Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Ausnahmezustände

Der ame­ri­ka­ni­sche Histo­ri­ker Jef­frey Herf hat die Ent­wick­lung der deut­schen Geschich­te von der Wei­ma­rer Repu­blik in die natio­nal­so­zia­li­sti­sche Hit­ler-Dik­ta­tur als Ver­bin­dung von Reak­ti­on und tech­ni­scher Moder­ne gekenn­zeich­net: eine wider­sprüch­li­che poli­tisch-kul­tu­rel­le Mischung aus Natio­na­lis­mus und fort­schritts­gläu­bi­ger Tech­nik-Umar­mung (zum Bei­spiel von neu­en Mas­sen­me­di­en und Tötungs-Maschinen).

Abge­se­hen davon, dass Herf sei­ne Ana­ly­se-Para­me­ter inzwi­schen längst auch auf das eige­ne Land, die USA, bezie­hen könn­te, eben­so wie auf Russ­land und Chi­na, gewin­nen sei­ne Befun­de in Deutsch­land und Euro­pa gera­de wie­der beklem­men­de Aktua­li­tät. Der Natio­na­lis­mus kehrt mit Macht zurück, in den drei Groß­mäch­ten sogar als Sehn­sucht nach der Dik­ta­tur bzw. als prak­ti­zier­te Dik­ta­tur, in Euro­pa als Zer­fall der Gemein­schaft zugun­sten wuchern­der Par­ti­ku­lar­in­ter­es­sen einer zuneh­men­den Zahl popu­li­sti­scher Regie­run­gen und Bewegungen.

Das Land in sei­ner Mit­te, Deutsch­land, macht sei­ne Gren­zen dicht, inspi­riert vom Frem­den­hass einer inzwi­schen 20 Pro­zent star­ken Par­tei, deren Geist und Dik­ti­on längst auch von ande­ren Par­tei­en über­nom­men wur­de, die sich immer noch für die Mit­te hal­ten. Doch die­ser Mit­te ist längst das Maß abhan­den­ge­kom­men, an dem sich der Grad ihrer Zivi­li­tät fest­ma­chen lie­ße. Gespie­gelt und ange­trie­ben von der Mehr­heit der Medi­en, ist sie viel­mehr unent­wegt damit beschäf­tigt, uns in den Aus­nah­me­zu­stand hin­ein­zu­re­den, innen­po­li­tisch und außenpolitisch.

Es ist dies ein Aus­nah­me­zu­stand, der einst­wei­len noch – gefähr­lich genug – im Men­ta­len west, aber sehr weit ist der Weg ins Kon­sti­tu­ti­ve dann auch wie­der nicht. Und das hie­ße Dik­ta­tur, Weg in die Bar­ba­rei. Inter­es­san­ter­wei­se sieht Fried­rich Merz, der näch­ste Bun­des­kanz­ler, eben­so wie sein baye­ri­scher Side­kick Söder, der in bezeich­nen­der Dik­ti­on von der »letz­ten Patro­ne« der Demo­kra­tie schwa­felt, die Gefahr aus­schließ­lich bei der AfD. Das könn­te sich für die deut­sche Demo­kra­tie als fol­gen­schwe­rer Irr­tum erwei­sen. Sei­ne eige­ne Par­tei und auch die ande­ren Par­tei­en »der Mit­te« sind zu unter­schied­li­chen Gra­den längst vom Den­ken in Aus­nah­me­zu­stän­den affiziert.

Das zeigt sich in einer Migra­ti­ons­po­li­tik, die aus den ver­schie­den­sten Grün­den zu uns geflüch­te­te Men­schen prin­zi­pi­ell nur noch als Objek­te von Abschie­bun­gen betrach­tet, einer Rüstungs­po­li­tik, die Kriegs­tüch­tig­keit offen­bar bis zum Ruin des Volks­ver­mö­gens vor­an­trei­ben will, einer Außen­po­li­tik, die das viel­fäl­ti­ge Euro­pa bis zur Schmerz­gren­ze schwach­re­det und auf den an die Macht zurück­ge­kehr­ten US-Prä­si­den­ten Trump starrt wie das Kanin­chen auf die Schlan­ge. Da ist frei­lich einer, der jeden­falls so tut, als gebie­te er über den Aus­nah­me­zu­stand, was die neue deut­sche Regie­rungs­spit­ze offen­bar mit einer Mischung aus Furcht und klamm­heim­li­chem Neid erfüllt. Die Phan­tas­men dar­über, was man so alles gleich am ersten Regie­rungs­tag grund­stür­zend ändern will, spre­chen jeden­falls dafür – und unter­gra­ben schon wegen der Unmög­lich­keit ihrer Ver­wirk­li­chung das Ver­trau­en in die Demo­kra­tie noch weiter.

