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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Bodenhaftung: Vom Ich zum Wir

Die Erfin­dung einer ande­ren Rea­li­tät begann mit einem Gar­ten­schlauch. 1895 mach­ten die Brü­der Lumiè­re den aller­er­sten Film und gaben ihm den Titel: »Der begos­se­ne Gärt­ner«. Man sieht dar­in einen Mann, der mit einem Was­ser­schlauch eine Gar­ten­hecke gießt. Ein klei­ner Jun­ge schleicht sich, von ihm unbe­merkt, her­an, tritt auf den Schlauch, der Mann begut­ach­tet den Schlauch, der Jun­ge hebt den Fuß, das Was­ser spritzt dem Gärt­ner ins Gesicht. Der Mann ent­deckt den Jun­gen und ver­folgt ihn. Die­ser aller­er­ste Film der Kino­ge­schich­te dau­er­te knapp eine Minute.

Die gro­ße Pro­jek­ti­ons­ma­schi­ne läuft seit­dem auf Hoch­tou­ren. Seit knapp ein­hun­dert­drei­ßig Jah­ren beschleu­nigt sich etwas, das es zuvor nicht gab: Mil­li­ar­den Bil­der und Töne sind pro­du­ziert wor­den. Vor ein­hun­dert­drei­ßig Jah­ren gab es kein Radio, kein TV, kein Inter­net, und kaum einer hat­te damals schon einen die­ser nagel­neu­en Kurz­fil­me gese­hen. Waren die Men­schen von damals des­halb noch nicht so porös, so durch­lö­chert, wie ich es heu­te bin? Ich weiß es nicht. Was ich aber weiß: Vor ein­hun­dert­drei­ßig Jah­ren gab es in jeder euro­päi­schen Gesell­schaft noch sehr stren­ge – von Eltern, Groß­el­tern, der Gesell­schaft drum her­um ein­ge­for­der­te – Gebo­te und Ver­bo­te dar­über, was zu tun und zu unter­las­sen ist. Was man damals Wirk­lich­keit nann­te, war der Boden, auf dem man stand. Die Wirk­lich­keit war das, was man sah, hör­te, roch und fühl­te. Die Men­schen kann­ten nichts ande­res. Vor ein­hun­dert­drei­ßig Jah­ren war »Die Wirk­lich­keit und ande­re Erfin­dun­gen« noch kei­ne not­wen­di­ge Über­schrift, wie es das heu­te ist. Durch das gesam­te 20. Jahr­hun­dert zieht sich ein kaum vor­stell­ba­rer Wir­bel der Zei­chen und Zei­ten. Die­ser Wir­bel löste die bis dahin allein gül­ti­ge rea­le Zeit ab. Heu­te ist man gleich­zei­tig anderswo.

Das gute alte Über-Ich, das Sig­mund Freud ein­mal erfand, schon vor Jah­ren ver­schwand es aus der west­li­chen Welt, weil es der Wucht der Töne und Bil­der, die mit den neue­sten Maschi­nen pro­du­ziert wer­den, nicht mehr gewach­sen war. Außer mir hat das aber bis­her kaum jemand bemerkt. In unse­rer Gegen­wart herrscht ein ande­rer Geist als noch zu Zei­ten unse­rer Groß­el­tern: Der ein­zi­ge Bereich, in dem heu­te die gren­zen­lo­se Frei­heit herrscht, ist das Kau­fen. Es ist der Kon­sum, der jede west­li­che Gesell­schaft beherrscht. Ich nen­ne das: Die Reli­gi­on vom Kau­fen. Es ist die Reli­gi­on des Kau­fens, die uns regiert. »Kauf mich! Kauf mich!« So schreit es über­all. Die Reli­gi­on des Kau­fens ist zur täg­li­chen Meta­pher gewor­den. Die Reli­gi­on des Kau­fens schafft aber kei­nen Sinn. In allen west­li­chen Indu­strie­län­dern hat des­halb ein rie­si­ges Sinn-Vaku­um die Gesell­schaf­ten erfasst.

