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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Autoritäre Gleichschaltung der Geschichte

Von einem Beschluss zur »Aus­lö­schung der Erin­ne­rung« schrieb Lucia­na Castel­li­na, die gro­ße alte Dame der ita­lie­ni­schen Kom­mu­ni­sten und ehe­ma­li­ge EU-Abge­ord­ne­te, in der Tages­zei­tung il mani­festo am 24. Sep­tem­ber, über­ein­stim­mend mit dem zwei Tage zuvor aus­ge­spro­che­nen Urteil des Turi­ner Pro­fes­sors für Zeit­ge­schich­te Ange­lo D›Orsi über eine faust­dicke »Geschichts­lü­ge, ein Pro­dukt heu­ti­gen poli­ti­schen Elends und mora­li­schen Verfalls«.

Bei­de bezo­gen sich auf jene vom EU-Par­la­ment am 19. Sep­tem­ber ver­ab­schie­de­te Reso­lu­ti­on zur »Bedeu­tung des euro­päi­schen Geschichts­be­wusst­seins für die Zukunft Euro­pas«. Der Titel erin­nert nicht von unge­fähr an Geor­ge Orwells Dik­tum: Wer die Ver­gan­gen­heit beherrscht, beherrscht die Zukunft, und wer die Gegen­wart kon­trol­liert, kon­trol­liert auch die Ver­gan­gen­heit. Wer also braucht ein ver­ein­heit­lich­tes »euro­päi­sches Geschichts­be­wusst­sein« (kann es das über­haupt geben?) und zu wel­chem Zweck?

Ange­sichts der zuneh­men­den Schwie­rig­keit nach der längst ver­blass­ten Euro­pa-Idee vom »christ­li­chen Abend­land« eines Kon­rad Ade­nau­er, der rea­len EU und ihren Insti­tu­tio­nen einen tie­fe­ren, die Natio­nen ver­bin­den­den Sinn zu geben, wur­de schon seit län­ge­rem der Ruf nach einem neu­en ideo­lo­gi­schen Nar­ra­tiv laut, eben jenem »ein­heit­li­chen Geschichts­be­wusst­sein«, das aller­dings in sei­nen nun prä­sen­tier­ten For­de­run­gen tota­li­tär anmu­tet. Der jüng­ste Brüs­se­ler Beschluss ist nicht der erste Ver­such, die För­de­rung der Ein­sicht in die dia­lek­ti­sche Kom­ple­xi­tät der Geschich­te durch eine ein­sei­ti­ge Erin­ne­rungs­kul­tur zu erset­zen. Man den­ke nur an die bereits nach der Jahr­tau­send­wen­de EU-weit ein­ge­führ­ten Gedenk- und Erin­ne­rungs­ta­ge (zum Bei­spiel an den Holo­caust und die soge­nann­ten Foi­be-Mas­sa­ker) und deren stark ver­ein­fach­te histo­ri­sche Kontexte.

In Ita­li­en schlu­gen die bestehen­den anti­fa­schi­sti­schen Orga­ni­sa­tio­nen, allen vor­an der natio­na­le Ver­band der Par­ti­sa­nen ANPI, sofort Alarm und ver­fass­ten Pro­test­re­so­lu­tio­nen gegen den Beschluss, der de fac­to auch die Aus­lö­schung des anti­fa­schi­sti­schen Geden­kens an die gro­ßen Opfer der Kom­mu­ni­sten in der Resi­sten­za impli­ziert, ein­schließ­lich deren in der ita­lie­ni­schen Öffent­lich­keit prä­sen­ten Sym­bo­le und Stra­ßen­na­men. Eigent­lich müss­te die­ser jüng­ste Par­la­ments­be­schluss den Ein­spruch einer demo­kra­ti­schen EU-Öffent­lich­keit her­vor­ru­fen, wenn es eine sol­che gäbe. Doch die Stel­lung­nah­men hal­ten sich bis­her in engen Gren­zen – jeden­falls in den gro­ßen Medi­en, in den sozia­len Medi­en mag es anders sein.

Immer­hin hat­te schon Han­nah Are­ndt nach dem Krieg dar­auf hin­ge­wie­sen, dass tota­li­tä­re Ideo­lo­gien auch in demo­kra­tisch ver­fass­ten Syste­men durch­aus mög­lich sind. (Und Theo­dor W. Ador­no hielt noch 1959 das »Nach­le­ben des Natio­nal­so­zia­lis­mus in der Demo­kra­tie für poten­ti­ell bedroh­li­cher denn das Nach­le­ben faschi­sti­scher Ten­den­zen gegen die Demo­kra­tie«. Letz­te­re leb­ten ja in der BRD erst in den 60er Jah­ren als gewähl­te poli­ti­sche Par­tei (NPD) wie­der auf und haben seit der natio­na­len Ein­heit inzwi­schen mit der AfD ein beun­ru­hi­gen­des Aus­maß erreicht.)

