»Ich will eines Tages bloß ein Mensch sein«, sagt Maries Schwester. Aber: Wie wird man bloß ein Mensch? Und viel wichtiger: Wie erzählt man, wie man ein solcher wird? In Sabine Peters neuestem Roman kann der Leser miterleben, wie die aus den vorherigen Romanen gut bekannte Marie zusammen mit ihren drei Schwestern unter den gestrengen Blicken der gläubigen Eltern und einer illustren Verwandtschaft vom Kleinkind zur Frau heranwächst.
Friedrich Engels spricht in seiner Schrift von der »Menschwerdung des Affen« im Laufe der Geschichte, und in der Regel erfahren auch wir diesen Prozess am eigenen Leib. Am Anfang sind wir bedürftige und wehrlose Wesen, die auf Gedeih und Verderb auf ihre Umgebung angewiesen sind. Viele Gefahren drohen, zum Beispiel erhält Maries Schwester als Reaktion auf ihren obenstehenden, unbedacht geäußerten Satz eine Backpfeife verpasst. Aus diesen Gründen erfinden die Schwestern aus christlichem Haushalt ziemlich unchristliche Rituale, um in dieser gefährlichen Welt zu überleben.
Das erste Kapitel spielt in der Badewanne, die sich plötzlich in ein Boot verwandelt, in dem die Mädchen einen alten Seemannsbrauch pflegen. Sie pinkeln wie Matrosen ins Wasser, um dem Fußpilz vorzubeugen. Das Boot ist ein wichtiges sprachliches Bild in der literarischen Welt der Sabine Peters. Das Wasser ist das seit der chinesischen und griechischen Philosophie bekannte Element, aus dem das Leben kommt. Den Christen dient die Taufe der Sündenreinigung, weshalb die Schwestern sie in der Badewanne mit Inbrunst feiern. Dabei drücken sie sich gegenseitig unters Schaumwasser, bis ihnen die Luft und der Atem Gottes ausgehen, um dann wieder mit Geschrei und zu neuem Leben aufzutauchen.
Indem das Wasser in der Wanne und auf hoher See ein Element der Gefahr darstellt, wird das Boot zur Allegorie für das Überleben der Menschenkinder in gefahrvollen Zeiten.
Das zweite Kapitel handelt von der zweiten wichtigen Allegorie, die im Gegensatz zum Wasser steht: die Wüste. Das Vorschulkind Marie lässt eine Gruppe von Mirabellenkernen und Spielzeugautos durch die Sandkiste wandern, wir denken an die alttestamentarische Wanderung der Israeliten durch die Wüste nach der Flucht aus Ägypten; hier werden die Spielzeuge unter Maries Händen zu einem »gemeinsamen Zug«, der im furiosen Finale des Romans wieder aufgegriffen wird. Marie wird dann grau sein, die Wanderung dauerte schließlich biblische 40 Jahre. In dieser Wandergruppe haben alle wichtigen lebenden und auch nicht mehr lebenden Personen aus Maries Umkreis ihren phantasmagorischen Auftritt und bilden den gemeinsamen Zug durch die Wüste des Lebens.
»Alles war in Verwandlung begriffen«, heißt ein weiterer sinnaufschließender Satz des Romans. Vor Maries Verwandlungsfantasie ist nichts sicher. Ebenso wie aus der Oblate das Fleisch des Herrn wird, werden aus Fruchtkernen, Raupen und Ameisen Menschen und umgekehrt. Auch das Böse gibt es schon unter der Sonne, so wird aus dem Mopp im Besenschrank ein Heidenmensch mit reißendem Schnabel. Dies alles sind Vorgänge, die wir kennen und durchgemacht haben. Halten wir fest: Auch unsere Spinnereien aus Kinderzeiten haben das Zeug, literarische Allegorien zu werden, im Grunde sind wir alle Erzähler.
