Der Schriftsteller Rainer Klis starb 2017 mit 62 Jahren im sächsischen Hohenstein-Ernstthal, wo 175 Jahre zuvor Karl May geboren worden war. Der Ältere erlangte Weltruhm, der Jüngere schrieb die besseren Texte, sprachverliebt, wortgewandt und fantasiebegabt fürs Schrullige und Groteske. Beide interessierten sich für die Welt der Indianer, ein Begriff, den man zu ihrer Zeit noch nicht als rassistisch brandmarkte.
Über seine Reisen zu den historischen Stätten Yellowstone, Wounded Knee, Little Bighorn – Denkmale des tragischen Verteidigungskampfes der amerikanischen Ureinwohner gegen die übermächtigen weißen Eindringlinge – und zu den Nachfahren der großen Häuptlinge erzählt Klis in den Büchern »Streifzüge durchs Indianerland« (2000) und »Im Land der Crow« (2002). In den Romanen »Der Abend des Vertreters« (2000), »Nacht der Kavaliere« (2003) und »Steinzeit« (2007) schildert er ironisch-witzig Schicksale von Menschen, die sich, eingeschnürt zwischen der Sehnsucht nach dem Duft der großen, weiten Welt und den Tücken der Stunde null, neu finden und erproben mussten, als der Kapitalismus zurückkam und den »real existierenden« Sozialismus in Ost-Deutschland vertrieb.
1983 debütiert Rainer Klis mit »Aufstand der Leser«. Das Büchlein enthält 85 kurze Erzählungen. Friedrich Albrecht, Literaturwissenschaftler und Klis‘ Mentor am Institut für Literatur »Johannes R. Becher« in Leipzig, hat Klis‘ Erstlingswerk besprochen. »Selten«, sagt er, habe er »einen Autor erlebt, der eine üppige Fantasie in solch eine geradezu mathematische Präzision zu fassen suchte und mit solcher Beharrlichkeit am Wort arbeitete.« Albrecht beschreibt den jungen Schriftsteller so: »Sein manchmal recht abenteuerliches Habit, das er ohne jede Koketterie trug: diese großräumige, zerschlissene braune Lederjacke mit gleichgearteter Mütze etwa, diese Brotbeutel oder Hirtentäschel, aus denen er seine Manuskripte – er schrieb weitzeilig und mit steilen akkuraten Buchstaben blaue Schulzeichenhefte voll – unter Bierflaschen und Zigarettenschachteln hervorkramte, dazu sein nickelbebrilltes, von üppigem Haarwuchs umwuchertes Gesicht mit den blauen Kinderaugen. Kindlich – naiv, arglos auch sein Gemüt, kindlich die extreme Fähigkeit, sich zu freuen und zu fürchten, merkwürdig gepaart mit Schärfe des begrifflichen Denkens und einer manchmal schon rabulistischen Logik.«
Von Anfang an erweist sich Klis als Meister der kleinen Form, mit Büchern wie »Hinter großen Männern« (1986) »Rückkehr nach Deutschland« (1993) und »Mann ohne Pferd« (2004). In der DDR veröffentlicht Rainer Klis Kurzgeschichten im Magazin. Die Inhalte originell, fesselnd, grotesk: die Sprache knapp, manchmal bis zum Extrem verdichtet. Nach der Wende schrieb er fein- und hintersinnig-humorige Storys auch für die Satirezeitschrift Eulenspiegel, das Ganze stets wie aus Marmor gemeißelt, Schnurren, deren Faszination sich zu entziehen, schwerfällt. Sein Sujet: Außenseiter, Glücklose, Möchtegerns, seltsame Käuze, Gebeutelte, Betrogene, Scheiternde.
