»Es ist nicht vorbei« titelte L’Espresso (24/23) nach dem Ableben Berlusconis und seinem pompösen Staatsbegräbnis im Mailänder Dom. Die nunmehr letzte der mehr als hundert Titelseiten des Wochenmagazins mit seinem Konterfei zeigt ein schwarzes, einem Scherenschnitt ähnliches Profil Berlusconis. Die Regierung Meloni hatte sogar Staatstrauer verordnet, eine Ehrerbietung, die bisher nur Päpsten und einigen Staatspräsidenten, aber noch keinem Ministerpräsidenten der Republik zuteilwurde – nur vor langer Zeit dem Conte di Cavour, erster Ministerpräsident des 1861 gegründeten italienischen Nationalstaates (Regno d’Italia), der kurz darauf im Amt verstorben war. Cavour führte einst die Destra storica an, eine frühe, liberal ausgerichtete Rechte, die sogar zu einigen Reformen mit der damaligen Linken bereit, aber den republikanischen Ideen eines Mazzini oder gar eines Garibaldi gänzlich abhold war.
Berlusconi, der seit 1994 ein Rechtsbündnis mit Ex-Faschisten anführte und also mit dem antifaschistischen Vermächtnis der sog. ersten Republik brach, ist unvergleichbar mit Cavour. Aber seine heutige Nachfolgerin Giorgia Meloni, die sein Rechtsbündnis seit 2022 weiterführt, hat viel von dem Pop-Medientalent Berlusconi gelernt. Publikumswirksam setzte sie sich selbst mit dem Staatsspektakel auf allen Kanälen in Szene und – neben Berlusconis Tochter Marina platziert – übernahm sie gewissermaßen das Zepter aus Berlusconis Hand mit Zustimmung seines potenten Familienclans. Dem gehört nämlich – über den Finanzkonzern Fininvest – auch das Parteiunternehmen Forza Italia, das für Melonis Dreierkoalition unverzichtbar ist und mit dem Berlusconi bis zuletzt seine Hand im Spiel hatte, oft zum Ausgleich der vielen divergierenden politischen Positionen zwischen der Lega von Matteo Salvini und Melonis Brüdern (Fratelli d’ Italia). Deren Koalition wird nur vom Machtwillen zusammengehalten. Dabei bleibt die Verteilung des politischen Erbes des von fast allen Medien hochgelobten Erfolgsunternehmers Berlusconi vorerst offen, alle möchten sie davon profitieren, aber als politisch erbberechtigt sieht sich nicht nur Meloni, auch ein Matteo Renzi erhebt für seine neue »Italia Viva« – Partei der politischen Mitte – durchaus Ansprüche.
Denn auch er – gar »royal baby« genannt – ist ja ein Schüler Berlusconis, ohne dessen Zustimmung er nicht seinen Vorgänger Enrico Letta durch einen Handstreich als Regierungschef 2014 hätte ablösen können. Als Chef der Demokraten (PD) hatte Renzi bereits als selbsternannter »Verschrotter« (rottamatore) die alte Garde der Linken in der PD ausgegrenzt und schickte sich dann an – nachdem er 2016 die Schutzrechte der Arbeitsgesetzgebung (Art.18) weitgehend außer Kraft gesetzt hatte (im sog. Jobs Act, nach US-Vorbild Obamas) – auch die Verfassung nachhaltig zu schwächen, bis er an einem negativen Volksentscheid scheiterte.
In Ossietzky habe ich seit 2002 über die schrittweise erfolgte Aushöhlung der Demokratie durch Berlusconi berichtet, den die Opposition nur ungenügend bekämpft hat: weder die Basis seiner populistischen Durchdringung der italienischen Öffentlichkeit, seine fortdauernde Monopolstellung in fast allen Medien, die schon von den ihm vorhergehenden Regierungen der 80er Jahre ermöglicht worden war, noch den fragwürdigen Aufbau seines Finanzimperiums. Ungehindert durch bereits vorhandene gesetzliche Mittel zur Beschränkung seiner Medienmacht vonseiten der fünfjährigen Prodi-Regierung, die 1995 auf Berlusconis erste, nach acht Monaten gescheiterte Amtszeit, folgte, hatte sich Berlusconi nämlich stärken können, um dann in seiner zweiten Amtszeit von 2001 bis 2006 vorrangig seine inzwischen gereiften Probleme mit der Justiz zu regeln. Dazu griffen seine Anwälte, nun mehrheitlich in Regierung und Parlament vertreten, massiv in das Gesetzesdickicht ein und desavouierten das schon vorher defizitäre Justizsystem weiter durch die sogenannten ad personam-Gesetze. Die ließen seine meisten Prozesse mit Verjährung enden. Auch die Verfassung wurde nachhaltig durch Berlusconi beschädigt, zwecks Schaffung einer Präsidialrepublik, in der ein Regierungschef unter Ausschaltung möglichst vieler Kontrollinstanzen agieren kann. Solche Schwächung demokratischer Institutionen lag und liegt seit Jahrzehnten auf der Zielgeraden der Rechten und steht auch heute ganz oben auf der Agenda von Giorgia Meloni.
Der Liberaldemokrat Eugenio Scalfari, als Gründer der Tageszeitung Repubblica, einer der einflussreichsten Journalisten Italiens und scharfer Kritiker Berlusconis, hatte bereits 1994 dessen Eintritt in die Politik als eine Rückkehr zur Herrschaft Ludwigs XIV. bezeichnet, der zwischen König und Staat keinen Unterschied machte.
