Schwierige Sache, das mit dem Beuys. Interpretationsspielraum reichlich, Eindeutiges wenig. Schließlich geht es um Kunst. Schwierige Sache, das merkte schon Bruder Johannes, Wissenschaftsminister anno dazumal als braver SPD-Politiker. Johannes Rau kam aus dem Bergischen Land, tat sich schwer mit dem aufmüpfigen Düsseldorfer Kunstprofessor, geboren in Krefeld, wobei der Joseph lieber in Kleve zur Welt gekommen wäre. Am 12. Mai vor hundert Jahren, 1921 war das, mein Vater Heinz wurde ein Jahr später mitten in Westfalen geboren, was zunächst nicht besser, aber auch nicht schlechter war.
Kindheit und Jugend für beide, für Joseph und Heinz, kein Eierkuchen, kein Zuckerschlecken. Hineingeboren in ihre Zeit, geborgen im Schoß der Familien, das vielleicht. Aber auch bestohlen, ihrer Kindheit, ihrer Jugend beraubt, eingefangen und vereinnahmt vom Nationalsozialismus, für dessen Hitlerjugend sie paar Jahre später genau das richtige Alter hatten.
Zehn, fünfzehn Jahre alte Jungen, die kaum etwas anderes kannten. Strenge in Elternhaus und Schule, etwas Religion, vor allem aber Parolen und Einvernahme, verbunden mit Drill und Stumpfsinn an Orten, an denen es eigentlich um Entwicklung, Reife, Bildung gehen sollte, um Menschlichkeit, Geborgenheit, Sicherheit, auch Perspektive. Doch vielleicht fanden sie all das ja genau dort. In den dumpfen Parolen, bei den ritualisierten Zusammenkünften der Pimpfe, auf kaltem Appellplatz, in den stickigen Stuben der Hitlerjugend, in jener brütenden, großsprecherisch-großkotzigen Zeit. Und die jungen Kerle waren geblendet, begeistert, gefangen, vereinnahmt und locker einkassiert.
Dann, kaum erwachsen, immer noch verdammt jung: alles verloren. Als Ewige Hitlerjungen standen sie plötzlich vor den Trümmern ihrer Jugend und einem Neuanfang in Trümmern.
Erwachsen war man damals früher als heute. Den Eltern nicht mehr auf der Tasche liegen, auf eigenen Füßen stehen, was so die Argumente waren. Das mit dem Erwachsenwerden war nur die halbe Wahrheit, schön dahergeredet, eine Floskel, falsch und verlogen, von außen bestimmt. Man war erwachsen für die Arbeit, den Erwerbsprozess. Und für den Soldatentod.
Schwierige Sache, das mit dem Beuys.
Die Verhältnisse eben, ließe sich resignierend sagen. Die Verhältnisse, die Jungen wie Joseph Beuys oder meinen Vater Heinz dann auf eigenen Füßen nach Polen und Russland brachten, nach Holland, Frankreich, Norwegen, Griechenland, Nordafrika.
Wehrmachtssoldaten, junge Kerle, ob sie nun felsenfest und unverbrüchlich ans faschistische Großdeutschland glaubten, dafür kämpfen und sich opfern wollten, oder ob sie nur mitliefen und dabei manchmal, selten, vielleicht gar zweifelten an alledem. Auch das soll es gegeben haben, mein Vater war auch ein Mitläufer, vielleicht, weil er nichts anderes kannte.
Schwierige Sache. Mein Vater ist nie gern irgendwo mitgelaufen, blieb Zusammenkünften, auch den Appellen der Hitlerjugend, lieber fern, wenn es eben ging. Das ist verbürgt, nicht bloß, weil er seinen Ausweis zerknüllte.
