Zu den Defiziten der bürgerlichen Demokratie zählte Lenin auch die kapitalistische Organisation der Medienlandschaft. »Diese Beschränkungen, Ausnahmen, Ausschließungen und Behinderungen für die Armen erscheinen gering, besonders demjenigen, der selbst nie Not gekannt hat und mit dem Leben der unterdrückten Klassen in ihrer Masse nicht in Berührung gekommen ist (und das trifft für neun Zehntel, wenn nicht gar für neunundneunzig Hundertstel der bürgerlichen Publizisten und Politiker zu) – aber zusammengenommen bewirken diese Beschränkungen, dass die arme Bevölkerung von der Politik, von der aktiven Teilnahme an der Demokratie ausgeschlossen, verdrängt wird«, so zu lesen in Lenins »Staat und Revolution«. Kurt Tucholsky erschien das alles nicht gering, obwohl er nie an Hunger und Not litt. Er besaß die Gabe, den Mut und die Bereitschaft, sich in die Lage seiner sozialen Antipoden hineinzuversetzen. Lenin hätte ihn ohne Zweifel zu dem einen Hundertstel gerechnet, welches sich des Leids der unterdrückten Klasse, ihrer Sorgen und Nöte, ihrer Qualen und Schmerzen, ihrem Hunger und ihrer Hoffnungen publizistisch annahm. Er war ihr Lobbyist, nicht im bürgerlichen Parlamentarismus, sondern in seinen Gedichten und Geschichten, in seinen Beiträgen in der Weltbühne, in seinen Büchern. Als 1929 Kurt Tucholskys und John Heartfields Bilderbuch »Deutschland, Deutschland über alles« erschien, spien die deutschen Skribenten des Kapitals Gift und Galle. Tucholsky in Worten und John Heartfield in Bildern zeigten die Schattenseiten der Kapitalismus, die Kasernen des Proletariats, in denen es gedrillt und eingepfercht zu leben hatte, die fortbestehenden monarchistischen und militaristischen Strukturen und ihre Verschmelzungen mit dem immer mehr Gesicht zeigendem Faschismus. Das Gekläff der Schreiberlinge zu seinem bebilderten Deutschland-Buch steckte Kurt Tucholsky weg. Zur Polemik Herbert Iherings, der ihm vorwarf, immer wieder auf dasselbe Militär, auf dieselbe Justiz einzudreschen, aber dabei nicht sage, dass es in anderen Ländern genauso sei, wollte er nicht schweigen. Die Hälfte seiner Vorwürfe hielt Kurt Tucholsky für diskutierbar. In einem Punkt meldet er aber entschiedenen Widerspruch an: »Sie gebrauchen die Worte: ›Nun schreibt er immer wieder dieselben Aufsätze…‹ Lieber Herr Ihering, waren Sie in den letzten Monaten einmal auf einem deutschen Gericht oder in einer deutschen Strafanstalt? Das sollten Sie nicht versäumen.«
Hätte Herbert Ihering es getan, so wie Kurt Tucholsky, dann hätte sich auch ihm die Gefahr aufgedrängt, die Letzterer im Antwortbrief in folgende Worte kleidete: »Die Gefahr steckt vielmehr darin, daß in der allgemeinen Beruhigung ein ordentlicher, glatter Nationalismus, ein sauber rasierter Kapitalismus, eine feingebügelte Unterdrückung der Arbeiter überall zu spüren ist – also auch in den Kreisen bürgerlicher Intellektueller.«
Tucholsky mahnte das Gefühl von Blut und Tränen an, das er nicht nur bei Herbert Ihering vermisste: »Hören Sie das nicht? Hören Sie nicht den unterirdischen Schrei, der oft keinen künstlerischen Ausdruck findet und den man mit allen raffinierten Mittel unterdrückt, wo man kann?«
Über 90 Jahre danach – und wieder dieses »Deutschland, Deutschland über alles«, ein Deutschland, in dem wir das Gefühl von Blut und Tränen vermissen, ein Deutschland, in dem nach wie vor die Mächtigen, deren Namen kaum bekannt sind und die ihre Lobbyisten zu den »Volksvertretern« schicken, über Krieg und Frieden entscheiden.
Wie lange noch muss – wie Tucholsky beklagte – immer wieder bewusst dasselbe geschrieben werden? Die Antwort lautet: »Bis endlich der Schrei der Millionen ertönt: Es reicht! Mit uns nicht mehr! Wir durchschauen Eure Demokratie! Sie ist nicht die unsere. Die unsere ist die, die des Blutes und der Tränen überdrüssig ist und Frieden nach innen und außen bringt. Es ist die Demokratie, in der die das Sagen haben werden, deren Blut und Tränen die Mächtigen nicht berührt, die Demokratie, die einem Lenin vorschwebte und für die er kämpfte.«