Jede Gene­ra­ti­on tritt mit ihren Bil­dern des neu­en Blicks, mit ihrem neu­en Rhyth­mus der Weit­räu­mig­keit oder der Beschrän­kung an. Jede Gene­ra­ti­on pro­du­ziert des­halb mal mehr, mal weni­ger Wei­te oder Enge, Rebel­li­on oder Anpas­sung. Mit jeder Gene­ra­ti­on kommt ein neu­er Zeit­geist. Jedes Zeit­al­ter hat ande­re Vor­ur­tei­le. Wor­an glaub­te der Mensch vor ein­hun­dert Jah­ren? Was dach­te er? Was fühl­te er? Mit wel­chen Bil­dern beschäf­tig­te man sich? War­um war es damals nicht cool, mit extra zer­ris­se­nen Jeans her­um­zu­lau­fen? War­um ist das aber heu­te so?

Etwas, was für die Geschich­te der Mensch­heit im 20. Jahr­hun­dert von ele­men­ta­rer Bedeu­tung war, ist mitt­ler­wei­le ganz und gar ver­schwun­den. 1922 schrieb Leo Trotz­ki: »Es besteht nicht der gering­ste Zwei­fel dar­an, dass der Mensch der Zukunft, der Bür­ger der Kom­mu­ne, ein außer­or­dent­lich inter­es­san­tes und attrak­ti­ves Geschöpf sein wird und er eine ganz ande­re Psy­che haben wird als wir.« Das 20. Jahr­hun­dert erbrach­te vor allem eins: den Glau­ben an den Umbau jedes Men­schen. Wör­ter wie »Kon­takt« oder »Per­sön­lich­keit« gab es im 19. Jahr­hun­dert noch nicht. Die Ver­wand­lung einer ver­kün­de­ten Wahr­heit in rich­tig oder falsch, in tri­al oder error, das ent­wickel­te sich erst im Ver­lauf des 20. Jahr­hun­derts. Sind wir des­halb nüch­ter­ner gewor­den? Gibt es nicht Wahr­hei­ten, die nur in ihrer Zeit Gül­tig­keit haben? Der Sieg der Okto­ber-Revo­lu­ti­on brach­te 1917 die Paro­le: »Das Kol­lek­tiv der Werk­tä­ti­gen ist wich­ti­ger als jeder Ein­zel­ne.« In »Der Mei­ster & Mar­ga­ri­ta«, dem Jahr­hun­der­t­ro­man von Bul­ga­kow, sagt eine der Haupt­fi­gu­ren, im Mos­kau der 30er Jah­re: »Die Mehr­heit unse­rer Bevöl­ke­rung hat Bewusst­sein und glaubt schon lan­ge nicht mehr an die Mär­chen über Gott.« Die Losung vie­ler Mäh­dre­scher-Bri­ga­den in der DDR: »Ohne Gott und Son­nen­schein brin­gen wir die Ern­te ein.« Der gro­ße Glau­be an die Kraft des neu­en Men­schen, ist er ver­schwun­den? Ist das, was übrig­blieb, der Glau­be an die Kraft der neue­sten Maschi­nen? Beten wir heu­te nicht jede neue Maschi­ne gera­de­zu an?

Was erzäh­len mir kunst­voll zer­rupf­te Jeans? Was erzähl­te mir Jean-Paul Sart­re? »Die Höl­le, das sind die ande­ren.« Aber stimm­te das schon damals? Wenn ich mich mit dem, der mir ent­ge­gen­kommt, so lan­ge, wie es mir gefällt, leben­dig aus­tau­sche, geht es mir gut. Alles um mich her­um wird run­der. Was aber, wenn ich danach mit dem eckig­sten Idio­ten zusam­men­tref­fe? Was ver­än­dert sich dann? Bin ich selbst etwa Him­mel und Höl­le? Wo und wie krie­ge ich das Beste von der Welt? Und was wäre das? Vom Ich zum Wir war der Weg – und jetzt? Genau­so: Dann gibt es für alle mehr Bodenhaftung.