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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Bestürzt und enttäuscht

Russ­lands Angriff auf die Ukrai­ne löste Gefüh­le aus. Kein Wun­der bei einem bestür­zen­den Start­schuss zum Gemet­zel. Und oft wur­de auch ein Gefühl von Ent­täu­schung geäu­ßert und beschrie­ben. Putin habe sich von einer ratio­na­len Poli­tik abge­wen­det und ein Ver­trau­en dar­auf, er wer­de nicht zu Waf­fen­ge­walt grei­fen, hin­ter­gan­gen. Wie­der­um nicht ver­wun­der­li­che Fra­gen schlie­ßen sich an: Was mag ihn dazu bewo­gen haben? Und was ist eine »gerech­te Reak­ti­on« darauf?

Eine Ant­wort erteilt die öffent­li­che Mei­nungs­ein­heits­front mit einem qua­si-amt­li­chen, rund­um ver­schwö­rungs­theo­riefrei­en Glau­bens­be­kennt­nis. Es sei hier kurz umrissen:

  1. Russ­land befin­det sich in den Fän­gen eines Hitler-Wiedergängers.
  2. Die­ser hat die Macht an sich geris­sen, ein Unter­drückungs­re­gime ein­ge­rich­tet und sein Land zu einem »Ver­bre­cher­staat« (Frank­fur­ter Rund­schau) umfunk­tio­niert.
  3. Putin will unter­jo­chen – zuerst die Ukrai­ne, dann ganz Euro­pa und immer so wei­ter. Mit Hil­fe sei­ner Ver­ge­wal­ti­ger­hor­den will er die Domi­no­stei­ne der frei­en Welt nach und nach kippen.
  4. Die­ser »botox­ge­spritz­te« »Ket­ten­hund« ist »an eine sehr kur­ze Ket­te (zu) legen« (Ste­fan Slupetzky).
  5. Bes­ser noch: Der Irre muss weg und von einem Son­der­tri­bu­nal abge­ur­teilt wer­den (A. Baerbock).
  6. Damit und bis es dazu kommt, muss die freie Welt mit Bestra­fun­gen, also »Sank­tio­nen« »die öko­no­mi­sche Basis Russ­lands rui­nie­ren« (U. von der Ley­en) und mit Waf­fen­lie­fe­run­gen für die aus hei­te­rem Him­mel über­fal­le­nen ukrai­ni­schen Hel­den wehr­haft bleiben.
  7. Des­halb muss die Nato wei­te­re Staa­ten aus einer Koali­ti­on der Wil­li­gen in sich auf­neh­men, die, wie alle ande­ren Mit­glie­der auch, die Ket­ten wirt­schaft­li­cher »Abhän­gig­kei­ten« von Russ­land spren­gen und sich der Stei­ge­rung ihrer Mili­tär­bud­gets und »Frie­dens­fas­zi­li­tä­ten« befleißigen.
  8. Mit Russ­land vor dem Errei­chen eines ukrai­ni­schen »Siegs« zu ver­han­deln, käme einer Kapi­tu­la­ti­on vor dem grö­ßen­wahn­sin­ni­gen, nar­ziss­ti­schen Expan­sio­ni­sten gleich. Dem ein kla­res »Njet! «
  9. Somit kann ein Befür­wor­ten von Ver­hand­lun­gen nur einer fünf­ten Kolon­ne von Putin­ver­ste­hern ent­sprin­gen, und des­halb sind die­sen die Mög­lich­kei­ten zu neh­men, ihr beden­ken­trä­ge­ri­sches, wehr­kraft­zer­set­zen­des Des­in­for­ma­ti­ons­gift zu ver­sprü­hen. Mit ihnen zu dis­ku­tie­ren und sie von ihrem Irr­glau­ben abbrin­gen zu wol­len, ist ohne­hin ver­geb­li­che Lie­bes­müh. Ihr Welt­bild ist nun ein­mal extre­mi­stisch-quer­den­ke­risch ver­na­gelt; sie sind schlicht beratungsresistent.
  10. Statt­des­sen ist deut­sche patrio­ti­sche Pflicht: Sich soli­da­risch warm anzie­hen, kalt duschen, den Gür­tel enger schnal­len, die Rei­hen schlie­ßen und sich mit dem Bun­des­prä­si­den­ten unter­ha­ken. Denn unser ist das Reich und die Kraft und die Herr­lich­keit in Ewig­keit. Amen.

