Das mare balticum gleicht einem Hochsicherheitstrakt. Ostseeanrainern wie Deutschland, Dänemark, Schweden, Finnland, Russland, den Esten, Letten und Litauern sowie Polen entgeht für gewöhnlich nichts an ihren Küsten und in der 12-Meilen-Zone. Die Schweden gelten unbestritten als die Nr. 1 der Wachsamkeit.
Aus heiterem Himmel muss es am 26. September 2022 und vorher einen Super-GAU in allen Überwachungssystemen gegeben haben. Just da entstanden Lecks an den Gas-Pipelines Nord Stream 1 und 2. US-Präsident Joe Biden bezeichnete sie sogleich als Folge von vorsätzlicher Sabotage und kündigte Untersuchungen an. Sollte der Präsident als Oberbefehlshaber aller US-Streitkräfte über deren Tun und Lassen so schlecht informiert oder etwas vorschnell gewesen sein?
Wochen zuvor hatte vom 5. bis 17. Juni »Baltic Operations« (BALTOPS) stattgefunden. 45 Schiffe, 75 Flugzeuge und etliche Hubschrauber sowie rund 7000 Militärangehörige aus 14 Nato-Staaten plus Beitrittskandidaten Finnland und Schweden probten ihre Szenarien. Zum Abschluss rühmte Vize-Admiral Eugene »Gene« Black III, der Oberbefehlshaber der Sixth Fleet, am 17. Juni in Kiel eine diesjährige Besonderheit: »Wir hatten ein experimentelles Element (…). Jedes Jahr bringen wir einige wirklich schlaue Navy-Leute und einige Wissenschaftler zusammen, und wir experimentieren mit einigen der Ausrüstungen, die wir haben, diesmal mit Schwerpunkt auf Minenkriegsführung.«
Schauplatz war sinnigerweise die Küste vor Bornholm, mitbeteiligt war das Beste vom Besten, was das Pentagon aufzubieten hat: das Naval Information Warfare Center Pacific, das Naval Undersea Warfare Center Newport sowie Mine Warfare Readiness and Effectiveness Measuring. Bei Experimenten aller Art weiß man natürlich nie, ob nicht irgendwas schiefläuft. Bis dahin nichts wirklich Neues.
Ganz nebenbei offenbarte Admiral Michael M. Gilday (Chief of Naval Operations, CNO) die wirkliche Sensation: Ein Schiff war verschwunden. Die über 250 Meter lange und über 33 Meter breite USS Kearsarge, ein Flugzeugträger, der im Manöver den Einsatz von autonomen Unterwasserfahrzeugen trainiert hatte, blieb zur Kieler Woche unsichtbar. Der Admiral spann also sein Seemannsgarn: »Wir haben die Kearsarge wegen einer laufenden Mission auf See gehalten, zusammen mit einem Zerstörer, der mit ihr operiert. Und so ruft die Pflicht, und deshalb tritt sie gerade da draußen auf.« Und: »Nun, ich kann nicht genau sagen, wo sie operieren wird, aber sie wird in der Region sein. Und sie wird – und sie wird – sie wird eine sehr ausgeprägte Präsenz haben.« Mister Ahnungslosigkeit freizügig: »Nun, ich möchte nicht genau verraten, was die genaue Art unserer Anwesenheit sein wird, aber sie wird robust sein (…). Wissen Sie, im Moment haben wir unten im Mittelmeer eine Flugzeugträger-Kampfgruppe. Aber ein Schiff wie die Kearsarge, mit einigen sehr fähigen Marines (…) bringt einen ziemlich starken Schlag in die Gegend.«
Das größte Kriegsschiff der US-Navy, das in den letzten 30 Jahren in der Ostsee kreuzte, mutierte zum Geisterschiff. Über 2000 Mann Besatzung und Soldaten an Bord sowie 40 Hubschrauber und Kampfflugzeuge hatte der Klabautermann unsichtbar gemacht. Wochen später tauchte das amphibische Angriffsschiff mitsamt Begleitzerstörer wieder auf, passierte am 22. September den Fehmarnbelt in Richtung Westen und nahm Kurs gen Heimathafen an der US-Ostküste.
Vier Tage später passierte die »Sabotage« an den Nord Stream-Pipelines nahe Bornholm. Falls wie in der Seefahrt verbindlich an Bord des Geisterschiffs ein Logbuch geführt wurde, wäre auf Anhieb klar, was, wann, wo, wie vorgegangen ist. Bei Untersuchungen in dieser speziellen und mysteriösen Angelegenheit hätte es Beweiskraft.
Doch es geht nichts über das geheimhälterische Staatswohl. Auf Fragen der Bundestagsabgeordneten Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE) blieben die Ministerien von Habeck und Baerbock Antworten schuldig. Sie wollte wissen: »Welche Nato-Schiffe und Truppenteile befanden sich nach Kenntnis der Bundesregierung seit dem Aussetzen der Gaslieferungen durch die Nord Stream 1 Pipeline am 30. August 2022 in den Gegenden, an denen die Beschädigungen der beiden Pipelines aufgetreten sind, und welche russischen Schiffe und Truppenteile wurden in diesem Zeitraum in diesen Gegenden geortet?«
Die schlichte Antwort von Staatssekretärin Susanne Baumann aus dem Auswärtigen Amt vom 11. Oktober 2022: »Die Beantwortung der Fragen zu Schiffspositionen würde Rückschlüsse auf die Aufklärungsfähigkeiten der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Bündnispartner zulassen. Die erbetenen Informationen berühren derart besonders schutzbedürftige Geheimhaltungsinteressen, dass das Staatswohl gegenüber dem parlamentarischen Informationsrecht wesentlich überwiegt.« Die Frage könne entsprechend aus Gründen des Staatswohls nicht, auch nicht in eingestufter Form, beantwortet werden. Die Beantwortung der Frage würde die Preisgabe von Informationen beinhalten, die das Staatswohl in besonderem Maße berühren. Auch eine Einstufung und Hinterlegung der angefragten Informationen als Verschlusssache beim Deutschen Bundestag würde der Bedeutung der Informationen in Hinblick auf die Sicherheitslage in der Bundesrepublik Deutschland sowie dem Schutz deutscher Interessen im Ausland nicht ausreichend Rechnung tragen. »Insofern muss ausnahmsweise das Fragerecht der Abgeordneten gegenüber dem Geheimhaltungsinteresse der Bundesregierung zurückstehen.«
Dieses Statement lässt natürlich andere Interpretationen zu. Präsident Biden selbst hatte nach den Gesprächen beim Antrittsbesuch von Bundeskanzler Scholz Anfang Februar klargemacht: Wenn »russische Panzer und Soldaten die Grenze der Ukraine einmal mehr übertreten, wird es kein Nord Stream 2-Projekt mehr geben. Wir werden dem ein Ende setzen.« Das war eine eindeutige Ansage. Das Statement nach dem 26. September war business as usual. Auch sein Amtsvorgänger George W. Bush inszenierte den Irak-Krieg mit der Lüge über dort angeblich existente chemische Massenvernichtungswaffen.
Es wird dauern, ob und bis die Wahrheit jemals ans Licht kommt. Hauptsache, das US-Geschäft mit dem Frackinggas floriert, und die Germans plaudern keine Geheimnisse aus. Der schwedischen Generalstaatsanwaltschaft wird ein Blick ins Logbuch der USS Kearsarge frühestens am Sankt-Nimmerleinstag gewährt werden.