Karl Marx schrieb: »Das Sein bestimmt das Bewusstsein.« Was heißt das aber heute, in einem hochentwickelten sowie global- und finanzmarktgetriebenen Kapitalismus mit stark zunehmenden digitalen Verwerfungen in einer jetzt beginnenden vierten industriellen Revolution? Klassenbewusstsein ist, wenn überhaupt, nur noch schwerlich identifizierbar. Das Wort Proletarier ist dagegen schon eher zu einem Schimpfwort geworden, wo sich doch alle im Kapitalismus nach Besserem und Höherem sehnen. Wie soll es aber in einer widersprüchlichen und konkurrenzgetriebenen Ordnung ALLEN bessergehen? Hier gibt es immer Gewinner und damit auch Verlierer. Adam Smith schrieb schon 1776: »Was die einen bekommen, können die anderen nicht mehr haben.« Und Bertolt Brecht brachte es auf den Punkt: »Reicher Mann und armer Mann standen da und sahn sich an. Da sagt der Arme bleich: Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.«
Eigentlich ist es eine triviale ökonomische Erkenntnis, dass in einer Konkurrenzwirtschaft nicht alle gegeneinander erfolgreich sein können. Kapitalisten wissen das natürlich, und sie reagieren darauf mit Internationalisierungen, Monopolisierungen und Kartellierungen. Mitte des 19. Jahrhunderts haben schon Karl Marx und Friedrich Engels und zu Beginn des 20. Jahrhunderts Wladimir Iljitsch Lenin alles dazu Notwendige aufgeschrieben. Internationale und transnationale Konzerne sind das heutige Ergebnis. Deren originäre Gründer haben noch Marx, Engels und Lenin studiert. So wussten sie, was sie im Kapitalismus zu tun und umzusetzen hatten.
Die Forderung »Proletarier aller Länder, vereinigt euch«, sozusagen als universelle »Countervailing power« (John Kenneth Galbraith) in kapitalistischen Ordnungssystemen, blieb dagegen eine Vision von Marx und Engels, beschrieben 1847/48 im »Kommunistischen Manifest«. Das Manifest ist heute berechtigterweise, neben dem epochalen Werk »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie« von Marx, ein Weltkulturerbe der UNESCO. Und trotzdem ist die Marxsche Lehre als fester Bestandteil im Curriculum an wirtschaftswissenschaftlichen Hochschulfakultäten, mit Ausnahme von China, nicht zu finden, und angehende Ökonomen müssen in Folge u.a. auch nicht befürchten, den »tendenziellen Fall der Profitrate« erklären zu müssen. Das ist schlicht ein wissenschaftlicher Skandal und zeigt uns den heute an Hochschulen gelehrten Kontext einer »Vulgärökonomie« (Marx). Selbst der bürgerliche Ökonom und Brite Sir John Maynard Keynes, der von Marx nicht viel hielt, wird heute allenfalls mit seiner »Bastard-Keynesianischen« (Joan V. Robinson) Variante eines antizyklischen staatlichen Verhaltens in Bezug auf konjunkturelle Zyklen in der Wirtschaft gelehrt, um ihn dann aber sofort wieder mit staatlichen Schuldbremsen in »Gefangenschaft« zu nehmen.