Bei Beuys muss es doch ähnlich gewesen sein, sein Alter, seine Herkunft. Der junge Mann, der Funker, Bordschütze in Hitlers Bomber, der Sewastopol bombardierte, auf dem Rückflug in schlechtes Wetter geriet. Kein schönes, aber treffendes Bild: schlechtes Wetter auf dem Rückflug. Das hatte sich vor Stalingrad schon abgezeichnet, dass es umschlagen würde, und es ereilte die Deutschen Landser an allen Fronten, in Nord und Süd, West oder Ost. Glück gehabt, wenn es nicht Stalingrad war, wenn man überlebte und Gefangenschaft nicht von Dauer war.
Mein Vater war im Norden. Norwegen, Finnland, russische Grenze, Tromsö, Lofoten, Erzhafen Narvik. Strategische Punkte, wie fast jeder Flecken auf dem Globus, wenn es nach Hitler und den deutschen Offizieren ging. Stecknadeln auf der Karte. Ein toter Soldat im Schnee, Polarlichter über eisigen Birken, kriechenden Kiefern, Kameradschaft, eine Holzhütte mit selbstgebauter Sauna. Legenden lassen sich aus allem basteln. Verbrannte Erde auf dem Rückzug.
Nach dem Krieg, Joseph, hattest du eine Zeit lang Depressionen. Wo sollte das hinführen mit dem traurigen, hageren Jungen aus Kleve und seiner Kunst? Ganz guter Zeichner. Leben von der Hand im Mund. Deinem Absturz hast du jedenfalls Bedeutung beigemessen und ihn einfach eingebaut in deine Kunst.
Jeder Mensch ein Künstler. Ich stimme zu. Die Kunst meines Vaters bestand auch darin, dass er an Wochenenden und Feiertagen Zusatzschichten auf der Zeche fuhr, damit die Familie ihr Auskommen hatte, die junge Frau endlich ihr schickes neues Kleid bekam. Auch mein Vater hatte Beklemmungen, hatte Ängste. Wenn er an tote Russen dachte. Als alles vorbei war, und man rasch alles vergessen wollte, vergessen sollte. Manchmal raste sein Herz, fehlte ihm die Luft zum Atmen.
Das Erlebte verarbeiten, bewältigen die schlimme Zeit, Gräuel verdrängen. Mit Starrsinn, Sturheit, Alkohol, mit Gewalt gegen Frau und Kind womöglich. Da gab es viele. Beuys und mein Vater zählten nicht dazu. Heinz hat gearbeitet, seine Familie, Frau und Kinder geliebt, hat nicht mal geraucht wie der asketische Mann vom Niederrhein. Trotzdem früh gestorben, noch keine Fünfzig.
Mit Kunst oder Arbeit gegen Herzschmerz, gegen Zweifel, Bedrückung, Bedrängnis. Von der Judenfrage reden wir nicht. Probates Mittel. Was lässt sich einwenden gegen die Kunst? Wenn nur das Materielle stimmen würde. Zwei Holzschnitte verkauft für 20 Mark, davon wirst du nicht satt. Finanziell auf wackligen Füßen, Josephs Verlobte sagt Lebewohl, Kriegserlebnisse, die nachwirken, weiterwirken, da wächst sich die Krise aus zur Depression.
Als Beuys die Professorenstelle hat, geht es ihm besser, geht es bergauf. Vieles lässt sich erreichen, bewältigen, geraderücken mit Kunst. Sich von einer Lebenskrise nicht kleinkriegen lassen. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort, dann wird das schon. Den Leuten kannst du vieles verkaufen, manchmal sitzt das Geld auch locker. Unter hunderttausend Mark solltest du das nicht verkaufen, Joseph, nicht unter Wert. Eine ganze Ausstellung auf einen Schlag an einen einzelnen Sammler. Leute mit dem richtigen Riecher, die an einen glauben, das Extreme schätzen.
Seinen Kindern baut er in den Räumen der Akademie einen Holzverschlag zum Spielen. Mein Vater baut mit mir eine elektrische Eisenbahn auf einer Spanplatte, gemeinsam schrauben wir die Schienen fest, beleuchten Blechbahnhof und kleine Plastikhäuschen. Große Kunst die putzige Modelllandschaft. Idylle, die dem Zeitgeschmack der Fünfziger, Sechziger entspricht. Weihnachten kriegst du jetzt jedes Mal etwas für deine Bahn. Heile Welt im Miniaturformat, Berglandschaft aus Pappmaché.