Abseits davon und jen­seits des Gefühls, hin­ter­gan­gen und ent­täuscht wor­den zu sein, bleibt lei­der fest­zu­hal­ten: Ein Über­ra­schungs­mo­ment zu nut­zen, wenn man Krieg vor­hat, ist eine stra­te­gisch-tak­ti­sche Selbst­ver­ständ­lich­keit. Jeder Gene­ral weiß das, wie z. B. auch der Garant unse­res Wohl­erge­hens Stol­ten­berg. Kom­men­tiert man als Beob­ach­ter der Zeit­läuf­te: »Putins Tabu­ver­let­zung war doch nicht zu erwar­ten!« und kommt damit der Rede vom »Epo­chen­bruch« aus einem hei­te­ren Him­mel her­aus nahe, so kann man sich ande­rer­seits auch gefragt haben, wie lan­ge noch Russ­land, eine Groß­macht, die es nun ein­mal ist und auch sein will, sich ange­sichts der von wüsten Dro­hun­gen (z. B. von Eliza­beth Truss) beglei­te­ten Ein­krei­sung durch offi­zi­el­le und infor­mel­le Nato-Mit­glie­der auf unüber­seh­bar ver­geb­li­che Appel­le beschrän­ken wer­de. Hat­te man ein sol­ches Bauch­ge­fühl, so besaß man nicht etwa eine bes­ser funk­tio­nie­ren­de Durch­blicker-Kri­stall­ku­gel, und die Über­rasch­ten waren auch kei­ne igno­ran­ten Naiv­lin­ge: Man konn­te erwar­ten, was man woll­te – den Krieg (wie auch die CIA) oder eben auch kei­nen. Was wann wie geschah, ent­sprang Putins frei­em Ent­schluss – und ange­sichts des­sen dar­über zu jam­mern, dass man falsch gele­gen habe, oder sich als Pro­phet bestä­tigt auf die Schul­ter zu klop­fen, wäre nicht frei von zyni­scher Nabelschau.

Zum Ergrün­den sei­nes Vor­ge­hens hilft ein Abtau­chen »in Putins Kopf« m. E. nicht viel wei­ter. Ein­deu­ti­ger zeig­te sich jedoch: Er han­del­te, wie gesagt, frei – auch wenn er nach Poli­ti­ker­ma­nier Sach­zwän­ge vor­schütz­te , aber aus einem ihm auf­ge­zwun­ge­nen Dilem­ma her­aus. Bei Dilem­ma­ta gibt es die Alter­na­ti­ven von grund­sätz­lich Rich­ti­gem und Fal­schem nicht, son­dern nur die Wahl zwi­schen ver­schie­de­nen Übeln. Wel­ches das klei­ne­re gewe­sen sein wird, erweist sich erst spä­ter. Im Fall der schon seit 2014 unfried­li­chen, mit dem vom Westen ent­we­der beschwie­ge­nen oder her­un­ter­ge­spiel­ten Beschuss des Don­bass durch die Ukrai­ne hat der Westen den Rus­sen zwar nicht zur »Inter­ven­ti­on« – dies ein gern für »unse­re« Gewalt­ta­ten gebrauch­ter Euphe­mis­mus, der beim Feind natür­lich gleich als sol­cher durch­schaut wird – gezwun­gen, aber ihn nach der Schach­spie­ler­ma­xi­me »die Dro­hung ist stär­ker als ihre Aus­füh­rung« unter Zug­zwang gesetzt. Die veri­ta­ble »Win-Win«-Strategie braucht(e) sich nicht auf eine bestimm­te Vari­an­te der Schä­di­gung des Geg­ners fest­zu­le­gen. Sie über­ließ ihm ein­fach das »Gesetz des Han­delns«, genau­er: konfrontiert(e) ihn mit dem fort­wäh­ren­den Zwang zur Übel­ab­wä­gung, zur Ent­schei­dung zwi­schen Hin­neh­men und Einschreiten.

