31. Januar 2024. Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag. Gerade hat die Holocaust-Überlebende Eva Szepesi ihre Rede beendet. Jetzt steht Marcel Reif am Rednerpult, der als Sportjournalist im deutschen Fernsehen einem Millionenpublikum bekannt wurde.
Er spricht über seine Kindheit in Polen, wo er 1949 geboren wurde. Seine Familie wanderte Anfang der 1950er Jahre aus, »als sich wieder antisemitische Strömungen breitmachten«. Der Vater hatte den Holocaust überlebt, die meisten aus seiner Familie nicht. Über den »letztlich nicht tragfähigen Umweg Israel« seien sie dann nach Deutschland gekommen, in »das Land der Täter«, aber auch der Freunde und Verwandten, die helfen konnten.
Er spricht vor allem über seinen Vater, berichtet, dass diesen »der spätere Krupp-Manager Berthold Beitz aus einem Todeszug Richtung Vernichtungslager geholt und ihm damit das Leben gerettet« hat. Reif: »Ohne Beitz würde ich heute nicht hier stehen.«
Und er berichtet, vor ein paar Jahren habe ihn in Berlin ein Mann auf der Straße angesprochen, habe ihn gefragt, ob er ein paar Minuten Zeit erübrigen könne für einen Kaffee, denn er wolle ihm etwas über seinen Vater erzählen: »Auf der Flucht durch die Wälder hatte Vater ihn, den Vierjährigen, auf den Schultern getragen und ihm so das Leben gerettet.«
All das wisse er erst heute, sagte Reif, denn: Der Vater »wollte diesen verschlossenen Raum in unserem Lebenshaus auch nicht mal einen Spalt breit öffnen«. Erst Jahre nach seinem Tod sei offenbar das Schweigegelöbnis der Mutter abgelaufen, und sie durfte sprechen, kundtun, was geschehen war.
Viel zu spät habe er begriffen, so beendete Reif seine Rede, dass der Vater ja doch gesprochen habe und ihm all das gesagt und mitgegeben habe, »was ihm wichtig war; was er gerettet hatte, als Essenz destilliert aus all dem Unmenschlichen der Häscher und Mörder, aus dem Übermenschlichen eines so mutigen Berthold Beitz, aus dem, was er selbst geleistet hatte mit dem kleinen Jungen, der seine eigene Menschlichkeit abgefragt hatte«.
Das alles habe sein Vater in einen kleinen Satz gepackt, als Mahnung, als Warnung, als Ratschlag oder als Tadel, in dem warmen Jiddisch, das er so sehr vermisse: »Sej a Mensch!«
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14 Tage vor dieser Gedenkstunde im Deutschen Bundestag erschien in Ossietzky meine Rezension des Buches Es stand in der Zeitung von Axel Redmer, ein inzwischen schon in dritter Auflage erschienenes mustergültiges Kompendium mit Artikeln zur Regionalgeschichte aus dem rheinland-pfälzischen Landkreis Birkenfeld, meiner alten Heimat. Ein Kapitel des Buches beschäftigt sich mit dem New Yorker Stadtteil Washington Heights. Dort wohnten ab 1934, teils vorübergehend, mitunter bis an ihr Lebensende, rund 100 überwiegend jüdische Flüchtlinge aus der Nahe-Region, 30 000 kamen insgesamt während der NS-Zeit hierher ins Exil, vor allem aus Südwestdeutschland.
Auf Seite 243 des Buches ist das Foto eines Schildes aus der Cafeteria des jüdischen Museums am Central Park in New York abgedruckt, um zu verdeutlichen, wie sehr die Alltagssprache in der Migrantenmetropole am Hudson seit den 1930er Jahren Wörter aus dem Sprachschatz jüdischer NS-Flüchtlinge aufgenommen hat. Das Schild fordert die Besucherinnen und Besucher dazu auf, menschlich zu bleiben, und das mit den Worten, die auch Marcel Reifs Vater gekannt hat: BE A MENSCH.
Die Rede Marcel Reifs ist unter www.bundestag.de dokumentiert. Der Text »Geschichte in Geschichten« über das Redmer-Buch erschien am 13. Januar in Ossietzky 1/2024.