In Foreign Affairs erschien vor zwei Wochen eine »sensationelle« Neuigkeit. Die »weltweit einflussreichste Fachzeitschrift« (Time Magazine) für außenpolitische Strategien, von der US-amerikanischen Denkfabrik Council on Foreign Relations herausgegeben, deckt eine »verborgene Geschichte der Diplomatie« zum Beginn des Russland-Kriegs um die Ukraine auf! Diese Geschichte ist – aufgrund des Machtkonglomerats aus Medien und Politik – bis vor Kurzem offiziell verborgen und abgewiegelt worden. Man kannte die Vorgänge. Wollte aber nicht recherchieren und wissen! Ausnahme: Die Berliner Zeitung, die kürzlich einige Beiträge zu den Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine zwischen März und Mai 2022 veröffentlichte.
Was bedeutet es, wenn die geostrategische Zeitschrift schlechthin, in der verschiedene politisch-militärische Strategien der US-Politik und transatlantischer Bündnispartner diskutiert werden, Fakten verdichtet? Der liberal-demokratische Mainstream leugnete bisher diplomatische Möglichkeiten für den Frieden. Aber der Reihe nach: Wenn öffentlich gemacht wird, was an den Friedensverhandlungen beteiligte Akteure vor zwei Jahren erreicht haben, und dies in der führenden Fachzeitschrift der USA dargelegt wird, hat es Bedeutung. Der Vormarsch der russischen Armee in der Ukraine, mit vielen Opfern und Zerstörungen, hat Verhandlungspositionen des Westens geschwächt, diejenigen Russlands gestärkt. Während Deutschland als Vorposten strategischer US-Interessen in Europa »mehr Verantwortung« übernehmen soll, um die Ukraine im Abwehrkrieg zu stärken, kann militärisch das Ziel nicht erreicht werden ohne massive Militärhilfe der USA. Diese ist in Höhe von 61 Milliarden Dollar, zum Teil als Kredit, gerade von Kongress und Senat bewilligt worden. Ein Wiederaufgreifen von Friedensverhandlungen würde nicht direkt an der Lage der Kriegssituation von März/April 2022 ansetzen können, auch nicht an der Lage einer ausgegebenen Parole vom »Sieg der Ukraine« und der »Niederlage Russlands«, wie deutsche und Nato-Experten hofften.
Die plausibel erscheinende Zusammenfassung des Verlaufs der Friedensverhandlungen in den Anfangswochen des Kriegs und der Vertragsentwürfe und -elemente in der Zeitschrift Foreign Affairs enthält Anregungen zur Gestaltung eines zukünftigen Friedensvertrags, so die Autoren: Samuel Charap, führender Politikwissenschaftler der RAND-Corporation, der sich für einen frühzeitigen Beginn von Nachkriegsplanungen einsetzte, und der sowjetisch-britische Historiker Sergey Radchenko, Professor an der Johns Hopkins School of Advanced International Studies, fällen in ihrem Beitrag das bedeutende Urteil, dass die Diplomatie den Krieg in der Ukraine 2022 hätte beenden können!
Die Verhandlungsergebnisse sind jedoch als nicht erfolgversprechend beiseitegeschoben worden, weil die »Zeit noch nicht reif sei«, behaupteten in Deutschland »Fachleute« wie etwa Claudia Major, Carlo Masala, Sönke Neitzel u. v. a. Medien-»Sicherheitsexperten« sowie ehemalige Generäle der Bundeswehr und eine Armada kriegslüsterner (die nicht den Frieden, sondern den (Verteidigungs-)Krieg immer ausgreifender bis zum Sieg denken) Politiker und Journalisten.
Die Foreign Affairs vom 16. April 2024 legen dar, dass diese Gespräche wenige Wochen nach Kriegsbeginn zu einer Einigung hätten führen können. Das »Istanbuler Kommuniqué« definierte den Rahmen für eine Einigung, die Unterhändler weiterführten, bis die Gespräche Anfang Mai abbrachen. »Inmitten der beispiellosen Aggression Moskaus«, schreiben Charap und Radchenko, hätten die Russen und die Ukrainer beinahe ein Abkommen geschlossen, das den Krieg beendet und der Ukraine multilaterale Sicherheitsgarantien und den Weg zu einer dauerhaften Neutralität und später zu seiner Mitgliedschaft in der EU geebnet hätte. Die frühe Offenheit für Gespräche seitens Moskaus hatten auch mit dem Scheitern des Vorstoßes der russischen Armee auf Kiew zu tun. Die Ukraine suchte einen Weg, sowohl die Aggression zu beenden als auch sicherzustellen, dass sie sich nicht wiederholt. Das Kommuniqué war detailliert, forderte unter anderem beide Seiten auf, in den nächsten 15 Jahren eine friedliche Beilegung ihres Streits um die Krim anzustreben. Putin stimmte dem zu, weil sein Vormarsch auf Kiew scheiterte und er die grundlegenden Sicherheitsinteressen seines Landes wahren wollte. Am 29. März 2022 habe der Leiter der russischen Delegation Medinsky von einem Gipfeltreffen gesprochen, auf dem Putin und Selenskyj den Vertrag unterschreiben würden. Auch nach den Verbrechen in Butscha, Tage nachdem Kolonnen der russischen Armee die 25 Kilometer nordöstlich von Kiew gelegene Gemeinde erreichten, die Anfang April 2022 öffentlich wurden und in der Forderung des ukrainischen Präsidenten mündeten, Russland wegen der Verbrechen aus dem UN-Sicherheitsrat auszuschließen, arbeiteten beide Seiten am Vertrag weiter. Aktiv seien Vertragsentwürfe untereinander ausgetauscht worden, berichten die Autoren aufgrund von Befragungen wichtiger Verhandlungsteilnehmer. Es ging unter anderem um die wichtige Frage, wie die Sicherheitsgarantien beschaffen sein sollten, um den zahlenmäßigen Bestand er ukrainischen Armee, deren Bewaffnung und Stationierung vor ihren Außengrenzen. Warum die Gespräche abgebrochen wurden? »Russland zu schwächen« und eine strategische Niederlage beizubringen, ist eine Option der USA und Nato-Staaten. Im Kontext des militärischen Rückzugs der russischen Armee in den östlichen Bereich der Ukraine und der propagierten Siegstrategie erscheint die Formulierung plausibel, »Washington und seine Verbündeten waren zutiefst skeptisch, was die Aussichten für den diplomatischen Weg« anging. Ein Bündel von Überlegungen habe den Optimismus, zu einem Sieg zu kommen, verstärkt. Die Autoren beenden ihren produktiven Beitrag mit der Feststellung, dass ein endgültiger Kompromisstext nicht zustande gekommen war, aber ein übergreifender Rahmen für eine Einigung geschaffen worden sei. Die nun bewilligte US-Militärhilfe dürfte darauf abzielen, das Vordringen Russlands in der Ukraine zum Stehen zu bringen. Töten und Zerstören, um bessere Verhandlungspositionen zu erreichen? Die abnehmende Akzeptanz der Bevölkerungen in den USA und Deutschland für diesen Krieg lässt eine weitere Niederlage des liberal-demokratischen Westens auf dem Schlachtfeld (Chas Friedmann, außenpolitischer US-Diplomat a. D.) möglich erscheinen.