Und wo bleiben da die heute abhängig Beschäftigten? Abhängig von den Verwertungsbedingungen und Launen des Kapitals? Wo bleibt da die Solidarität unter Beschäftigten, die von der Nachfrage der Kapitaleigentümer abhängig sind? Wie soll es hier, in einem das Ganze überlagernden Konkurrenz-Kapitalismus Solidarität geben? Das ist ein Paradoxon, das sich auch darin zeigt, dass nur jeder siebte abhängig Beschäftigte in einer der acht DGB-Gewerkschaften organisiert ist. Darunter leidet dann nicht nur die Streikbereitschaft. Geschwächte Gewerkschaften rufen fast nur noch zu kurzen Streikaktionen auf und scheuen offensichtlich einen unbefristeten oder zumindest längeren Streik per Urabstimmung, denn der könnte in Anbetracht von dann zu zahlenden hohen Streikgeldern teuer werden und womöglich nicht mehr finanzierbar sein. Die Tarifbindung liegt mal gerade noch bei 50 Prozent, und es gibt immer mehr betriebsratslose Betriebe. Rund 20 Millionen Beschäftigte müssen ihr Arbeitsentgelt und ihre Arbeitszeit individuell mit dem Unternehmer verhandeln. Wer da der Verlierer ist, muss hier nicht ausgeführt werden. Die »Verhandlungen« kommen mehr einem Betteln gleich. Warum verstehen die systemisch Abhängigen nicht, dass sie nur in einer Koalition bessere Möglichkeiten haben. Dies erklärt sich aus einer »Trittbrettfahrer-Mentalität« der Beschäftigten. Der individualisierte Abhängige fragt sich, warum soll ich mich mit einer Gewerkschaftsmitgliedschaft solidarisch an dem Zustandekommen und an der Finanzierung des kollektiven Tarifvertrages beteiligen, wenn ich auch ohne Mitgliedschaft das Ergebnis des (womöglich auch noch nur schlechten) Tarifabschlusses erhalte? Das Ergebnis ist dann eine das Kollektiv insgesamt schädigende Entsolidarisierung.
Und natürlich hat auch schon immer eine hohe chronische Arbeitslosigkeit ihren Anteil an der Entsolidarisierung und nicht zuletzt auch das mit dem neoliberalen Paradigma geschaffene Arbeitsprekariat. Jeder fünfte Beschäftigte in Deutschland zählt mittlerweile dazu – Solidarität fehl am Platze. Im Gegenteil: Die Mitglieder der Unterschicht, die es nach Franz Müntefering, dem ehemaligen SPD-Vorsitzenden mit Realitätsverlust, gar nicht gibt, bekämpfen sich noch untereinander, anstatt die Verursacher ihres Elends anzugehen. Diese bleiben unerkannt. Sie sitzen heute irgendwo in der Welt und verstecken ihr Vermögen in anonymen Kapitalfonds und/oder halten Anteile in Unternehmen, nicht selten als stille Teilhaber. Dabei haben sie willige Helfer in der Politik und halten sich Wissenschaftler, die für einen freien Kapitalverkehr in der Welt sorgen. Und die Presse? Wem gehört sie? Natürlich Kapitaleignern, die man hier Verleger nennt. Und was wollen diese in ihren Zeitungen lesen?
Kapitalismus, das sollte man wissen, basiert auf vielen systeminhärenten Widersprüchen und Ausbeutungsmechanismen, funktional zwischen Arbeit und Kapital sowieso, aber auch innerhalb der Klassen beuten hier Arbeiter Arbeiter und Kapitalisten Kapitalisten aus und beide in einer unheilvollen Koalition die Natur. Im Kapitalismus, dafür braucht man Marx nicht, das steht selbst in jedem BWL-Buch, geht es immer nur um maximalen Profit für ein paar wenige Kapitaleigner und deren erweiterte Kapitalakkumulation. Die BWL erklärt hier ausführlich, wie das geht. Sinkt die Profitrate, so reagiert das Kapital im System mit seinen immanenten kapitalzentrierten einzelwirtschaftlichen Mechanismen. Schließlich kommt es zu einem Investitionsattentismus, zu Arbeitslosigkeit und Lohnverfall, Arbeitszeitverlängerungen und schlechteren Arbeitsbedingungen, bis auch hier die Grenzen erreicht sind. Abgesichert wird dies durch ein in der Ökonomie wirkendes Rechtssystem, das