Allein wegen der Musik, die gefühlt ein Drittel des Filmes »Like A Complete Unknown« von Regisseur James Mangold ausmacht, lohnt(e) es sich, ins Kino zu gehen. Es ist erstaunlich, wie nahe Hauptdarsteller Timothée Chalamet, der Bob Dylan spielt, sowie Monica Barbaro, die die Musikerin und Aktivistin Joan Baez verkörpert, mit ihren Darbietungen stimmlich wie auch an der Gitarre den Originalen nahekommen. Wir hören gut 25 Songs, alle aus der ersten Hälfte der 1960er Jahre, zumeist Dylan-Klassiker: seine großen Protestsongs »Blowin’ In The Wind«, »Masters Of War«, »A Hard Rain’s A-Gonna Fall« und »The Times They Are A-Changin«, seine berühmten (Anti-)Liebeslieder »Girl From The North Country«, »Don’t Think Twice, It’s All Right«, »It’s All Over Now, Baby Blue«, »It Ain’t Me Babe« oder »Like A Rolling Stone« sowie seine eher kryptischen Songs »Mr. Tambourine Man« oder »Subterranean Homesick Blues«.
Während der Berlinale warteten Journalisten und Fans stundenlang auf das Erscheinen von Timothée Chalamet auf dem roten Teppich. Er ist momentan der Held von vielen jungen Frauen. Auf die Rolle als Bob Dylan hat er sich fünf Jahre lang vorbereitet. Er hat mit einem Gesangstrainer, einem Gitarrenlehrer, einem Dialekt-Coach, einem Bewegungstrainer und einem Mundharmonikaspieler zusammengearbeitet, ja, sogar sieben Kilo zugenommen. Chalamet auf der Berlinale: »Ich bin eingetaucht in Dylans Welt.« Chalamet ist im Film brillant, vermittelt gelungen Dylans Charakter zwischen Genie und Hybris und wurde für einen »Oscar« nominiert. Auch die anderen Schauspieler sind hervorragend.
»Like A Complete Unknown« (eine Zeile aus dem Dylan-Song »Like a Rolling Stone«) spielt zwischen 1961, Dylans Ankunft in New York, und 1965, als er auf dem berühmten Newport Folk Festival seine Gitarre elektrisch einstöpselte, was die Pop-Geschichte veränderte. Der Film basiert auf dem Buch »Dylan Goes Electric!« (2015) von Elijah Wald. Regisseur Mangold hat jedoch viele Ereignisse komprimiert und verändert sowie wichtige Charaktere weggelassen, um einen guten Film zu machen: Und das ist ihm gelungen! Der Film ist immer wieder bewegend. Man fragt sich allerdings des Öfteren: War das nun echt oder bloße Erfindung – ein Kritiker spricht gar von Manipulation. Bob Dylan höchstpersönlich durfte als »ausführender Produzent« Regisseur Mangold unterstützen und soll mit ihm Zeile für Zeile das Drehbuch durchgegangen sein. Und er bestärkte Mangold darin, Fakten zu verändern. Die Zeitschrift Rolling Stone führt 27 größere »Unwahrheiten« auf.
Per Anhalter reist der 19jährige Bob Dylan von seinem Heimatstaat Minnesota mit Rucksack und Gitarre nach New York. Dort, im Stadtteil Greenwich Village, explodiert gerade die Folk-Musik-Szene, was der Film gut zeigt: Fast an jeder Straßenecke musiziert ein Folkie, und auch in den Clubs gibt es jede Menge Musik: amerikanische, europäische, afroamerikanische.
Dylan hat einen Zeitungsausschnitt bei sich über den linken »This Land Is Your Land«-Folk-Musiker Woody Guthrie, der seit Jahren mit einem schweren Nervenleiden in einem Hospital im naheliegenden Morris Plains (New Jersey) liegt. Dort trifft Dylan an Guthries Krankenbett – eine Erfindung des Films – auf den (ebenfalls linken) Folksänger Pete Seeger (sehr ähnlich Edward Norton). Dylan (bzw. Chalamet) beeindruckt beide, als er ihnen seinen »Song To Woody« vorspielt.
»Like A Complete Unknown« zeigt, wie Seeger – der in der McCarthy-Ära auf der Schwarzen Liste stand – wegen eines politischen Songs vor Gericht steht und irgendwann zum Gaudi der Anwesenden sein Banjo auspackt, um den inkriminierten Song vorzuspielen. Seeger wird zunächst Dylans Mentor, am Ende aber eher Antipode, wobei der Film (Dylan ist cool, Seeger eher nicht) subtil auf Dylans Seite steht.
In einer Kirche in Manhattan trifft Dylan dann auf seine große Liebe Suze Rotolo (Elle Fanning). Im Film heißt sie auf Bitte von Dylan allerdings Sylvie Russo, zu sehr wurde sie offenbar verfremdet. Rotolo arbeitete bei der Bürgerrechtsorganisation Congress Of Racial Equality (CORE) und machte das Landei aus Minnesota mit der Bürgerrechtsbewegung bekannt. Weiter vermittelte sie ihm die Werke von Bertolt Brecht sowie der französischen Dichter Rimbaud, Verlaine und Baudelaire, Einflüsse, die er für seine Songs verwendete. Obwohl sie auf Dylans zweitem Album »The Freewheelin’ Bob Dylan« mit ihm Arm in Arm zu sehen ist, war ihre Beziehung voller Spannungen. Rotolo (die 2011 starb) jedenfalls soll Dylans Herz gebrochen haben.
Dann lernt er Joan Baez kennen, die gerade zwei Alben mit Folk-Musik in den Charts hat und auf dem Cover des Time-Magazins prangt. Wie Rotolo (bzw. Russo) bewundert sie seine Songs, die immer schneller aus ihm herauspurzeln, singt diese auch bei ihren Konzerten. Wieder kommt es zu Spannungen, bis es irgendwann aus ihr herausplatzt: »Your’re really kind of an asshole.« Er dagegen vergleicht ihre Songs mit »Ölgemälden beim Zahnarzt«. Auch hier bleibt Mangold nicht bei den Fakten: Klar, Baez hat Dylan-Songs auf ihren Alben veröffentlicht, aber sie hat sie nicht benutzt wie angedeutet, sondern Dylan damit bekannt gemacht (und sie hat ihn bei ihren Konzerten immer wieder auf die Bühne geholt, was er bei seinen Konzerten später mit ihr nicht tat).
Als Dylan dann berühmt wird und die Fans hinter ihm herrennen, kommt er damit nicht klar. Jeder, auch die linken Folkmusiker, scheinen ihn vereinnahmen zu wollen: »Die Leute wollen, dass ich für den Rest meines gottverdammten Lebens ›Blowin’ In The Wind‹ singe«, sagt er im Film. Er dagegen will sich verändern – hin zur Rock-Musik. Beim Newport Folk Festival 1965 kommt es dann zum Showdown: Statt linke Protestsongs zu singen, lässt sich Dylan von der Paul Butterfield Blues Band elektrisch – und lautstark – begleiten; die Lyrics gehen eher unter. Die Hälfte der Anwesenden ist begeistert, die andere Hälfte buht und wirft Gegenstände. Es kommt zu einer Schlägerei zwischen dem Musikologen Alan Lomax und Dylans Manager Albert Grossman. Pete Seeger spielt mit dem Gedanken, die Kabel mit einer Axt zu kappen (der Fakt ist umstritten).
Zum Schluss dann ist Dylan wieder bei Woody Guthrie (er starb 1967) im Hospital. Der Film will uns wohl sagen: Im Kern ist Bob Dylan der alte geblieben! Ist er das?