Seit einigen Wochen bin ich wieder in Kontakt mit alten Bekannten aus der Studentenbewegung der 1990er Jahre. Gestern trafen wir uns vor dem Teatro Massimo in Palermo, um mit einigen Friedensfahnen bewaffnet gegen den Krieg und für die Versöhnung zu demonstrieren. Wir waren gerade Mal ein Dutzend. Wo sind all die anderen geblieben? Habe ich mich gefragt. Die meisten habe ich zum letzten Mal vor dreißig Jahren vor dem amerikanischen Konsulat bei einer Demo gegen den ersten Irakkrieg gesehen. Wir waren viele damals – und voller Empörung.
Inzwischen hat sich die Welt komplett verändert, wir wurden erwachsen, und unsere Studentenbewegung war die letzte wichtige junge Protestwelle, die es in Italien gab. Die Linken sind jetzt zersplittert. Die Partito Comunista Italiano (PCI), die es damals gab, gibt es jetzt nicht mehr, und die PD (Demokratische Partei) läuft seit Jahren den Rechten hinterher, um Regierungspartei zu bleiben. Und nun? Heute sitzen wir erschüttert vor dem Fernseher und schauen zu, wie die Menschen in der Ukraine geschlachtet werden. Die erste Reaktion ist tiefer Schmerz und dunkle Leere, als ob die Welt den Tag und das Licht ausgeschaltet hätte. Dann willst du nicht mehr zusehen. Auch mein Bildschirm bleibt nun dunkel. Es kommen immer nur dieselben erschreckenden und schrecklichen Bilder, wie wir sie in dieser Deutlichkeit und in diesem Ausmaß noch nie gesehen haben. Im Fernsehen gibt es nur noch diesen Krieg, und der Ausweg, der uns gezeigt wird, ist eine Intensivierung und Verlängerung des Krieges. Bis zum Sieg. Aber wer soll hier siegen?
Ich möchte inzwischen nur noch weg, vielleicht in ein einsames Dorf auf den Bergen, auf das Land, um vor dieser Realität zu flüchten. Das ist natürlich genauso naiv, wie den Fernseher auszuschalten. Diese Flucht hat bei mir schon mit der Pandemie angefangen, als es in den Medien nur noch darum ging. Es gab keine andere Realität als Schutzmaßnahmen und Quarantäne, Ausgangsverbot, Impfbefürworter und Impfgegner, als ob das Virus alles ausgelöscht hätte. Die Virologen tauchten in jeder Talkshow auf und hatten das Sagen. Es ging um Leben und Tod, und sie wiesen uns den Weg, wie die Pandemie zu beenden sei; das Virus grassiert immer noch. Für Meinungsaustausch und Alternativen war kein Platz mehr. Freundschaften wurden gebrochen, mit vielen Leuten war nicht mehr zu reden. Wer nicht derselben Meinung war, wurde zum Feind. Der Krieg hat zwar nun auch Corona fast vergessen gemacht, aber die Feinde sind immer noch da. Wir sind von Feinden umgeben, sagen sie uns im Fernsehen.
Erst waren es die Muslime in Irak, Afghanistan und Libyen. Zwanzig Jahre lang haben wir vor den Islamisten Angst gehabt. Dann hatten wir Angst vor dem Virus, und jetzt kommt ein neuer alter Feind wieder auf die Bühne, und alle haben Angst vor den Russen. Zwanzig Jahre Angst. Wie lange soll das so weitergehen? Natürlich habe ich auch Angst. Ich habe Angst vor dem Krieg und vor dem Hass, der sich ebenfalls wie ein Virus ausbreitet. Hass der Russen gegen die Ukrainer, Hass der ganzen Welt gegen die Russen, Hass gegen die »Filo putiniani« oder »Filorussi« (Putinversteher), wie die Pazifisten heutzutage bezeichnet werden. Im Fernseher und in den Zeitungen hört und liest man nur davon, dass man Waffen liefern, den Feind und seine Kultur hassen soll und aufrüsten müsse. Analysen über Hintergründe, mögliche Ursachen oder Alternativen zu der auf die Aufrüstungspolitik möglicherweise folgende Eskalation sind verpönt. Es gibt keinen Platz in den Talkshows für Worte, die Frieden, Vernunft, Visionen einer besseren und gerechteren Welt Ausdruck verleihen. Alles, was man in der Zeit der Pandemie gelernt hatte – die globale Realität der Vernetzungen, die es notwendig macht, miteinander zu agieren, um Weltkatastrophen wie Pandemie und Klimakrise vorzubeugen; die Frage der sozialen Gerechtigkeit – alles ist vergessen. Waffen sind momentan die einzige Antwort, und in diesem Nebel der Wut und der Angst sehen wir gar nicht mehr, wohin wir gehen. Wir laufen nur noch blind herum, gefangen und getrieben von den Problemen, die wir selbst mitverursacht haben.
