Diese Ernst-Barlach-Ausstellung in der Werkstattgalerie Hermann Noack in Berlin-Charlottenburg sollte eigentlich schon zum 150. Geburtstag Barlachs stattfinden, sie war aber damals durch Corona verhindert worden. Die 1897 gegründete Kunstgießerei Noack, die heute in vierter Generation von Hermann Noack weitergeführt wird, hat das ganze Lebenswerk Barlachs gegossen und fühlt sich deshalb »ihrem« Künstler besonders verpflichtet. Sie zeigt nun in ihrem neuen Umfeld – in einer eigenen, großzügig angelegten Werkstattgalerie – nicht nur die zu Lebzeiten Barlachs in ihrer Gießerei selbst angefertigten Güsse, sondern darüber hinaus eine repräsentative Schau der Bronzen und Arbeiten auf Papier, die sich in ihren Themen und Motiven ergänzen.
Wir betrachten den »Kopf des Güstrower Ehrenmals« (Bronze, 1930), des »Schwebenden Engels« im Dom zu Güstrow, der – den Toten des Ersten Weltkriegs gewidmet – zu einer monumentalen Schicksalsfigur, zu einem unvergesslichen Symbol des ewigen Schweigens wurde. Dieser Bote aus einer anderen Welt – eine Replik schwebt über dem Ausstellungsraum –, der keine Flügel braucht, um zu schweben, braucht auch die Augen nicht mehr zu öffnen, um alles zu sehen und alles zu wissen. Dass Barlach in den Engel »das Gesicht der Käthe Kollwitz hineingekommen« war, »ohne dass ich es mir vorgenommen hatte«, wie er äußerte, ist wohl doch nicht so zufällig gewesen, denn das Schicksal der Käthe Kollwitz war damals bereits ein Synonym für die um ihre gefallenen Söhne trauernden Mütter.
»Sehnsüchtige Mittelstücke zwischen einem Woher und Wohin« hat Barlach seine Gestalten genannt. Ihm ging es um das Aufspüren und Sichtbarmachen elementarster menschlicher Befindlichkeiten. Seinen Gebeugten und Bedrückten, Leidenden, Sorgenden, Verzweifelten, mit ihren Traumvisionen Kämpfenden, Wegsuchenden, Liebenden, Widerstand Leistenden stehen Gestalten gegenüber, die aus aller erdhaft düsteren Gebundenheit gelöst erscheinen, schweigend Verharrende, selbstvergessen Lauschende, Staunende, Hoffende, im Universum Forschende, Lesende, Meditierende, Singende, Musik Empfangende. Hinter der Augenfälligkeit der äußeren Erscheinungen wollte er das Verborgene, hinter der Maske der Wirklichkeit die andere Wahrheit, hinter dem äußerlich Aufgeprägten, Fremden das Eigene, nur dieser Gestalt Eigentümliche, Identische entdecken.
Wie eine Initialzündung war seine Reise nach Russland 1906 gewesen: Er war überwältigt von der Grenzenlosigkeit der Steppe, von der Verlorenheit der Menschen in der endlosen Weite der Landschaft. »Der Melonenschneider« (Bronze, 1907), ein rastender Bauer, lebt noch in unmittelbarem Bezug zur Erde, dem Boden, dem er unterworfen ist. Schon da zeigt sich, wenn auch noch äußerlich verstanden, die menschliche Geworfenheit, die auch als Verfallenheit bezeichnet werden kann.
»Der Sterndeuter« (1909) wie »Der Sonnenanbeter« (1910/11) forschen in der Unendlichkeit des Raumes über sich, sie sind ausgestattet mit einem Sensorium, das sie über sich hinaus zu denken und zu fragen, das sie Botschaften aus dem Universum empfangen lässt. Ihr Körper ist fest mit der Erde verbunden, doch ihre Gedanken schweben in einer Sphäre hoch über dieser Welt. Diese Gleichzeitigkeit der Erdnähe und einer inneren Unruhe, die sie forttreibt oder minder stark immer spürbar ist, diese Zwiegesichtigkeit, diese Zugehörigkeit zu zweierlei Sphären, einer sinnlichen und einer übersinnlichen, kennzeichnen die plastischen Gestalten Barlachs.
