Heute geht es um Nasen. Nein, nicht um Nasen, wie sie mir seit Kindheit und Jugend präsent sind. Also weder um Pinocchios zeitweise länger werdende Nase, nicht um Gogols »Nase«, auch nicht um Hauffs »Zwerg Nase«. Und nicht um Charles de Gaulle, Spitzname »Le Nez«, dessen Zinken ihn in jeder Karikatur in den 1950er/1960er Jahren sofort erkennbar machte.
Mit Heinrich Heine nähern wir uns unserem Sujet. In seinem Gedicht »Donna Clara« beschrieb er, wie des Alkalden Tochter durch den abendlichen Garten wandelt, von einem unbekannten Ritter und dessen leuchtenden Augen im edelblassen Antlitz träumend. Sie errötet, als der Angehimmelte plötzlich vor ihr steht. Mücken hätten sie gestochen, versucht sie abzuwiegeln, und die seien ihr »so tief verhaßt, als wären’s langenas’ge Judenrotten« (Originalschreibweise).
Klar, Juden haben doch lange Nasen, oder? Ich bin doch kein Antisemit, wenn ich das sage, oder? Stopp, ruft da Thomas Meyer, in Zürich lebender Schriftsteller, Sohn einer jüdischen Mutter: »Was soll an meiner Nase bitte jüdisch sein?« Und er fügt hinzu, eine »jüdische Nase« könne es gar nicht geben, weil das Judentum keine Ethnie sei, sondern eine Glaubensgemeinschaft, wie zum Beispiel das Christentum, der Menschen aus verschiedenen Völkern angehörten. Die »jüdische Nase« sei daher so widersinnig wie etwa ein »Katholiken-Kinn«.
Antisemitismus hat viele Gesichter, und viele davon, die meisten(?), sind sehr freundlich, schreibt Meyer. Aber ebenso wenig wie das Alter vor Torheit schützt, schützen gute Manieren davor, Unsinn zu glauben oder zu reden. Täte Dummheit weh, wäre es vielleicht anders.
Meyer bilanziert in seinem bewegenden Essay, dem Zeile für Zeile der seit Jahrzehnten erfahrene – verbale – Antisemitismus im Alltag und die tief gehenden Verletzungen anzumerken sind: »Alle drei Wochen ein blöder Spruch, das kommt ziemlich genau hin.« Er empört sich über Lügenmärchen und freche Scherze, die er nicht mehr hören will. Und schon gar nicht will er hören, »dass es sich dabei nicht um Märchen, sondern um Tatsachen handle, und die Scherze freundschaftlich seien, nicht frech«.
»Herr Meyer, Sie sind ja, ähm … also, sie haben ja eine jüdische … Herkunft…« – »Sie dürfen ruhig Jude zu mir sagen. Es ist zwar unheilbar, aber keine Krankheit.“
»Ach, Sie sind Jude? Toll! Juden haben einen guten Humor!« – »Das ist ein Klischee.« – »Ich meine es aber als Kompliment!« – »Dann warten Sie doch bitte, bis ich tatsächlich etwas Lustiges sage.«
»Euch Juden darf man nicht kritisieren!« – »Ist nicht alles, was ich darauf erwidere, eine Bestätigung dafür?«
Kommentar Meyers: »Meiner Meinung nach handeln und sprechen wir alle exakt so, wie wir denken, und angesichts dieser Kongruenz von Haltung und Verhalten erlaube ich mir, die Einstellung, die ich aus den erwähnten Zitaten ableite, als antisemitisch zu bewerten – worunter ich (…) die Kombination aus unbewusster Diskriminierung und deren bewusster Verteidigung verstehe.«
Der Antisemitismus ist eine Form übler Nachrede, die sich durch zwei Jahrtausende zieht. Sie begann spätestens mit dem Konzil von Nicäa im Jahre 326, als die Kirche Jesus zum Sohn Gottes erklärte und damit die Juden zu Gottesmördern machte. Galten sie im Mittelalter als Verursacher der Pest – man beschuldigte sie der Vergiftung von Trinkwasserbrunnen –, so wurden sie im 19. Jahrhundert als »minderwertige, schmutzige Rasse« diskriminiert: »als weiße Männer auf die Idee kamen, Menschen in ›Rassen‹ einzuteilen«.
Dabei sind Menschen, so Meyer, »keine Antisemiten, weil sie schlechte Erfahrungen mit Juden gemacht haben. Meist haben sie überhaupt keine Erfahrungen mit Juden gemacht. Sie sind – unter anderem – Antisemiten, weil ihre Eltern ihnen ein schlechtes Bild von Juden vermittelt haben, und deren Eltern wiederum ihnen, und so geht das immer weiter zurück.«
Und prompt sind wir wieder bei Donna Clara, die immer noch »händedrückend, liebeflüsternd« im Mondschein umherwandelt. Doch Heinrich Heine hält einen Twist parat. Als aus dem Schlosse »Pauken und Drommeten schallen«, die des Alkalden Tochter heimrufen, bittet sie den schönen Fremdling, ihr seinen Namen zu nennen.
»Und der Ritter, heiter lächelnd / Küßt die Finger seiner Donna, / Küßt die Lippen und die Stirne, / Und er spricht zuletzt die Worte: / Ich, Sennora, Eu’r Geliebter, / Bin der Sohn des vielbelobten, / Großen, schriftgelehrten Rabbi / Israel von Saragossa« (Originalschreibweise).
Übrigens: Meyers Nase ist »ganz normal«, heißt es von Seiten des Verlags.
Thomas Meyer: Was soll an meiner Nase bitte jüdisch sein? – Über den Antisemitismus im Alltag, Elster & Salis 2021, 128 Seiten, 16 €.