Daran hat uns jetzt wenigstens der Papst erinnert. Er habe gehört, dass einige Staatsoberhäupter die Gelder für die Aufrüstung erhöhen wollen. »Sie sind verrückt!« Hat er gesagt. Unsere Gesellschaften werden von Verrückten regiert, sagte John Lennon in den sechziger Jahren. Heutzutage scheint mir der Papst der einzige Prominente zu sein, der eine Vision hat. Wir dürfen nicht immer mehr Geld für weitere Waffen ausgeben, hat er gesagt, unsere Ressourcen sollen in Schulen, Krankenhäuser, Kultur investiert werden, nur das würde unsere Gesellschaften besser machen. Für diese Vision wurde Francesco attackiert. Er wäre wohl ein Freund von Putin und natürlich ein Kommunist, obwohl Putin und Kommunistsein im Widerspruch stehen. Auch seine Aktion zum Karfreitag, als er das Kreuz von zwei Frauen, einer aus der Ukraine und einer aus Russland, tragen ließ, ist stark kritisiert worden, und das nicht nur von den ukrainischen Diplomaten im Vatikan, sondern von italienischen Journalisten, die jetzt ihren Sinn und ihre Mission scheinbar darin sehen, jeden Versuch zum Dialog und zur Versöhnung als Verrat zu diffamieren. Böse Pazifisten. Die Kriegsgegner haben die Impfgegner als inneres Feindbild abgelöst.
Auch die ANPI (Associazione Nazionale Partigiani d‘Italia) – der Verein der überlebenden Partisanen, die im zweiten Weltkrieg gegen Faschismus und deutsche Besatzung kämpften – wird attackiert, denn auf einem Plakat für den Erinnerungstag der Befreiung vom nazi-faschistischen Regime am 25. April erwähnen sie den Artikel der italienischen Verfassung, der den Krieg ächtet und ablehnt.
Seltsam und besorgniserregend an alldem ist die Entkoppelung von Politik und Medien einerseits und den Sorgen und Auffassungen der Bevölkerung andererseits. Die Parolen der Medien und der Politiker entsprechen nicht wirklich der Meinung der Italiener. Etwa 60 Prozent der Bevölkerung finden sowohl die Waffenlieferung an die Ukrainer als auch die Erhöhung der Finanzmittel für weitere Aufrüstung falsch. Eine absurde Situation: Politiker in der Regierung und im Parlament treffen mehrheitlich Entscheidungen, die die meisten Italiener ablehnen, während ein großes Teil der Journalisten auf diese Mehrheit der Bevölkerung schimpft.
Diese Spaltung zwischen Politikern und Meinungsmachern einerseits und einem großen Teil der Bevölkerung andererseits ist erschreckend. Gleichzeitig denke ich, dass gerade diese Blindheit und Taubheit seitens der Entscheidungsträger die Probleme, die offen daliegen, verschärfen wird. Ein mögliches Öl- und Gas- Embargo gegen Russland beispielsweise wird die soziale Frage in den Vordergrund rücken und viele Leute auf die Straße bringen. Immer mehr Stimmen, so ist zu hoffen, werden sich dann gegen den Krieg und die Militarisierung unseres Lebens erheben. Was im Moment jedoch fehlt, ist eine Organisation, die die vielen vereinzelten Initiativen in eine große Bewegung zusammenführt. Es fehlt die PD, die diese Rolle in den Friedensbewegungen immer gespielt hat, die jetzt aber in der Regierung sitzt und linientreu die Parole des Militarismus verbreitet. Trotzdem wird genau diese Partei die Meinung ihrer Wähler berücksichtigen müssen, wenn sie weiter existieren will. Schon distanzieren sich deshalb einige ihrer Vertreter von dem Kriegseifer Johnsons und Bidens und drängen auf Verhandlungen in absehbarer Zeit. Deshalb bin ich pessimistisch und optimistisch zugleich. Ich rechne darauf, dass wir bei den nächsten Demos immer zahlreicher werden.