Russlands Angriff auf die Ukraine löste Gefühle aus. Kein Wunder bei einem bestürzenden Startschuss zum Gemetzel. Und oft wurde auch ein Gefühl von Enttäuschung geäußert und beschrieben. Putin habe sich von einer rationalen Politik abgewendet und ein Vertrauen darauf, er werde nicht zu Waffengewalt greifen, hintergangen. Wiederum nicht verwunderliche Fragen schließen sich an: Was mag ihn dazu bewogen haben? Und was ist eine »gerechte Reaktion« darauf?
Eine Antwort erteilt die öffentliche Meinungseinheitsfront mit einem quasi-amtlichen, rundum verschwörungstheoriefreien Glaubensbekenntnis. Es sei hier kurz umrissen:
- Russland befindet sich in den Fängen eines Hitler-Wiedergängers.
- Dieser hat die Macht an sich gerissen, ein Unterdrückungsregime eingerichtet und sein Land zu einem »Verbrecherstaat« (Frankfurter Rundschau) umfunktioniert.
- Putin will unterjochen – zuerst die Ukraine, dann ganz Europa und immer so weiter. Mit Hilfe seiner Vergewaltigerhorden will er die Dominosteine der freien Welt nach und nach kippen.
- Dieser »botoxgespritzte« »Kettenhund« ist »an eine sehr kurze Kette (zu) legen« (Stefan Slupetzky).
- Besser noch: Der Irre muss weg und von einem Sondertribunal abgeurteilt werden (A. Baerbock).
- Damit und bis es dazu kommt, muss die freie Welt mit Bestrafungen, also »Sanktionen« »die ökonomische Basis Russlands ruinieren« (U. von der Leyen) und mit Waffenlieferungen für die aus heiterem Himmel überfallenen ukrainischen Helden wehrhaft bleiben.
- Deshalb muss die Nato weitere Staaten aus einer Koalition der Willigen in sich aufnehmen, die, wie alle anderen Mitglieder auch, die Ketten wirtschaftlicher »Abhängigkeiten« von Russland sprengen und sich der Steigerung ihrer Militärbudgets und »Friedensfaszilitäten« befleißigen.
- Mit Russland vor dem Erreichen eines ukrainischen »Siegs« zu verhandeln, käme einer Kapitulation vor dem größenwahnsinnigen, narzisstischen Expansionisten gleich. Dem ein klares »Njet! «
- Somit kann ein Befürworten von Verhandlungen nur einer fünften Kolonne von Putinverstehern entspringen, und deshalb sind diesen die Möglichkeiten zu nehmen, ihr bedenkenträgerisches, wehrkraftzersetzendes Desinformationsgift zu versprühen. Mit ihnen zu diskutieren und sie von ihrem Irrglauben abbringen zu wollen, ist ohnehin vergebliche Liebesmüh. Ihr Weltbild ist nun einmal extremistisch-querdenkerisch vernagelt; sie sind schlicht beratungsresistent.
- Stattdessen ist deutsche patriotische Pflicht: Sich solidarisch warm anziehen, kalt duschen, den Gürtel enger schnallen, die Reihen schließen und sich mit dem Bundespräsidenten unterhaken. Denn unser ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.
Abseits davon und jenseits des Gefühls, hintergangen und enttäuscht worden zu sein, bleibt leider festzuhalten: Ein Überraschungsmoment zu nutzen, wenn man Krieg vorhat, ist eine strategisch-taktische Selbstverständlichkeit. Jeder General weiß das, wie z. B. auch der Garant unseres Wohlergehens Stoltenberg. Kommentiert man als Beobachter der Zeitläufte: »Putins Tabuverletzung war doch nicht zu erwarten!« und kommt damit der Rede vom »Epochenbruch« aus einem heiteren Himmel heraus nahe, so kann man sich andererseits auch gefragt haben, wie lange noch Russland, eine Großmacht, die es nun einmal ist und auch sein will, sich angesichts der von wüsten Drohungen (z. B. von Elizabeth Truss) begleiteten Einkreisung durch offizielle und informelle Nato-Mitglieder auf unübersehbar vergebliche Appelle beschränken werde. Hatte man ein solches Bauchgefühl, so besaß man nicht etwa eine besser funktionierende Durchblicker-Kristallkugel, und die Überraschten waren auch keine ignoranten Naivlinge: Man konnte erwarten, was man wollte – den Krieg (wie auch die CIA) oder eben auch keinen. Was wann wie geschah, entsprang Putins freiem Entschluss – und angesichts dessen darüber zu jammern, dass man falsch gelegen habe, oder sich als Prophet bestätigt auf die Schulter zu klopfen, wäre nicht frei von zynischer Nabelschau.