Ist nun eine mora­li­sche bzw. sand­ka­sten­stra­te­gi­sche Bewer­tung des Dilem­mas die­sem über­haupt ange­mes­sen? Es gibt vie­le Anzei­chen, Ver­hand­lungs­an­ge­bo­te auf der ihm ver­wei­ger­ten diplo­ma­ti­schen Schie­ne, dafür, dass Putin in die­ses gera­de nicht hin­ein­ge­ra­ten woll­te. Das miss­lang, ja muss­te miss­lin­gen, denn, um ein in Kom­men­ta­ren gele­gent­lich gebrauch­tes Bild auf­zu­grei­fen und ent­spre­chend vul­gär zu for­mu­lie­ren, der Bescheid von west­li­chen »Schul­hofrü­peln« lautet(e) unver­än­dert: »Ganz egal, was du machst – wir fin­den dich schei­ße und wer­den dich wei­ter­hin ent­spre­chend behan­deln.« Anlass für eine Bemit­lei­dung Putins ist das jedoch keineswegs.

Nun gibt es die Kri­tik an ihm – und wer will, kann sich den Schuh anzie­hen –, dass er kei­ne Licht­ge­stalt (mehr) sei, dass er panisch, psy­cho­tisch, hirn­ver­brannt (re)agiert und somit Schuld auf sich gela­den habe; ein anstän­di­ger und wei­ser Staats­mann jeden­falls macht so etwas ein­fach nicht – und »das bes­se­re Deutsch­land« schon gleich gar nicht! Lei­stet sich aber eine sol­che Kri­tik nicht ver­harm­lo­sen­de Illu­sio­nen dar­über, dass Krieg, mit des­sen Ver­laufs­for­men sich auch das rea­li­ter oft ver­nach­läs­sig­ba­re Völ­ker­recht beschäf­tigt, unab­hän­gig davon, wer gera­de das Sagen im Staat hat, zu den gän­gi­gen Mit­teln der Aus­tra­gung von Gegen­sät­zen zwi­schen­staat­li­cher Kon­kur­renz zählt? Wes­halb auch der Frie­den nicht auf Waf­fen­be­schaf­fung und zum Krieg ertüch­ti­gen­de Infra­struk­tur­maß­nah­men ver­zich­ten will? Zum Bean­stan­den von Krieg als einem Ver­stoß gegen Wer­te, die es hoch­zu­hal­ten gel­te, führt Her­bert Auin­ger (Kein Kom­men­tar, 03.05.23) aus:

