Die Erfindung einer anderen Realität begann mit einem Gartenschlauch. 1895 machten die Brüder Lumière den allerersten Film und gaben ihm den Titel: »Der begossene Gärtner«. Man sieht darin einen Mann, der mit einem Wasserschlauch eine Gartenhecke gießt. Ein kleiner Junge schleicht sich, von ihm unbemerkt, heran, tritt auf den Schlauch, der Mann begutachtet den Schlauch, der Junge hebt den Fuß, das Wasser spritzt dem Gärtner ins Gesicht. Der Mann entdeckt den Jungen und verfolgt ihn. Dieser allererste Film der Kinogeschichte dauerte knapp eine Minute.
Die große Projektionsmaschine läuft seitdem auf Hochtouren. Seit knapp einhundertdreißig Jahren beschleunigt sich etwas, das es zuvor nicht gab: Milliarden Bilder und Töne sind produziert worden. Vor einhundertdreißig Jahren gab es kein Radio, kein TV, kein Internet, und kaum einer hatte damals schon einen dieser nagelneuen Kurzfilme gesehen. Waren die Menschen von damals deshalb noch nicht so porös, so durchlöchert, wie ich es heute bin? Ich weiß es nicht. Was ich aber weiß: Vor einhundertdreißig Jahren gab es in jeder europäischen Gesellschaft noch sehr strenge – von Eltern, Großeltern, der Gesellschaft drum herum eingeforderte – Gebote und Verbote darüber, was zu tun und zu unterlassen ist. Was man damals Wirklichkeit nannte, war der Boden, auf dem man stand. Die Wirklichkeit war das, was man sah, hörte, roch und fühlte. Die Menschen kannten nichts anderes. Vor einhundertdreißig Jahren war »Die Wirklichkeit und andere Erfindungen« noch keine notwendige Überschrift, wie es das heute ist. Durch das gesamte 20. Jahrhundert zieht sich ein kaum vorstellbarer Wirbel der Zeichen und Zeiten. Dieser Wirbel löste die bis dahin allein gültige reale Zeit ab. Heute ist man gleichzeitig anderswo.
Das gute alte Über-Ich, das Sigmund Freud einmal erfand, schon vor Jahren verschwand es aus der westlichen Welt, weil es der Wucht der Töne und Bilder, die mit den neuesten Maschinen produziert werden, nicht mehr gewachsen war. Außer mir hat das aber bisher kaum jemand bemerkt. In unserer Gegenwart herrscht ein anderer Geist als noch zu Zeiten unserer Großeltern: Der einzige Bereich, in dem heute die grenzenlose Freiheit herrscht, ist das Kaufen. Es ist der Konsum, der jede westliche Gesellschaft beherrscht. Ich nenne das: Die Religion vom Kaufen. Es ist die Religion des Kaufens, die uns regiert. »Kauf mich! Kauf mich!« So schreit es überall. Die Religion des Kaufens ist zur täglichen Metapher geworden. Die Religion des Kaufens schafft aber keinen Sinn. In allen westlichen Industrieländern hat deshalb ein riesiges Sinn-Vakuum die Gesellschaften erfasst.
Jede Generation tritt mit ihren Bildern des neuen Blicks, mit ihrem neuen Rhythmus der Weiträumigkeit oder der Beschränkung an. Jede Generation produziert deshalb mal mehr, mal weniger Weite oder Enge, Rebellion oder Anpassung. Mit jeder Generation kommt ein neuer Zeitgeist. Jedes Zeitalter hat andere Vorurteile. Woran glaubte der Mensch vor einhundert Jahren? Was dachte er? Was fühlte er? Mit welchen Bildern beschäftigte man sich? Warum war es damals nicht cool, mit extra zerrissenen Jeans herumzulaufen? Warum ist das aber heute so?
Etwas, was für die Geschichte der Menschheit im 20. Jahrhundert von elementarer Bedeutung war, ist mittlerweile ganz und gar verschwunden. 1922 schrieb Leo Trotzki: »Es besteht nicht der geringste Zweifel daran, dass der Mensch der Zukunft, der Bürger der Kommune, ein außerordentlich interessantes und attraktives Geschöpf sein wird und er eine ganz andere Psyche haben wird als wir.« Das 20. Jahrhundert erbrachte vor allem eins: den Glauben an den Umbau jedes Menschen. Wörter wie »Kontakt« oder »Persönlichkeit« gab es im 19. Jahrhundert noch nicht. Die Verwandlung einer verkündeten Wahrheit in richtig oder falsch, in trial oder error, das entwickelte sich erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts. Sind wir deshalb nüchterner geworden? Gibt es nicht Wahrheiten, die nur in ihrer Zeit Gültigkeit haben? Der Sieg der Oktober-Revolution brachte 1917 die Parole: »Das Kollektiv der Werktätigen ist wichtiger als jeder Einzelne.« In »Der Meister & Margarita«, dem Jahrhundertroman von Bulgakow, sagt eine der Hauptfiguren, im Moskau der 30er Jahre: »Die Mehrheit unserer Bevölkerung hat Bewusstsein und glaubt schon lange nicht mehr an die Märchen über Gott.« Die Losung vieler Mähdrescher-Brigaden in der DDR: »Ohne Gott und Sonnenschein bringen wir die Ernte ein.« Der große Glaube an die Kraft des neuen Menschen, ist er verschwunden? Ist das, was übrigblieb, der Glaube an die Kraft der neuesten Maschinen? Beten wir heute nicht jede neue Maschine geradezu an?
Was erzählen mir kunstvoll zerrupfte Jeans? Was erzählte mir Jean-Paul Sartre? »Die Hölle, das sind die anderen.« Aber stimmte das schon damals? Wenn ich mich mit dem, der mir entgegenkommt, so lange, wie es mir gefällt, lebendig austausche, geht es mir gut. Alles um mich herum wird runder. Was aber, wenn ich danach mit dem eckigsten Idioten zusammentreffe? Was verändert sich dann? Bin ich selbst etwa Himmel und Hölle? Wo und wie kriege ich das Beste von der Welt? Und was wäre das? Vom Ich zum Wir war der Weg – und jetzt? Genauso: Dann gibt es für alle mehr Bodenhaftung.