Festzuhalten bleibt, dass Berlusconis bleibender politischer Erfolg eben die ideologische Konditionierung des Centro-Sinistra, der mitte-linken Regierungspolitik war, in dem Sinne, in dem Margaret Thatcher die Entstehung des New Labour wohl als ihren größten politischen Erfolg verbuchen konnte – was Bill Emmot, den damaligen Chef des Londoner Economist, in Berlusconi sogar »eine Kreatur der Opposition« ausmachen ließ (2005).
Politische Hegemonie besteht eben darin, die Macht zu haben, jene Koordinaten zu bestimmen, innerhalb derer sich eine absehbare Politik gestalten lässt – unabhängig von der Couleur der jeweils Herrschenden. Und diese Macht konnte sich Berlusconi nehmen, niemand hinderte ihn daran.
Praktisch machbar wurde Berlusconis direktes »Betreten des Spielfeldes« nach Beginn seines TV-Polit-Spektakels während der 80er Jahre durch ein 1993 eingeführtes uninominales, stark personalisiertes Wahlrecht. Das ermöglichte ihm, mit nur 21 Prozent der Wählerstimmen für sein neugegründetes Forza Italia-Unternehmen mit der Lega Nord ein »Bündnis der Freiheit« und ein »Bündnis der guten Regierung« mit den Faschisten der Alleanza Nazionale (AN) im Süden zu schließen. Zusammen erreichte dieser Dreierbund eine Parlamentsmehrheit von 42,8 Prozent, gegenüber einer Links-Koalition von 34,3 Prozent und einem »Pakt für Italien« (PPI) der Mitte von 15,7 Prozent. Doch diese rechnerische Mehrheit gegen die Vormacht des ad hoc zusammengewürfelten Rechtsbündnisses, das dann auch rasch auseinanderbrach, fand schon damals (wie heute) keinen politischen Ausdruck. Wer hundert Jahre zurückblicken mag, stößt auf Mussolini, der 1923 eine Mehrheit für sein Partito fascista im Parlament auch nur dank einer »legge Acerbo« erhielt, einem Wahlrecht, das mit nur 25 Prozent der Stimmen plus Mehrheitsbonus ihm zwei Drittel der Parlamentssitze zusprach – schon damals ein Selbstmord der bürgerlichen Volksvertreter.
Auch die heutige Rechtskoalition unter Führung von Giorgia Meloni verfügt über keine Wähler-Mehrheit im Lande, denn 18 Mio. Wahlberechtigte gingen im September 2022 gar nicht mehr zur Wahl, 15 Mio. wählten die getrennten Mitte-Linksparteien und nur 12 Mio. das Rechtsbündnis Melonis, das mit 44 Prozent eine absolute Mehrheit in beiden Kammern hält. Die von Melonis Ex-Faschisten (FdI) immerhin erreichten 26 Prozent repräsentieren im Lande allerdings nur max. 15 Prozent der Wahlberechtigten – die Mehrheit der Italiener ist damit nicht mehr demokratisch repräsentiert.
Dennoch versucht eine extreme Rechte heute das Land im Griff zu halten, die all das mehr oder weniger weiterführen will, was schon auf der Agenda Berlusconis stand und auch von den sogenannten Regierungen der »tecnici« von Mario Monti (2011) bis zu Mario Draghi (2021) verfolgt wurde: Akzentuierung der Exekutive gegenüber Parlament und Justiz, Privatisierung des öffentlichen Sektors, Unternehmer-Interesse vor dem der Arbeitenden, des Territoriums, der Umwelt. Zu diesem klassischen Programm der Rechten kommen weitere Verfassungs- und Justizreformen, auch zur Stärkung der Autonomie der Regionen – was de facto zu einer Schwächung, wenn nicht Zerstörung des Nationalstaats führen würde. Gleichzeitig wird Meloni schon jetzt in Brüssel aktiv, um ganz Europa im Juni 2024 weiter nach rechts zu rücken, positioniert sich dabei aber bereits gegen fällige EU-Entscheidungen, was ihr Kritik einträgt. In den letzten Monaten hat auch ein anti-antifaschistischer Kulturkampf für Gott, Vaterland und Familie begonnen, der jene Werte Europas und der USA verfechten will, die aus Sicht nicht nur Melonis ja gerade in der Ukraine expressis verbis verteidigt werden. Dabei tun sich durchaus Widersprüche auf, denn sowohl in der Regierung (Lega) als auch in der Opposition (Fünf-Sterne-Bewegung und diverse Restlinke) gibt es Widerstand gegen die Militärpolitik der Regierung. Nicht nur der Papst, selbst Berlusconi hatte sich noch gegen letztere gewandt – aber das wurde medial übergangen, wie abtrünnige Meinungen überhaupt.
An den positiven wie negativen Einschätzungen von Berlusconis Wirkung auf die italienische Gesellschaft durch seine Landsleute soll sich laut jüngsten Meinungsumfragen (Corriere della Sera, 25. Juni) praktisch nichts verändert haben, sie bestätigen die fast hälftig gespaltenen Ergebnisse (jeweils ca. 40 zu 42 Prozent) der vergangenen Jahrzehnte.
»Was Berlusconi zerstört hat, ist nicht wiederherzustellen«, schreibt die Kommentatorin Diletta Bellotti im eingangs zitierten L’Espresso – aber es sei eine staatsbürgerliche Pflicht, endlich ein wahrheitsgetreues Bild dieses Mannes an ein kollektives Gedächtnis zu überliefern, der Italiens Demokratie unterminiert, die Kommunisten ausgegrenzt, die Faschisten hoffähig gemacht und das Land jenen »technischen« Regierungen preisgegeben hat, die es mit einer Austeritätspolitik überzogen und bis heute weitgehend verarmt haben.
Carl von Ossietzkys einst auf jemand anderen gemünzter Ausspruch trifft auch noch auf Berlusconi zu: »Was der angerichtet hat, bleibt.«