»Eine klei­ne ein­ge­scho­be­ne Bit­te aus aktu­el­lem Anlass: Wäre es nicht an der Zeit, die­sen Wer­te-Quatsch ein­mal blei­ben zu las­sen? Oder wenig­stens zurück­zu­stel­len? Und sei die Erin­ne­rung an die ›guten west­li­chen Wer­te‹ auch noch so rhe­to­risch-iro­nisch gemeint! Zeit­ge­nos­sen mit einem eini­ger­ma­ßen durch­schnitt­li­chen Gedächt­nis und mit einem Min­dest­maß an – ja, ich spre­che es hier­mit aus! –, mit einem Min­dest­maß an intel­lek­tu­el­ler Red­lich­keit, denen kann das Offen­sicht­li­che nicht ver­bor­gen blei­ben: Die west­li­chen Wer­te sind nichts wert! Bzw. sind sie halt ganz anders gemeint und anders zu ver­ste­hen: Die Wer­te sind das mora­li­sche Hand­werks­zeug der Macht­ha­ber, die damit sich ins Recht set­zen, in der Regel gegen ihres­glei­chen außer­halb – aber als mora­li­sche Hand­ha­be gegen die Macht­ha­ber sind sie nichts wert. Die Beru­fung auf Wer­te selbst ist eine denk­bar pri­mi­ti­ve Tech­nik – der Wer­te­an­be­ter demen­tiert sei­ne poli­ti­schen Inter­es­sen und Zwecke, indem er eine die­nen­de Stel­lung zu einem höhe­ren Zeug bean­sprucht, und dadurch ver­ab­so­lu­tiert er sei­ne Ansprü­che, im Fall des Fal­les! Das ist alles; und alle Men­schen guten Wil­lens mit einem durch­schnitt­li­chen Gedächt­nis wis­sen oder könn­ten wis­sen, wie frei und berech­nend die west­li­chen Macht­ha­ber mit ihren Wer­ten hau­sie­ren, und wie zweck­mä­ßig die sog. ›Real­po­li­tik‹ ins Tref­fen geführt wird, wenn gute Bezie­hun­gen zu aus­wär­ti­gen regie­ren­den Fol­ter­knech­ten und Auto­kra­ten gebie­ten, den Wer­te-Ball öfter mal sehr flach zu hal­ten. Die Behaup­tung, die Hüter der west­li­chen Wer­te wür­den sich beim Glo­ba­li­sie­ren dar­an ori­en­tie­ren, wie gut oder schlecht aus­wär­ti­ge Macht­ha­ber ihre Unter­ta­nen behan­deln, ist erst mal als das zu kenn­zeich­nen, was sie ist: Heu­che­lei (…). Der har­te Wer­te-Kern, das ist die Posi­ti­on des Auf­se­hers und Rich­ters über den Rest der Welt, die da bean­sprucht wird, und in dem Sinn sind die Wer­te auch bit­ter­ernst gemeint.«

Wenn Scholz, Baer­bock & Habeck mit wer­te­be­schwing­ter Kon­se­quenz »hohe Prei­se« zu zah­len bereit sind und sich bei denen, die die­se Bereit­schaft aus­zu­ba­den haben, des­halb auch nur ein Quänt­chen Unmut äußern könn­te, so hat nicht das Fuß­volk ein exi­sten­ti­el­les Pro­blem, son­dern unse­re Herr­schaft mit man­geln­der Gefolg­schaft – Ach­tung, Spal­tung der Gesell­schaft! – und Kriegsmüdigkeit.

Unse­re Erwähl­ten haben auch ihr Päck­chen zu tra­gen: »Robert Habeck ist nicht zu benei­den.« Wie­so nicht? Ein­fach des­halb: »Wie schnell kön­nen wir auf rus­si­sches Gas ver­zich­ten?« (Der Frei­tag 14/​22). So münzt ein Jour­na­list, der sein Hand­werk ver­steht, ein Pro­blem von Max Muster­mann in eines des Pro­blem­ver­ur­sa­chers um. Der Ver­zichts­be­schluss des Ent­schei­ders steht und wird gehor­sam gewollt, aber die Befol­gung des Befehls muss er uns schon ermög­li­chen! Und damit könn­te der Arme ein Pro­blem bekom­men, weil unse­re gute Mei­nung von ihm ins Wan­ken gera­ten und in den Alp­traum von Unei­nig­keit mün­den könn­te. Aber kei­ne Angst; das Unter­ta­nen­tum ist gewohnt resi­li­ent. Denn nur die Sor­gen unse­rer Macht­ha­ber sind rele­van­te, für und über die man sich auf­re­gen soll. Alle vier Jah­re kann man dann mit einem Kreuz die Fra­ge beant­wor­ten, ob man denn auch eine rich­tig gute Herr­schaft habe. Die Zeit bis dahin ver­geht wie im Flug, wenn man par­ti­zi­pa­to­risch alter­na­ti­ve Regie­rungspro­gram­me ent­wirft und die Bestim­mer mah­nend peti­tio­nie­rend an ihre Ver­ant­wor­tung erin­nert. Jeden­falls soweit und solan­ge die Ent­täu­schung trägt.