Der Ausdruck, die Gestik, das Physiognomische dominieren in Barlachs Gestalten, dagegen geht der Bildhauer in der Körperbehandlung andere Wege. Der nackte Körper hat ihm nichts bedeutet, seine Figuren sind in Gewänder gehüllt, die ihnen Schutz und Geborgenheit bieten sollen gegenüber Naturgewalten, Schicksalsschlägen oder den Bedrohungen der Zeit. In ihrer plumpen, undurchdringlichen Stofflichkeit sind sie aber auch Ausdruck eben jener Erdenschwere, die die Figuren nicht loslässt. Doch der Rhythmus ihrer Linien und Flächen geht zugleich in den die Figuren umgebenden Raum über, setzt die Aufgewühltheit der Gefühlsregungen mit dem Anruf von außen her oder von oben herab in Beziehung. Andererseits kann der innerseelische Gehalt aber auch von einer ruhigen, sich wölbenden Silhouette zurückgehalten werden. So wird ein vielfältiges Spannungsgefüge von innerer Erregung und äußerer Form erzeugt.
»Der Spaziergänger« (1912) muss sich den Naturgewalten wie der Zeit entgegenstemmen. Um gemeinsame Erkenntnis sind die »Lesenden Mönche II« (1921) bemüht, in ungewisser Vorahnung hat sich das »Schwangere Mädchen« (1924) in ihr Gewand verhüllt, während in »Ruhe auf der Flucht« (1924) Joseph schützend für Maria sorgt. Die ausdrucksvolle Gruppe »Das Wiedersehen« (1926), den sich dem ungläubigen Thomas offenbarenden Christus darstellend, vermittelt ein Sich-Stärken, Vertrauen und Zuversicht. »Der singende Mann« (1928) – das befreiende Singen soll alle düsteren Gedanken und bösen Vorahnungen vertreiben. In dem trotz grausamer Behinderung tapfer-heiter weiterschreitenden »Vergnügten Einbein« (1933/34) bricht dann erkennbar Barlachs grimmiger Humor durch.
»Der Buchleser« (1936) – »er liest neugierig, zuversichtlich, kritisch«, sagt Barlach – ist als Akt der Selbstbehauptung zu verstehen, denn der Bildhauer hatte kurz zuvor in einem Protestschreiben an Joseph Goebbels gegen die Beschlagnahmung seines Bandes »Zeichnungen« Einspruch erhoben.
»Große Schwere und großen Schmerz« zu ertragen, hat Barlach visionär vorausgeahnt. Das Ausgesetztsein einem schrecklichen Schicksal gegenüber ist von ihm früh Gestalt gegeben geworden (»Panischer Schrecken«, 1912; »Das Grauen«, 1923). Seine persönliche Situation spiegelt sich dann im »Wanderer im Wind« (1934) wider: »Statt römische Armgesten zu vollziehen (gemeint ist der Hitlergruß – K.H.), ziehe ich den Hut in die Stirn.« In der Figur des »Flötenbläsers« (1936) gelang ihm dann noch einmal ein ähnlich schwereloser und heiterer, von der Zeit ganz unberührter Ton wie im »Fries der Lauschenden« (1935), jenen 8 schlanken Figuren, rhythmisch zusammengehalten zu einer Gemeinschaft – sie lauschen nach außen und in sich hinein. Das Lyrische bot sich ihm nun als Ausweg aus der Einsamkeit und Verfemung dieser Zeit an.
Zu ihnen gesellt sich dann noch eine ganz stille Figur, der »Zweifler« (1931), der kniend die Hände ringt, in qualvoller Ungewissheit, den Blick fragend-anklagend, aber auch fast schon wieder hoffend emporgerichtet. Dieser Abgesang des Plastikers Barlach ist erschütternd. Man glaubt ihn selbst, den immer schwerer Geprüften, die Hände ringen zu sehen wie diesen Zweifler, wenn er in seinem Güstrower Atelier daran dachte, was draußen seinen Geschöpfen geschah und was noch geschehen würde. 1938 erlag er einem Herzschlag.
Keine der Barlachschen Gestalten begnügt sich mit dem Sein, jede will, hoffend und hartnäckig, das »Werden«. Auch wenn sie eine neue Bewusstseinsebene erreichen, bleibt ihre Unruhe bestehen.
Künstler des Soseins – Zum 150. Geburtstag von Ernst Barlach. Werkstattgalerie Hermann Noack, Am Spreebord 9, 10589 Berlin, Do 12 – 17 Uhr, Fr und Sa 12 – 19 Uhr, So 12 – 17 Uhr, bis 3. Juli 2022.