Beuys beim Kaffeetrinken, Kirschkuchenessen im Garten des Kurators, Frau und Kinder adrett bei Tisch, Blümchendecke, akkurat gefaltete Servietten. Bürgerliche Idylle auch hier, Terrassenplatten aus Waschbeton, wackelige Gartenstühle. So war das damals, hatten wir auch.
Als ich seine Installationen zum ersten Mal sehe, bin ich sprachlos, ratlos, leicht befremdet. Als ich ihm auf der Documenta in seinem Büro begegne, Angewandte Demokratie, bleibe ich schüchtern stehen. Flugblätter meterhoch gestapelt. Auch so ein Bretterverschlag, Joseph allein mit sich hinter dem Schreibtisch. Angewandte Demokratie, davon wusste ich so wenig wie von seinen Zeichnungen, seinen Installationen, dem theoretischen Unter- und Überbau.
Von Anfang an bei den Grünen. Joseph. Gut singen kann ich auch nicht, doch nie hätte ich deinen Mut gehabt. Auf der Bühne, entsetzlich schlecht. Mit Petra Kelly verstandest du dich. Als es mit dem Mandat nicht klappte, warst du enttäuscht. Dieser esoterische Firlefanz. Anthroposophen, warum ausgerechnet dieser Steiner? Bisschen viel deutsches Wesen.
Jeder Mensch ein Künstler, klar: The pack, das Rudel. Hinter einem VW-Bulli ein Dutzend Kinderschlitten, Marke Davos. Damit war ich Schulkind gerade erst über westfälische Rodelhänge geschrammt. Nein, die Schlittenkufen bei Beuys sind breiter, etwas für Profis, für größere Distanzen. Darauf gepackt merkwürdiges Gerät, Suchscheinwerfer und Filzdecken, akkurat zusammengerollt. Truppenbewegung, Militäraktion. Ostfeldzug denkst du automatisch, penibel ausgerichtet das alles. Schon marschierst du mit an die Front. Polen, Russland, durch die Sahara bis Tripolis in kurzen Hosen, oder in dünner Uniform über den Polarkreis. Schneebedeckte Öde, gleich taucht ein Rudel Wölfe auf. Die wittern Beute.
Jeder Mensch ein Künstler. Jeder Mensch ein Politiker auch. Nicht nur, wenn es nach Beuys geht. Auch wenn du so unpolitisch bist, wie Heinz es war oder ich es bin. Im Leben meines Vaters kam Kunst so wenig vor wie Politik. Ins Museum ging er nicht. Aus Politik hielt er sich raus. Registrierte nebenbei, was da in Bonn geschah und in der Welt passierte. Sonst unbeteiligt, Konsument und Wähler. Mittendrin, Spielball und Opfer, wenn du so willst.
Jeder Mensch ein Politiker, danach handelte Beuys, so schuf er sein Werk, angelehnt an eigene Biografie, eigenes Erleben. Jeder Mensch ein Künstler, jeder Mensch ein Politiker. Beuys machte den Mund auf, befremdete, verwirrte. Eckte an, rüttelte auf, rüttelte manchen aus dem Schlaf. Alles so einfach, alles mit einfachen Mitteln, mit ursprünglichen Dingen, die die meisten dennoch nicht verstanden, nicht verstehen wollten. Die dreckige Wanne da schrubben wir sauber.
Jeder Mensch ein Künstler. Ein Politiker auch, ist zu ergänzen. Und du fragst dich, ist einer wie Beuys nicht wichtig, genau richtig? Oder war dieser Beuys in seiner Radikalität nur ein Blender, Schamane, Scharlatan, Quer- und Seitwärtsdenker, Andersdenker, Neudenker, Überdenker? Nenn es, wie du willst. Schrägdenker, wie es sie zu Tausenden gibt. Begriffe bloß. Überhauptdenker? Wäre ein Anfang.