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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Blut und Tränen

Zu den Defi­zi­ten der bür­ger­li­chen Demo­kra­tie zähl­te Lenin auch die kapi­ta­li­sti­sche Orga­ni­sa­ti­on der Medi­en­land­schaft. »Die­se Beschrän­kun­gen, Aus­nah­men, Aus­schlie­ßun­gen und Behin­de­run­gen für die Armen erschei­nen gering, beson­ders dem­je­ni­gen, der selbst nie Not gekannt hat und mit dem Leben der unter­drück­ten Klas­sen in ihrer Mas­se nicht in Berüh­rung gekom­men ist (und das trifft für neun Zehn­tel, wenn nicht gar für neun­und­neun­zig Hun­dert­stel der bür­ger­li­chen Publi­zi­sten und Poli­ti­ker zu) – aber zusam­men­ge­nom­men bewir­ken die­se Beschrän­kun­gen, dass die arme Bevöl­ke­rung von der Poli­tik, von der akti­ven Teil­nah­me an der Demo­kra­tie aus­ge­schlos­sen, ver­drängt wird«, so zu lesen in Lenins »Staat und Revo­lu­ti­on«. Kurt Tuchol­sky erschien das alles nicht gering, obwohl er nie an Hun­ger und Not litt. Er besaß die Gabe, den Mut und die Bereit­schaft, sich in die Lage sei­ner sozia­len Anti­po­den hin­ein­zu­ver­set­zen. Lenin hät­te ihn ohne Zwei­fel zu dem einen Hun­dert­stel gerech­net, wel­ches sich des Leids der unter­drück­ten Klas­se, ihrer Sor­gen und Nöte, ihrer Qua­len und Schmer­zen, ihrem Hun­ger und ihrer Hoff­nun­gen publi­zi­stisch annahm. Er war ihr Lob­by­ist, nicht im bür­ger­li­chen Par­la­men­ta­ris­mus, son­dern in sei­nen Gedich­ten und Geschich­ten, in sei­nen Bei­trä­gen in der Weltbühne, in sei­nen Büchern. Als 1929 Kurt Tuchol­skys und John Heart­fields Bil­der­buch »Deutsch­land, Deutsch­land über alles« erschien, spien die deut­schen Skri­ben­ten des Kapi­tals Gift und Gal­le. Tuchol­sky in Wor­ten und John Heart­field in Bil­dern zeig­ten die Schat­ten­sei­ten der Kapi­ta­lis­mus, die Kaser­nen des Pro­le­ta­ri­ats, in denen es gedrillt und ein­ge­pfercht zu leben hat­te, die fort­be­stehen­den mon­ar­chi­sti­schen und mili­ta­ri­sti­schen Struk­tu­ren und ihre Ver­schmel­zun­gen mit dem immer mehr Gesicht zei­gen­dem Faschis­mus. Das Gekläff der Schrei­ber­lin­ge zu sei­nem bebil­der­ten Deutsch­land-Buch steck­te Kurt Tuchol­sky weg. Zur Pole­mik Her­bert Ihe­rings, der ihm vor­warf, immer wie­der auf das­sel­be Mili­tär, auf die­sel­be Justiz ein­zu­dre­schen, aber dabei nicht sage, dass es in ande­ren Län­dern genau­so sei, woll­te er nicht schwei­gen. Die Hälf­te sei­ner Vor­wür­fe hielt Kurt Tuchol­sky für dis­ku­tier­bar. In einem Punkt mel­det er aber ent­schie­de­nen Wider­spruch an: »Sie gebrau­chen die Wor­te: ›Nun schreibt er immer wie­der die­sel­ben Auf­sät­ze…‹ Lie­ber Herr Ihe­ring, waren Sie in den letz­ten Mona­ten ein­mal auf einem deut­schen Gericht oder in einer deut­schen Straf­an­stalt? Das soll­ten Sie nicht versäumen.«

Hät­te Her­bert Ihe­ring es getan, so wie Kurt Tuchol­sky, dann hät­te sich auch ihm die Gefahr auf­ge­drängt, die Letz­te­rer im Ant­wort­brief in fol­gen­de Wor­te klei­de­te: »Die Gefahr steckt viel­mehr dar­in, daß in der all­ge­mei­nen Beru­hi­gung ein ordent­li­cher, glat­ter Natio­na­lis­mus, ein sau­ber rasier­ter Kapi­ta­lis­mus, eine fein­ge­bü­gel­te Unter­drückung der Arbei­ter über­all zu spü­ren ist – also auch in den Krei­sen bür­ger­li­cher Intellektueller.«

Tuchol­sky mahn­te das Gefühl von Blut und Trä­nen an, das er nicht nur bei Her­bert Ihe­ring ver­miss­te: »Hören Sie das nicht? Hören Sie nicht den unter­ir­di­schen Schrei, der oft kei­nen künst­le­ri­schen Aus­druck fin­det und den man mit allen raf­fi­nier­ten Mit­tel unter­drückt, wo man kann?«

Über 90 Jah­re danach – und wie­der die­ses »Deutsch­land, Deutsch­land über alles«, ein Deutsch­land, in dem wir das Gefühl von Blut und Trä­nen ver­mis­sen, ein Deutsch­land, in dem nach wie vor die Mäch­ti­gen, deren Namen kaum bekannt sind und die ihre Lob­by­isten zu den »Volks­ver­tre­tern« schicken, über Krieg und Frie­den entscheiden.

Wie lan­ge noch muss – wie Tuchol­sky beklag­te – immer wie­der bewusst das­sel­be geschrie­ben wer­den? Die Ant­wort lau­tet: »Bis end­lich der Schrei der Mil­lio­nen ertönt: Es reicht! Mit uns nicht mehr! Wir durch­schau­en Eure Demo­kra­tie! Sie ist nicht die unse­re. Die unse­re ist die, die des Blu­tes und der Trä­nen über­drüs­sig ist und Frie­den nach innen und außen bringt. Es ist die Demo­kra­tie, in der die das Sagen haben wer­den, deren Blut und Trä­nen die Mäch­ti­gen nicht berührt, die Demo­kra­tie, die einem Lenin vor­schweb­te und für die er kämpfte.«