Mit 432 zu 202 Stimmen lehnte am 15. Januar das britische Unterhaus das von der Regierung May ausgehandelte Austrittsabkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union ab. Das sofort nach dieser Niederlage vom Labour-Oppositionsführer Jeremy Corbyn eingereichte Misstrauensvotum aber hat Theresa May überstanden und will nun (nach Ossietzky-Redaktionsschluss) einen Plan vorlegen, wie das weitere Austrittsverfahren gestaltet werden soll.
In den deutschen Medien werden die erregt sowohl im britischen Parlament als auch auf den Straßen des Vereinigten Königreichs geführten Debatten überwiegend als Chaos wahrgenommen – oft mit dem Unterton: Die spinnen, die Briten. Die vom damaligen Premier David Cameron angeordnete Abstimmung des britischen Staatsvolks wird weithin als geistiger Ausraster, als Panne angesehen, durch welche die Industrie- und Finanzwelt der britischen Inseln gegen ihren Willen von einem dumpfbackigen Volk gezwungen worden sei, wider alle ökonomische Vernunft den gemeinsamen europäischen Markt zu verlassen. Die seitdem stattfindenden Manöver werden als ein wirrer Zickzack-Kurs dargestellt, dem keine innere Logik und schon gar kein vernünftiger Plan zugrunde liegt.
Was, wenn wir nur einen kleinen Moment zwei Grundannahmen tätigen, um das vermeintliche Durcheinander auf der britischen Insel zu erklären?
Die Grundannahme eins lautet: Die – weit vor der US-amerikanischen und noch weiter vor der deutschen Bourgeoisie – erfahrenste herrschende Klasse dieser Welt, die zwei Weltkriege gewonnen hat, handelt nicht irrational, sondern rational.
Die Grundannahme zwei lautet: Das Referendum war keine Panne, sondern ein wichtiges Element eines Planes, dessen Kernpunkt die inzwischen verstorbene Margaret Thatcher als ihre zentrale politische Leitlinie und Lebensweisheit einmal sinngemäß so zusammengefasst hat: Alle politischen Probleme kamen während meines Lebens immer vom Kontinent und alle Lösungen von der englischsprachigen Welt. Im Klartext: Wenn es kritisch wird, lös‘ dich von den Schwankenden zwischen Paris, Brüssel und Berlin, und rück‘ fest an die Seite der Vereinigten Staaten von Amerika.
Die Geschichte der Europäischen Union ist voller Zurückweisungen von Plänen der jeweiligen nationalen Bourgeoisien durch die Völker – ob beim Beitritt zur EU oder zum Euro. Die Regel war nicht, dass das dann von den Herrschenden dieser Völker so akzeptiert wurde. Die Regel war, die Völker so lange zu kneten und abstimmen zu lassen, bis das Ergebnis stimmte. Warum machen sich die herrschenden Kreise der Insel, für die May spricht, diese Regel nicht zu eigen? Könnte es sein, dass sie dieses Ergebnis gewollt haben – auch, weil es politisch die Möglichkeit eröffnet, das Volk den Preis für den Ausstieg durch sinkenden Lebensstandard zahlen zu lassen?
Natürlich sind die Interessen der herrschenden Klasse in Großbritannien widersprüchlich – wie die jeder national herrschenden Klasse. Das ist eine Binsenwahrheit. Es wird für Landwirte und Händler bittere Verluste geben, wenn Großbritannien den gemeinsamen Markt verlässt. Aber Regierungen, das wissen wir seit Friedrich Engels, der seine britische Oberen gut kannte, sind die geschäftsführenden Ausschüsse der gesamten herrschenden Klasse und repräsentieren den Willen nicht ihrer schwächeren, sondern ihrer stärksten Kräfte. Warum sollte das im heutigen Großbritannien anders sein?
Das alles zusammengenommen ergibt sich ein viel runderes Bild von den Ereignissen in London: Die herrschende Klasse in Großbritannien ist nach gründlicher Abwägung unterm Strich zu derselben Einschätzung der Weltlage gekommen wie die in den USA. Die lautet: So wie die Hauptaufgabe im letzten Jahrhundert die Beseitigung der Herausforderung Sowjetunion war – die nach langen heißen und kalten Kriegen von 1917 bis 1989 erledigt wurde –, so ist die Hauptaufgabe im 21. Jahrhundert die Beseitigung der Herausforderung China. An der Seite Chinas steht der Verlierer des 20. Jahrhunderts, also Russland. Es zeichnet sich ein großer Konflikt zwischen den USA auf der einen Seite und China auf der anderen Seite ab, der mit der Waffe der ideologischen Kritik, mit Wirtschaftskrieg und, wenn es denn sein muss, mit der Kritik der Waffen ausgetragen werden wird. In der Mitte zwischen den Hauptblöcken China/Russland (die es nach Möglichkeit noch zu trennen gilt vor dem großen Showdown) und den um die USA versammelten Staaten steht – wie so häufig in den letzten 200 Jahren – ein schwankendes Europa mit den immer nach Rapallo schielenden Deutschen als Hauptmacht und ihren schwächelnden Franzosen als Begleitpersonal. Große Kämpfe und die meisten Kriege fordern letztlich eine biblische – heute würde man wohl sagen digitale – Entscheidung, also kein Sowohl-als-auch, keine Grauzonen, sondern ein Ja oder Nein, 0 oder 1, für oder gegen. Eine herrschende Klasse, die in solchen Situationen bestehen will, darf nicht auf die Schwankenden, sondern muss auf die Festen bauen. Also rückt die erfahrenste herrschende Klasse der kapitalistischen Welt fest an die Seite der stärksten – UK und USA bilden den Kern des aggressiven Hauptblocks der kommenden großen Konfrontation.
Von diesem Blickpunkt aus gibt es zwar – wie immer vor und im Krieg – Schwierigkeiten, Tränen und gelegentliches Chaos, das zum Kampfgetümmel immer dazugehört, aber überhaupt keine inneren Widersprüche hinsichtlich dessen, was im Vereinigten Königreich zurzeit passiert. »Be prepared for the big war – whatever the cost« – das ist der bislang noch verborgene Kernsatz, der ein Schlüssel wäre, um die Briten nicht als Irre, sondern als folgerichtig Handelnde zu begreifen.