Zum Ergründen seines Vorgehens hilft ein Abtauchen »in Putins Kopf« m. E. nicht viel weiter. Eindeutiger zeigte sich jedoch: Er handelte, wie gesagt, frei – auch wenn er nach Politikermanier Sachzwänge vorschützte –, aber aus einem ihm aufgezwungenen Dilemma heraus. Bei Dilemmata gibt es die Alternativen von grundsätzlich Richtigem und Falschem nicht, sondern nur die Wahl zwischen verschiedenen Übeln. Welches das kleinere gewesen sein wird, erweist sich erst später. Im Fall der schon seit 2014 unfriedlichen, mit dem vom Westen entweder beschwiegenen oder heruntergespielten Beschuss des Donbass durch die Ukraine hat der Westen den Russen zwar nicht zur »Intervention« – dies ein gern für »unsere« Gewalttaten gebrauchter Euphemismus, der beim Feind natürlich gleich als solcher durchschaut wird – gezwungen, aber ihn nach der Schachspielermaxime »die Drohung ist stärker als ihre Ausführung« unter Zugzwang gesetzt. Die veritable »Win-Win«-Strategie braucht(e) sich nicht auf eine bestimmte Variante der Schädigung des Gegners festzulegen. Sie überließ ihm einfach das »Gesetz des Handelns«, genauer: konfrontiert(e) ihn mit dem fortwährenden Zwang zur Übelabwägung, zur Entscheidung zwischen Hinnehmen und Einschreiten.
Ist nun eine moralische bzw. sandkastenstrategische Bewertung des Dilemmas diesem überhaupt angemessen? Es gibt viele Anzeichen, Verhandlungsangebote auf der ihm verweigerten diplomatischen Schiene, dafür, dass Putin in dieses gerade nicht hineingeraten wollte. Das misslang, ja musste misslingen, denn, um ein in Kommentaren gelegentlich gebrauchtes Bild aufzugreifen und entsprechend vulgär zu formulieren, der Bescheid von westlichen »Schulhofrüpeln« lautet(e) unverändert: »Ganz egal, was du machst – wir finden dich scheiße und werden dich weiterhin entsprechend behandeln.« Anlass für eine Bemitleidung Putins ist das jedoch keineswegs.
