Ich gestehe, dass ich aggressiv reagiere, wenn ich eine solche Aufforderung lese. Dafür habe ich meine Gründe. Im Alter von einem Jahr verließ ich im Oktober 1945 mit meiner Mutter und meiner Großmutter, die aus Polen ausgewiesen worden waren, meinen Geburtsort, ein kleines Dorf in Hinterpommern. Anderthalb Monate später kamen wir in einem Dorf im Südosten von Schleswig-Holstein an. Die Wirtsleute, Bauern, bei denen wir einquartiert wurden, sagten später, sie hätten nicht entscheiden können, welche der beiden Frauen, die mich begleiteten, meine Mutter, und, welche meine Großmutter gewesen sei. Und ich, so wurde mir später erzählt, hätte einen aufgeblähten Bauch »wie ein Biafra-Kind« gehabt. Ich sei im örtlichen »Genesungsheim« aufgepäppelt worden. Noch heute habe ich eine Abneigung gegen Abnehm-Diäten oder das von vielen gepriesene Fasten – bisweilen auch als »Heilfasten« bezeichnet.
Seit meiner Jugend war mir schmerzlich bewusst, dass mein – zum Glück nur vorübergehendes – Schicksal auf der Welt weitverbreitet ist, gerade bei kleinen Kindern, die sich dagegen selbst gar nicht wehren können. Mich störte deshalb später ein Wortgebrauch, in dem der Hunger indirekt verharmlost wurde.
Zwar habe ich nie so empfindlich reagiert, dass ich an Begriffen wie »erfolgshungrig«, »sonnenhungrig« oder »erlebnishungrig« ernsthaft Anstoß genommen hätte; zu offensichtlich war der metaphorische Charakter dieser Worte. Und ich könnte mich auch nicht dagegen verwahren, bisweilen als »hangry« bezeichnet zu werden, weil dies mein zeitweiliges Verhalten zutreffend bezeichnete. (Der Begriff wird auf Google so erklärt: »›Hangry‹ ist eine Wortneuschöpfung aus den englischen Wörtern hungry (hungrig) und angry (wütend) und meint schlicht: Je größer der Hunger, desto schlechter die Laune.«)
Zornig wurde ich allerdings, als ich auf Steve Jobs Stanford-Rede (6.10.2011) stieß: »Als ich jung war, gab es eine großartige Publikation mit dem Titel ›The Whole Earth Catalog‹, die zu einer der Bibeln meiner Generation wurde. (…) Auf der Rückseite der letzten Ausgabe standen die Worte: ›Stay Hungry. Stay Foolish‹. Ich habe mir das immer für mich gewünscht. Und nun, da Sie Ihr Studium abschließen und einen Neubeginn machen, wünsche ich das auch Ihnen: Bleiben Sie hungrig. Bleiben Sie verrückt.«
Der Gehalt dieser Aussage findet sich allenthalben auch im Bereich des Sports. Gute Fußballmannschaften beispielsweise müssen hungrig sein, Titel-hungrig, das sei für den Erfolg geradezu notwendig. Man stelle sich vor, solche Weisheiten würden in der Sahel-Zone öffentlich präsentiert! Tumulte wären unausbleiblich.
Wie schwer es ist, Verständnis für diese Problematik beim Marketing zu finden, erlebte ich, nachdem ich die Firma »Reishunger« anschrieb, deren Produkt (eben: Reis) ich, trotz Verärgerung, im Bioladen gekauft hatte.
Am 31.10.2023 schrieb ich der Firma die folgende Mail: »Sehr geehrte Damen und Herren, ich habe einmal Reis von ›Reishunger‹ gekauft, seitdem nicht mehr. Ich stoße mich nämlich an dem Namen Ihrer Firma, der das Wort ›Hunger‹ enthält. Ich weiß, dass diesem Wort inzwischen – vor allem im Bereich des Sports – eine positive Bedeutung beigelegt wird. Im globalen Süden, aber inzwischen auch in Europa hat das Wort ›Hunger‹ die Bedeutung einer existenziellen Bedrohung: der Bedrohung an Leib und Leben.
Kurz: Ich halte es verfehlt, dieses Wort im Zusammenhang mit Lebensmitteln zu verwenden, außer in dem Fall, dass damit eine karitative Absicht ausgedrückt ist (Beispiel: ›Welthungerhilfe‹).«
Darauf erhielt ich folgende (automatisierte) Antwort, die ich gekürzt wiedergebe: »Moin Lothar, danke, dass du uns schreibst! Vielleicht findest du die Antwort auf deine Frage schon direkt in unserem FAQ-Bereich. Oder es handelt sich um eines der folgenden Themen: Du hast eine Frage zu deiner Bestellung? Deine Bestellung ist nicht unversehrt bei dir angekommen? Du hast eine unserer Rabatt-Kampagnen verpasst? (…) Deine Anfrage (189248) ist in jedem Fall bei uns angekommen und wird von unserem Team bearbeitet. Wir werden uns so schnell wie möglich bei dir melden und uns um dein Anliegen kümmern – versprochen! Liebe Grüße und guten Reishunger! Dein Reishunger-Team.«
Die Firma »Reishunger« hat sich anschließend nicht – wie »versprochen« – bei mir gemeldet, und ich habe auch nicht mehr nachgehakt.