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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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»Bleib hungrig!«

Ich geste­he, dass ich aggres­siv reagie­re, wenn ich eine sol­che Auf­for­de­rung lese. Dafür habe ich mei­ne Grün­de. Im Alter von einem Jahr ver­ließ ich im Okto­ber 1945 mit mei­ner Mut­ter und mei­ner Groß­mutter, die aus Polen aus­ge­wie­sen wor­den waren, mei­nen Geburts­ort, ein klei­nes Dorf in Hin­ter­pom­mern. Andert­halb Mona­te spä­ter kamen wir in einem Dorf im Süd­osten von Schles­wig-Hol­stein an. Die Wirts­leu­te, Bau­ern, bei denen wir ein­quar­tiert wur­den, sag­ten spä­ter, sie hät­ten nicht ent­schei­den kön­nen, wel­che der bei­den Frau­en, die mich beglei­te­ten, mei­ne Mut­ter, und, wel­che mei­ne Groß­mutter gewe­sen sei. Und ich, so wur­de mir spä­ter erzählt, hät­te einen auf­ge­bläh­ten Bauch »wie ein Biaf­ra-Kind« gehabt. Ich sei im ört­li­chen »Gene­sungs­heim« auf­ge­päp­pelt wor­den. Noch heu­te habe ich eine Abnei­gung gegen Abnehm-Diä­ten oder das von vie­len geprie­se­ne Fasten – bis­wei­len auch als »Heil­fa­sten« bezeichnet.

Seit mei­ner Jugend war mir schmerz­lich bewusst, dass mein – zum Glück nur vor­über­ge­hen­des – Schick­sal auf der Welt weit­ver­brei­tet ist, gera­de bei klei­nen Kin­dern, die sich dage­gen selbst gar nicht weh­ren kön­nen. Mich stör­te des­halb spä­ter ein Wort­ge­brauch, in dem der Hun­ger indi­rekt ver­harm­lost wurde.

Zwar habe ich nie so emp­find­lich reagiert, dass ich an Begrif­fen wie »erfolgs­hung­rig«, »son­nen­hung­rig« oder »erleb­nis­hung­rig« ernst­haft Anstoß genom­men hät­te; zu offen­sicht­lich war der meta­pho­ri­sche Cha­rak­ter die­ser Wor­te. Und ich könn­te mich auch nicht dage­gen ver­wah­ren, bis­wei­len als »han­gry« bezeich­net zu wer­den, weil dies mein zeit­wei­li­ges Ver­hal­ten zutref­fend bezeich­ne­te. (Der Begriff wird auf Goog­le so erklärt: »›Han­gry‹ ist eine Wort­neu­schöp­fung aus den eng­li­schen Wör­tern hun­gry (hung­rig) und angry (wütend) und meint schlicht: Je grö­ßer der Hun­ger, desto schlech­ter die Laune.«)

Zor­nig wur­de ich aller­dings, als ich auf Ste­ve Jobs Stan­ford-Rede (6.10.2011) stieß: »Als ich jung war, gab es eine groß­ar­ti­ge Publi­ka­ti­on mit dem Titel ›The Who­le Earth Cata­log‹, die zu einer der Bibeln mei­ner Gene­ra­ti­on wur­de. (…) Auf der Rück­sei­te der letz­ten Aus­ga­be stan­den die Wor­te: ›Stay Hun­gry. Stay Foo­lish‹. Ich habe mir das immer für mich gewünscht. Und nun, da Sie Ihr Stu­di­um abschlie­ßen und einen Neu­be­ginn machen, wün­sche ich das auch Ihnen: Blei­ben Sie hung­rig. Blei­ben Sie verrückt.«

Der Gehalt die­ser Aus­sa­ge fin­det sich allent­hal­ben auch im Bereich des Sports. Gute Fuß­ball­mann­schaf­ten bei­spiels­wei­se müs­sen hung­rig sein, Titel-hung­rig, das sei für den Erfolg gera­de­zu not­wen­dig. Man stel­le sich vor, sol­che Weis­hei­ten wür­den in der Sahel-Zone öffent­lich prä­sen­tiert! Tumul­te wären unausbleiblich.

Wie schwer es ist, Ver­ständ­nis für die­se Pro­ble­ma­tik beim Mar­ke­ting zu fin­den, erleb­te ich, nach­dem ich die Fir­ma »Reis­hun­ger« anschrieb, deren Pro­dukt (eben: Reis) ich, trotz Ver­är­ge­rung, im Bio­la­den gekauft hatte.

Am 31.10.2023 schrieb ich der Fir­ma die fol­gen­de Mail: »Sehr geehr­te Damen und Her­ren, ich habe ein­mal Reis von ›Reis­hun­ger‹ gekauft, seit­dem nicht mehr. Ich sto­ße mich näm­lich an dem Namen Ihrer Fir­ma, der das Wort ›Hun­ger‹ ent­hält. Ich weiß, dass die­sem Wort inzwi­schen – vor allem im Bereich des Sports – eine posi­ti­ve Bedeu­tung bei­gelegt wird. Im glo­ba­len Süden, aber inzwi­schen auch in Euro­pa hat das Wort ›Hun­ger‹ die Bedeu­tung einer exi­sten­zi­el­len Bedro­hung: der Bedro­hung an Leib und Leben.

Kurz: Ich hal­te es ver­fehlt, die­ses Wort im Zusam­men­hang mit Lebens­mit­teln zu ver­wen­den, außer in dem Fall, dass damit eine kari­ta­ti­ve Absicht aus­ge­drückt ist (Bei­spiel: ›Welt­hun­ger­hil­fe‹).«

Dar­auf erhielt ich fol­gen­de (auto­ma­ti­sier­te) Ant­wort, die ich gekürzt wie­der­ge­be: »Moin Lothar, dan­ke, dass du uns schreibst! Viel­leicht fin­dest du die Ant­wort auf dei­ne Fra­ge schon direkt in unse­rem FAQ-Bereich. Oder es han­delt sich um eines der fol­gen­den The­men: Du hast eine Fra­ge zu dei­ner Bestel­lung? Dei­ne Bestel­lung ist nicht unver­sehrt bei dir ange­kom­men? Du hast eine unse­rer Rabatt-Kam­pa­gnen ver­passt? (…) Dei­ne Anfra­ge (189248) ist in jedem Fall bei uns ange­kom­men und wird von unse­rem Team bear­bei­tet. Wir wer­den uns so schnell wie mög­lich bei dir mel­den und uns um dein Anlie­gen küm­mern – ver­spro­chen! Lie­be Grü­ße und guten Reis­hun­ger! Dein Reishunger-Team.«

Die Fir­ma »Reis­hun­ger« hat sich anschlie­ßend nicht – wie »ver­spro­chen« – bei mir gemel­det, und ich habe auch nicht mehr nachgehakt.