letztlich auf unternehmerischer Freiheit und Privateigentum an Produktionsmitteln basiert und das Kapital hofiert. Trotz einer Pseudo-Mitbestimmung, sowohl betrieblich als auch unternehmerisch, haben die abhängig Beschäftigten in den Einzelwirtschaften nichts zu sagen. Kapitaleigner (und ihre angestellten und hochbezahlten Top-Manager) können die abhängigen und machtlosen Beschäftigten jederzeit gegeneinander ausspielen, wenn es um Arbeitsentgelte, Arbeitsplätze und Investitionen zum Erhalt der Unternehmen und ihrer Standorte geht. Die Beschäftigten werden so bewusst entsolidarisiert und schließlich individualisiert, und sie träumen dennoch von Freiheit. Hier kann man dann wohl mit Kurt Tucholsky sagen: »Oh hochverehrtes Publikum, sagt einmal, bis du wirklich so dumm, wie uns das an allen Tagen alle Unternehmer sagen.«
Die Abhängigen verstehen nicht, dass sie systemkonstituierend sind, wie der Soziologe Max Weber schon 1924 schrieb. Der Kapitalismus funktioniert als System nur dann, wenn es Menschen gibt, die zwar rechtlich frei, aber wirtschaftlich genötigt sind, ihre Arbeitskraft jeden Tag verkaufen zu müssen. Dabei verkaufen sie aber nicht den Wert ihrer Arbeit, der ihnen gar nicht gehört, sondern nur die Bewertung ihrer darunterliegenden Arbeitskraft. Die Differenz, den Mehrwert (Zins, Grundrente, Profit), bekommen ausschließlich die Kapitaleigner. Wie schrieb schon der liberale englische Ökonom, John Stuart Mill? Der Grund des Mehrwerts ist, dass die Arbeit mehr produziert als zu ihrem Unterhalt, für ihre Reproduktion, erforderlich ist. Das ist der tiefe ökonomische Kern, den abhängig Beschäftigte und auch ihre Gewerkschaften selbst heute offensichtlich immer noch nicht verstanden haben oder wahrhaben wollen und deshalb natürlich auch kein Bewusstsein dafür entwickeln können. Man muss schon, würde Marx sagen, sein eigenes Sein, seine Realität erkennen, um überhaupt Bewusstsein entstehen zu lassen. Sonst bleibt man für immer ein mystifizierter Verlierer und ein auf ewig System-Gefangener und gehört zu den »Habenichtsen« (Oswald von Nell-Breuning). Hier gibt es keine Lösung in einem widersprüchlichen System. Weder für die arbeitenden Menschen noch für die Natur. Wer daher in Conclusio nicht die Systemfrage stellt, ist entweder ein Systemprofiteur oder versteht von den Dingen nichts. Im Befund manifestiert sich dann aber nur wieder das kapitalistische Gewinner- und Verlierer-Ergebnis.
Wen wundert es da noch, dass es die Gewerkschaften in den Tarifverhandlungen unter dem heute verschärft neoliberal betriebenen Ausbeutungssystem vielfach nicht einmal mehr schaffen, einen Inflationsausgleich bei den Arbeitsentgelten durchzusetzen, ganz zu schweigen von einer Produktivitätspartizipation. Das Ergebnis heißt hier nur noch Umverteilung von den Arbeits- zu den Kapitaleinkommen. Seit der Wiedervereinigung zeigt das Kapital hier seine Durchsetzungsmacht. Auf Basis der gesamtwirtschaftlichen Lohnquote von 1993 haben die Beschäftigten in Deutschland von 1991 bis 2023 kumuliert über 4,1 Billionen Euro an Einkommen einbüßen bzw. an die Kapitaleigentümer abgeben müssen. Diese Umverteilung ist die Ursache für eine mittlerweile »zerrissene Gesellschaft« (Christoph Butterwegge) in Deutschland. Sie hat auf der einen Seite eine vermehrte Armut und auf der anderen Seite mehr funktionslosen Reichtum bewirkt. Dies hat nicht nur negative sozioökonomische, sondern auch demokratiezerstörende politische Wirkungen. Diese sind längst eingetreten und haben sich bereits im parlamentarischen Raum einer indirekten Demokratie verfestigt. Wie sagte der große deutsche Nachkriegssozialphilosoph Max Horkheimer: »Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.«