Groß­bri­tan­ni­en und den USA ein schon weit gedie­he­ner Ver­hand­lungs­stand im Früh­jahr 2022 zunich­te gemacht wur­de – und über vie­les, vie­les mehr.« Viel­leicht sind die­se Men­schen neue Ver­bün­de­te und Freunde.