Auffällig ist der zehnmalige Auftritt der Ameise, die Marie vor dem Putzfimmel der Oma rettet und in die sie sich verwandelt, um unbemerkt über den Schreibtisch des Vaters zu krabbeln. Die Ameise als Freund aufzufassen, erinnert an ein Gedicht von Christian Geissler aus dem Band »Klopfzeichen« von 1998: »sie trägt am kopf eine zange. / die ist eine schönheit.« Die drei hier genannten Allegorien (Boot, Wüste, Ameise) hat sich die Erzählerin mit und gegen die kulturelle Tradition angeeignet, das heißt, sie hat sie sich zu eigen gemacht und dann von außen in die Romanhandlung hineingetragen. Allerdings ist bei der Wüstenwanderung eine Besonderheit festzustellen. Zu den Betenden mit den gefalteten Händen beim Gottesdienst fällt der Erzählerin ein, »dass man sie leicht hätte fesseln können«. Marie befreit sich nun aus der Fesselung durch die katholische Erziehung, indem sie die biblische Allegorie Wüstenwanderung, die die Unterordnung unter eine göttliche Autorität fordert, ummünzt in eine Allegorie der Entwicklung zur Selbstständigkeit. So führt die überschießende allegorische Fantasie zur Widerspenstigkeit, gar Widerständigkeit gegen eine als bedrückend empfundene Umwelt. Wir sehen, durch Aneignung können Allegorien die Fronten wechseln und zu Werkzeugen der Befreiung werden.
Laut Friedrich Engels ist es die Arbeit, verstanden als Auseinandersetzung zwischen Mensch und Natur, die bei der Menschwerdung die entscheidende Rolle spielt. Dabei wird von den natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen ausgegangen, die durch den Arbeitsprozess in ideelle und materielle Produkte verwandelt werden. Bei diesem Prozess verändern sich nicht nur Natur und Gesellschaft, sondern auch der Mensch. Übertragen auf den Roman: Die Erzählerin geht von den vorgefundenen Bedingungen aus, wie der bildungsnahen Kleinfamilie, der autoritären Erziehung, der Religiosität, den gesellschaftlichen Vorbehalten gegenüber Mädchen, kurz: von den ideologischen Verhältnissen der Sechzigerjahre in der Bundesrepublik. Während die herkömmliche autobiografisch orientierte Literatur häufig ein isoliertes Ich in den Mittelpunkt stellt, das sich gegenüber einer fremden Welt allein auf sich gestellt sieht, wird in Sabine Peters‘ Roman Maries Lebensweg sowohl aus ihrer eigenen Sicht als auch von außen aus der Retrospektive der Erzählerin erzählt. Zwischen Marie und Erzählerin entspinnt sich ein stetiger Austausch, eine literarische Reflexion, die sich auch auf die anderen Personen des gemeinsamen Zuges ausweitet, so dass wir von einer Wir-Erzählerin sprechen können. Oder genauer: von einer die Hauptperspektive der Marie einnehmende Kollektiv-Erzählerin. In einer solchen Kombination von Außen- und Innensicht wird Maries Emanzipationsprozess darstellbar. Mit dieser Erzählweise macht die Autorin einen entscheidenden Schritt über die subjektivistischen Einseitigkeiten der autobiografischen Literatur hinaus.
Die Wir-Erzählerin bindet in ihren Erzählfluss am Ende auch den Leser ein: Die Grenze zwischen Erzähler und Leser beginnt sich zu verschieben und aufzulösen. Allerdings fallen de m Leser die Lesefrüchte nicht einfach zu, er muss sie sich im Schweiße seines Angesichts, aber auch mit viel Vergnügen selbst erarbeiten. Sabine Peters‘ Roman »Ein wahrer Apfel leuchtete am Himmelszelt« lädt uns dazu ein, unseren eigenen Zug der Wanderung durch die Wüste zusammenzustellen und gleich damit anzufangen, bloß ein Mensch zu werden.
Sabine Peters: Ein wahrer Apfel leuchtete am Himmelszelt. Roman. Göttingen (Wallstein Verlag) 2020, 184 S., 20 €.