Nun gibt es die Kritik an ihm – und wer will, kann sich den Schuh anziehen –, dass er keine Lichtgestalt (mehr) sei, dass er panisch, psychotisch, hirnverbrannt (re)agiert und somit Schuld auf sich geladen habe; ein anständiger und weiser Staatsmann jedenfalls macht so etwas einfach nicht – und »das bessere Deutschland« schon gleich gar nicht! Leistet sich aber eine solche Kritik nicht verharmlosende Illusionen darüber, dass Krieg, mit dessen Verlaufsformen sich auch das realiter oft vernachlässigbare Völkerrecht beschäftigt, unabhängig davon, wer gerade das Sagen im Staat hat, zu den gängigen Mitteln der Austragung von Gegensätzen zwischenstaatlicher Konkurrenz zählt? Weshalb auch der Frieden nicht auf Waffenbeschaffung und zum Krieg ertüchtigende Infrastrukturmaßnahmen verzichten will? Zum Beanstanden von Krieg als einem Verstoß gegen Werte, die es hochzuhalten gelte, führt Herbert Auinger (Kein Kommentar, 03.05.23) aus:
»Eine kleine eingeschobene Bitte aus aktuellem Anlass: Wäre es nicht an der Zeit, diesen Werte-Quatsch einmal bleiben zu lassen? Oder wenigstens zurückzustellen? Und sei die Erinnerung an die ›guten westlichen Werte‹ auch noch so rhetorisch-ironisch gemeint! Zeitgenossen mit einem einigermaßen durchschnittlichen Gedächtnis und mit einem Mindestmaß an – ja, ich spreche es hiermit aus! –, mit einem Mindestmaß an intellektueller Redlichkeit, denen kann das Offensichtliche nicht verborgen bleiben: Die westlichen Werte sind nichts wert! Bzw. sind sie halt ganz anders gemeint und anders zu verstehen: Die Werte sind das moralische Handwerkszeug der Machthaber, die damit sich ins Recht setzen, in der Regel gegen ihresgleichen außerhalb – aber als moralische Handhabe gegen die Machthaber sind sie nichts wert. Die Berufung auf Werte selbst ist eine denkbar primitive Technik – der Werteanbeter dementiert seine politischen Interessen und Zwecke, indem er eine dienende Stellung zu einem höheren Zeug beansprucht, und dadurch verabsolutiert er seine Ansprüche, im Fall des Falles! Das ist alles; und alle Menschen guten Willens mit einem durchschnittlichen Gedächtnis wissen oder könnten wissen, wie frei und berechnend die westlichen Machthaber mit ihren Werten hausieren, und wie zweckmäßig die sog. ›Realpolitik‹ ins Treffen geführt wird, wenn gute Beziehungen zu auswärtigen regierenden Folterknechten und Autokraten gebieten, den Werte-Ball öfter mal sehr flach zu halten. Die Behauptung, die Hüter der westlichen Werte würden sich beim Globalisieren daran orientieren, wie gut oder schlecht auswärtige Machthaber ihre Untertanen behandeln, ist erst mal als das zu kennzeichnen, was sie ist: Heuchelei (…). Der harte Werte-Kern, das ist die Position des Aufsehers und Richters über den Rest der Welt, die da beansprucht wird, und in dem Sinn sind die Werte auch bitterernst gemeint.«
Wenn Scholz, Baerbock & Habeck mit wertebeschwingter Konsequenz »hohe Preise« zu zahlen bereit sind und sich bei denen, die diese Bereitschaft auszubaden haben, deshalb auch nur ein Quäntchen Unmut äußern könnte, so hat nicht das Fußvolk ein existentielles Problem, sondern unsere Herrschaft mit mangelnder Gefolgschaft – Achtung, Spaltung der Gesellschaft! – und Kriegsmüdigkeit.
Unsere Erwählten haben auch ihr Päckchen zu tragen: »Robert Habeck ist nicht zu beneiden.« Wieso nicht? Einfach deshalb: »Wie schnell können wir auf russisches Gas verzichten?« (Der Freitag 14/22). So münzt ein Journalist, der sein Handwerk versteht, ein Problem von Max Mustermann in eines des Problemverursachers um. Der Verzichtsbeschluss des Entscheiders steht und wird gehorsam gewollt, aber die Befolgung des Befehls muss er uns schon ermöglichen! Und damit könnte der Arme ein Problem bekommen, weil unsere gute Meinung von ihm ins Wanken geraten und in den Alptraum von Uneinigkeit münden könnte. Aber keine Angst; das Untertanentum ist gewohnt resilient. Denn nur die Sorgen unserer Machthaber sind relevante, für und über die man sich aufregen soll. Alle vier Jahre kann man dann mit einem Kreuz die Frage beantworten, ob man denn auch eine richtig gute Herrschaft habe. Die Zeit bis dahin vergeht wie im Flug, wenn man partizipatorisch alternative Regierungsprogramme entwirft und die Bestimmer mahnend petitionierend an ihre Verantwortung erinnert. Jedenfalls soweit und solange die Enttäuschung trägt.