Dieses Buch wird viele berühren, die wie Egon Krenz 1945 Kind waren und sich wie er in der sowjetischen Zone Deutschlands und der DDR am antifaschistischen Umbau der Gesellschaft aktiv beteiligten. Bei der politisch-ideologischen Selbstfindung entstanden freundschaftliche Beziehungen zur UdSSR und zu Sowjetbürgern. Krenz war von »seinem« ersten Rotarmisten 1945 beeindruckt. (S. 279) Antifaschismus und deutsch-sowjetische Freundschaft waren Staatsdoktrin der DDR, aber auch Eintracht zwischen Deutschen und Russen.
Krenz war ab 1983 Mitglied des Politbüros der SED; Michael Gorbatschow 1985 Generalsekretär der KPdSU. Er, Honecker und Krenz bestimmten damals die DDR-Haltung zur deutschen Frage in Europa, die Haltung der BRD dazu Willy Brandt, Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Staats- und Regierungschefs der USA, Frankreichs und Großbritanniens.
In 27 Abschnitten schildert Krenz, worin die Parteiführungen der KPdSU und der SED übereistimmten beziehungsweise kontroverse Ansichten vertraten. Manches im Umgang miteinander war arg – öffentlich demonstrierte man Brüderlichkeit. Das deutsch-sowjetische Verhältnis spitzte sich zu, als Gorbatschow de facto Honeckers Reise in die BRD verbot. Begründung: »Es geht um unsere Rechte, die im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges entstanden sind. Daran darf nicht gerüttelt werden.« (S. 76). Auch diese Haltung hatte »eine Vorgeschichte« (S. 131), auf die Krenz eingeht. Beide deutsche Regierungen hatten in deutsch-deutschen und auch internationalen Beziehungen eine begrenzte Souveränität. Die »Verantwortung für Deutschland als Ganzes« lag seit Potsdam 1945 bei allen vier Siegern. Die drei Westmächte hatten zum »Besatzungsstatut« vor Annahme des Grundgesetzes der BRD (24. Mai 1949) mit Adenauer noch einen »geheimen Staatsvertrag« abgeschlossen, den alle Bundeskanzler vor ihrem Amtseid unterzeichnen mussten (sogenannter Kanzlerbrief oder Kanzlerakte). Willy Brandt nannte das Dokument einen »Unterwerfungsbrief«, den er nach erster Weigerung doch unterschrieb. (S. 67)
Honecker fuhr dennoch 1987 zum Staatsbesuch nach Bonn. Gorbatschow kritisierte auch dessen Reise nach China. »Die Beziehungen der DDR zu China dürften auf keinen Fall besser sein als die Beziehungen der Sowjetunion zu China.« Das 1987 von SED und SPD erarbeitete Papier »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit« nannte Gorbatschow »vulgär-marxistisch«. (S. 70) An Honeckers Misstrauen gegenüber Gorbatschow ging das enge Verhältnis zwischen Honecker und Krenz »in die Brüche«. (S. 83) Krenz empörten Bruderküsse für die Öffentlichkeit und manche Heimtücke unter vier und mehr Augen. Undurchsichtig wurde, was Gorbatschow mit Kohl verhandelte. In beiden Politbüros wurden die in der Bevölkerung immer offener kritisierten Probleme totgeschwiegen. Details muss man selbst lesen.
Der Autor stellt in den Medien kolportierte Falschmeldungen über die Oktobertage 1989 richtig. Will Krenz sich vom eigenen Versagen reinwaschen? Und wenn es so wäre? Er ist ehrlich, was man bei anderen Akteuren 1989 vermisst.
War Michael Gorbatschow ein Verräter an der DDR und auch an der Sowjetunion? Oft war er ehrlich und doch ein Heuchler, und das von einem Kommunisten der Sowjetunion, von der wir siegen lernen sollten. Krenz: »Ich gehöre zu den DDR-Bürgern, die nach 1945 mit einem durchweg positiven, heute würde ich sagen: mit einem idealisierten Bild von der Sowjetunion aufwuchsen.« (S. 69)
Egon Krenz: »Wir und die Russen. Die Beziehungen zwischen Berlin und Moskau im Herbst ´89«, edition ost, 304 Seiten, 16,99 €
Prof. Dr. sc. phil. Wolfgang Triebel, Jahrgang 1930, Neulehrer, Studium Pädagogik, Germanistik, Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin; später Hochschuldozent und Professor für Politikwissenschaft an der HUB; erzwungener Vorruhestand 1990, danach Forschung und Veröffentlichungen über deutsche Nachkriegsgeschichte, Aufbereitung des Nachlasses Otto Grotewohls über deutschen Militarismus und zur Friedenspolitik.