Dass Deutsch­land bei der Schaf­fung eines gefor­der­ten euro­päi­schen Bewusst­seins eine ent­schei­den­de Stim­me zukommt, ergibt sich schon aus sei­ner wirt­schaft­li­chen Füh­rungs­po­si­ti­on, doch auch die auto­ri­tä­ren Regie­run­gen der öst­li­chen Visegrád-Staa­ten – Polen, Tsche­chi­en, Slo­wa­kei und Ungarn – möch­ten ihren mili­tan­ten Anti­kom­mu­nis­mus (Anti­so­wje­tis­mus) ein­brin­gen. Und die­se Ver­bin­dung erweist sich in der EU-Reso­lu­ti­on als rela­tiv pro­duk­tiv und ver­deut­licht auch, gegen wen die poli­ti­sche Stoß­rich­tung zielt.

In der Bun­des­re­pu­blik sind wir ver­traut mit einer lan­gen Ket­te von Revi­sio­nis­men, aus­ge­hend von dem der Gesell­schaft zugrun­de­lie­gen­den Anti­kom­mu­nis­mus mit der bewusst auf »rot = braun« ver­kürz­ten Tota­li­ta­ris­mus­theo­rie von Han­nah Are­ndt aus den 50er Jah­ren bis hin zu Ernst Nol­te. Des­sen frü­he The­sen aus eben jenen Nach­kriegs­jah­ren wur­den jedoch erst salon­fä­hig, als die wirt­schaft­lich star­ke Bun­des­re­pu­blik in den 80er Jah­ren auch end­lich ihre poli­ti­sche Zwer­gen­rol­le der Nach­kriegs­jahr­zehn­te ver­las­sen woll­te, wozu sich bald Gele­gen­heit erge­ben soll­te. Im »Histo­ri­ker­streit« (1986/​87) wur­de das histo­ri­sche Gelän­de dann schon neu ver­mes­sen, das kurz dar­auf mit der »Wen­de« und der soge­nann­ten Wie­der­ver­ei­ni­gung zwar räum­lich noch erheb­lich erwei­tert wer­den konn­te (um gan­ze fünf neue Län­der und eine Volks­wirt­schaft von 16 Mil­lio­nen Men­schen), aber ideo­lo­gisch im Gan­zen eine star­ke Ver­en­gung erfuhr. Es kam näm­lich kei­nes­wegs zu einer ratio­na­len Aus­ein­an­der­set­zung und even­tu­el­len neu­en Sicht auf die deutsch-deut­sche Geschich­te, son­dern die alte Tota­li­ta­ris­mus­theo­rie erhielt star­ken Auf­trieb durch die Wie­der­be­le­bung des Anti­kom­mu­nis­mus nach dem vor­läu­fi­gen Ende des »Kom­mu­nis­mus« real­so­zia­li­sti­scher Prä­gung. Und damit wur­de auch gleich­zei­tig der in der DDR nach­träg­lich als »ver­ord­net« dif­fa­mier­te Anti­fa­schis­mus ent­sorgt, wel­cher in der BRD sowie­so nie staats­tra­gend war, son­dern immer als kom­mu­nis­mus­ver­däch­tig galt. Der Anti­kom­mu­nis­mus hat­te sich von Anfang an in der BRD auch als ein die Deut­schen ent­la­sten­des Instru­ment dafür erwie­sen, vor 1945 kei­ne Anti­fa­schi­sten bezie­hungs­wei­se Nazi-Geg­ner gewe­sen zu sein.

Und wer seit­dem auch einem Ber­tolt Brecht nicht glau­ben mag, dass »der Schoß noch frucht­bar ist, aus dem das kroch«, was Theo­dor W. Ador­no schon 1967 in sei­ner jüngst neu publi­zier­ten Wie­ner Rede »Aspek­te des neu­en Rechts­ra­di­ka­lis­mus« bestä­ti­gen konn­te, der muss sich eben heu­te über den erneu­ten Auf­trieb rechts­extre­mer, pro­to- und post­fa­schi­sti­scher Kräf­te und Par­tei­en in Deutsch­land und euro­pa­weit wun­dern. Eine Déjà-vu-Ein­sicht könn­te alle wis­sen las­sen, dass from­me Reden und ver­stärk­te Sicher­heits­kräf­te sie nicht ein­däm­men werden.