Klis steht auf der Seite seiner vom Pech verfolgten Helden, auch wenn er sie zuweilen bissig zu glossieren versteht. Er erzählt das Missgeschick dieser sympathischen Zeitgenossen unterhaltsam und mit einer Komik, die noch dem unglücklichsten Moment die Schwere nimmt. Als passionierter Zigarrenraucher schreibt er das Buch »Rauch-Werk« (2012). Wiglaf Droste nennt es »eine mit Klugheit, Kenntnis, Lässigkeit und Genuss gesättigte Schrift, eine Feier des einzigen Tabaks der Welt, den zu rauchen sich lohnt: des kubanischen«. Nach der Lektüre zündet sich selbst der Gesundheitsfan eine Havanna an.
Dem Mitteldeutschen Verlag ist zu danken dafür, dass er die letzten Arbeiten Rainer Klis‘ nun posthum als Buch herausgebracht hat. Es enthält 33 amüsante Storys, eingeteilt in vier Kapitel: »Nippes für das Knastregal«, »Startklar für den Horror«, »Wer redet, stirbt«, »Zahn um Zahn«. Im Mittelpunkt die Underdogs: Pechvögel, Arbeitslose, liebenswerte Verlierer, denen ihre Niederlagen nicht die Zuversicht nehmen, Gescheiterte, die frohen Mutes wieder beginnen, Unterlegene, die den Widrigkeiten trotzen, wie Rudi, der auf der Buchmesse vergeblich Verleger sucht und große Hoffnungen setzt in den brutalen kapitalistischen Literaturbetrieb, der ihn und viele seiner Kollegen zu erdrücken droht. Auch in den letzten rabiaten, menschenfreundlichen Geschichten sind sie alle versammelt, die Helden aus Klis‘ Büchern: Pfiffige Hinterwäldler, Geschiedene und Verlassene, von Verwandten Verstoßene, Unverstandene, die Anerkennung ersehnen, Gepiesackte und von so manchem Zipperlein Geplagte, Luftikusse und Tausendsassas, Knackis, die Humboldt und Kolumbus lesen, Sonderlinge mit einer Menge Flausen im Kopf wie Kalle, der Storys schreibt mit dem Ziel, »dass sich der Leser erschieße« (»Blumen für den Underdog«). Überall glücklos Handelnde, immer umweht von viel Zigarettenqualm, Pfeifentabak und Alkoholdunst. Und natürlich Apachen, Comanchen, Sioux, Cree, Cheyenne… Großartig, wie Klis die gleichen Figuren und Zutaten zu neuen, feinen, vergnüglichen Geschichten webt.
Klis traute Kritikern nicht, die nur Elogen auf Autoren schreiben und selbst noch Gutes finden, wo es »der geübte Leser nach wiederholter Lektüre niemals vermutet« hätte (»Stoff des Jahres«). Sprachverzückt fügt Klis Wort an Wort, reiht Satz an Satz und formt so seine heiteren und erheiternden Werke. Doch des Lesers Aufmerksamkeit ist mitunter stark gefordert. Er muss grübeln, um den Sinn mancher Sentenz, manches Puzzle-Teils oder auch des Ganzen zu erfassen. Nicht alles teilt sich ihm auf Anhieb mit, einiges auch nach längerem Nachdenken nicht. Ich gestand dem Autor – wir kannten uns gut, waren befreundet –, manche Passage seiner Texte nicht zu verstehen. Er antwortete, ihm ginge es auch so.
Auch das letzte Werk bestätigt es: Rainer Klis hat eine funkelnde Kurzprosa von seltener Güte und Vielfalt hinterlassen, kleine Meisterwerke in Inhalt und Stil: Kurzgeschichte, Humoreske, Satire, Groteske, Fabel, Parabel, Porträt. Sie haben die Literatur bereichert. Und sie enthalten eine lebenskluge, zeitlos gültige, ermutigende Botschaft: Was auch immer sein mag, bleib locker und gib niemals auf!
Rainer Klis, Blumen für den Underdog. Rabiate Geschichten, Mitteldeutscher Verlag 2024, 156 S., 20 €.