Doch histo­ri­sches Wis­sen wird nicht nur aus dem Schul­un­ter­richt weit­ge­hend ent­fernt, son­dern längst kön­nen zu Mei­nun­gen ent­stell­te Fak­ten je nach aktu­el­lem Bedarf umge­deu­tet wer­den. Nur ein Bei­spiel aus den vie­len Punk­ten des EU-Beschlus­ses (nach­les­bar unter: www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2019-0021_DE.html) ). Es zeigt, dass man nun offen­bar die jun­gen Euro­pä­er in Zukunft auch Fol­gen­des glau­ben machen will:

Als Anlass und De-fac­to-Beginn des Zwei­ten Welt­kriegs soll von nun an nicht mehr der deut­sche Über­fall auf Polen, son­dern der Deutsch-Sowje­ti­sche Nicht­an­griffs­pakt gel­ten, ver­kürzt Hit­ler-Sta­lin-Pakt, der am 23. August 1939 unter­zeich­net wur­de. Das Datum soll in der EU künf­tig als »Tag des Geden­kens an die Opfer tota­li­tä­rer Regime« began­gen wer­den. Kein Wort über die Vor­ge­schich­te und die geschei­ter­ten Ver­su­che Sta­lins, sich mit den West­mäch­ten gegen Hit­ler zu ver­bün­den. Nein, tout court: Wie Hit­ler habe auch Mos­kau »das Ziel der Welt­erobe­rung« ver­folgt – Täter und Opfer ver­schwim­men mit­ein­an­der, wer­den aus­tausch­bar, und der Ver­nich­tungs­krieg der Deut­schen, der cir­ca 27 Mil­lio­nen Sowjet­bür­ger umbrach­te, ver­schwin­det unter ande­rem. Ent­spre­chend umge­schrie­ben wer­den sol­len in Zukunft die Schul­bü­cher. Die nor­ma­le Kom­ple­xi­tät der Geschichts­kennt­nis wird durch eine ein­sei­ti­ge Erin­ne­rungs­kul­tur ersetzt. Dabei ent­spricht die wei­te­re Ver­fla­chung, Bana­li­sie­rung und Ver­fäl­schung wider­sprüch­li­cher gesell­schaft­li­cher Ver­hält­nis­se genau den­je­ni­gen zer­stö­re­ri­schen popu­li­sti­schen Ten­den­zen, die man vor­gibt, in Euro­pa bekämp­fen zu wollen.

Deut­lich wird in dem skan­da­lö­sen Beschluss der EU-Par­la­men­ta­ri­er, dass die Geschich­te nicht mehr ein kom­ple­xes Stu­di­en­ob­jekt ist, son­dern urtei­len­des Sub­jekt, das man je nach Erfor­der­nis ein­set­zen kann. Die­ser Gebrauch von Geschich­te ist nicht prin­zi­pi­ell neu, wird aber hier in einer Wei­se pro­pa­giert, die eine regel­rech­te Gleich­schal­tung vor­sieht. Und wenn – inspi­riert von den Visegrád-Staa­ten – die Rus­sen im sel­ben Atem­zug auf­ge­for­dert wer­den, sich end­lich der Auf­ar­bei­tung ihrer tota­li­tä­ren Geschich­te zu stel­len, so ent­behrt auch das der Ein­sicht in die Ent­wick­lung der letz­ten drei Jahr­zehn­te in Russ­land. Und müss­te dann nicht eigent­lich auch die Fra­ge nach dem Nach­kriegs­um­gang mit den faschi­sti­schen Eli­ten inner­halb der EU auf­tau­chen? Doch das gehört zu den Tabus des Westens und auch der EU, eben­so wie die bis heu­te nicht erfolg­te ange­mes­se­ne Ent­schä­di­gung der mei­sten euro­päi­schen Kriegs­op­fer sei­tens der Bundesrepublik.

Der neue ita­lie­ni­sche EU-Par­la­ments­prä­si­dent Davi­de Sas­so­li, der weiß, dass zum Bei­spiel die ita­lie­ni­schen Mili­tär­in­ter­nier­ten trotz Gerichts­ur­tei­len zu ihren Gun­sten bis­her leer aus­ge­gan­gen sind, hat sich gemü­ßigt gefühlt, die EU-Reso­lu­ti­on auch damit zu ver­tei­di­gen, dass eben vor fünf­zig Jah­ren rus­si­sche Pan­zer in Prag gestan­den hät­ten, also inner­halb der heu­ti­gen EU. Nicht erwähnt hat er aller­dings die euro­päi­sche Dul­dung bis zur Unter­stüt­zung des Staatstreichs in Grie­chen­land (1967) oder der Dik­ta­tu­ren in Spa­ni­en und Por­tu­gal bis 1974. Ganz zu schwei­gen von der Zer­schla­gung Jugo­sla­wi­ens. Die NATO wird in dem Beschluss denn auch als ein Grün­dungs­fak­tor der EU gewür­digt – aber gera­de deren mas­si­ve Trup­pen­prä­senz ent­lang der EU-Ost­gren­ze lässt auch heu­te nichts Gutes erwarten.

Das gefor­der­te gemein­sa­me Geschichts­bild mit Aner­ken­nung aller »tota­li­tä­ren« Ver­bre­chen soll denn auch vor allem der »Stär­kung der Wider­stands­kraft Euro­pas gegen die aktu­el­len Bedro­hun­gen von außen« (!) die­nen. Das heißt, dass die­se EU-Reso­lu­ti­on wohl auch als ein Bei­trag zur ideo­lo­gi­schen Kriegs­vor­be­rei­tung ange­se­hen wer­den muss – und offen­bar wie­der gegen Russland.