Das Den­ken in Aus­nah­me­zu­stän­den zeigt sich nicht zuletzt in der Vor­stel­lung davon, wel­chen Stel­len­wert Sozi­al- und Bil­dungs­po­li­tik aktu­ell noch haben soll. Sie sind die Grund­la­gen unse­rer Zivil­ge­sell­schaft und ver­kom­men nun end­gül­tig zu Rest­po­si­tio­nen des Mach­ba­ren für den Fall, das noch etwas übrig ist, nach­dem die »gro­ßen Her­aus­for­de­run­gen der Gegen­wart« fis­ka­lisch bedient wor­den sind. Ja, es ist wich­tig, die AfD im Blick zu behal­ten, und Nazis sol­len nicht genug par­la­men­ta­ri­sche Macht bekom­men, um die demo­kra­ti­sche Par­ty zu been­den, an der sie gera­de teil­neh­men (um einen ihrer Vor­den­ker zu para­phra­sie­ren). Wer aber glaubt, gesell­schaft­li­che Pro­ble­me zu lösen, indem er sich undif­fe­ren­zier­te und ent­wür­di­gen­de Paro­len zu eigen macht, statt die Pro­ble­me, die zum Bei­spiel die Migra­ti­on schon ihrer Grö­ßen­ord­nung wegen zwei­fel­los auf­wirft, in den Rah­men eines zukunfts­wei­sen­den Gesell­schafts­bil­des zu stel­len, der wird selbst zum Pro­blem für die Demo­kra­tie. Nicht, dass es dar­um gin­ge, Kri­sen zu leug­nen, aber Kri­sen­ma­nage­ment ist noch lan­ge kei­ne Zukunftsidee.

Es gab und gibt sie, die trau­ma­ti­sier­ten, die radi­ka­li­sier­ten, die indok­tri­nier­ten Migran­ten aus Kriegs­ge­bie­ten, die Autos in Men­schen­men­gen steu­ern und wahl­los Mit­men­schen töten, die isla­mi­stisch moti­vier­te Anschlä­ge pla­nen oder Amok lau­fen. Vier sol­cher Taten in nur drei Mona­ten von Dezem­ber bis Febru­ar sind vie­le, womög­lich einem per­ver­sen Nach­ah­mungs­trieb geschul­det. Trotz­dem steht der poli­tisch-media­le Atten­tis­mus, die Erre­gung dar­über jedes Mal wei­ter und bis in die Hyste­rie zu stei­gern, in kei­nem Ver­hält­nis zur tat­säch­li­chen Bedro­hung. Wir wer­den dar­an gewöhnt, die Welt grund­sätz­lich gewalt­för­mig zu den­ken, nicht nur dort, wo sie es wirk­lich ist. Geflüch­te­te aus Afgha­ni­stan und Syri­en, weni­ger aus der von Russ­land über­fal­le­nen Ukrai­ne, wer­den als Aggres­so­ren wahr­ge­nom­men, nicht als Mit­men­schen. Unser Inter­es­se an ihrem Leben, ihrer Kul­tur, ihren beson­de­ren Geschich­ten ist längst unter­ge­gan­gen im Stru­del der all­seits geschür­ten Angst vor dem Fremden.

Es zeugt von sitt­li­chem Ver­fall, gan­ze Men­schen­grup­pen nicht mehr als Men­schen wahr­zu­neh­men. Lan­ge schon zeigt er sich im Sprach­ge­brauch. Allein aus einem Wort­un­ge­tüm wie »Zustrom­be­gren­zungs­ge­setz« spricht ein kaum noch erträg­li­cher Hang zu ras­si­stisch moti­vier­ter Ver­ding­li­chung; Wor­te wie »Abschie­bung«, »Grenz­kon­trol­len« oder »Zurück­wei­sung« gehen den Poli­ti­kern und Talk­ma­stern der »Mit­te« inzwi­schen glatt über die Lippen.

Die Bun­des­tags­wahl hat gezeigt, dass sich der Gra­ben zwi­schen West und Ost nicht schließt. Wer wis­sen will, wor­an das liegt, sei auf das jüng­ste Buch von Danie­la Dahn, »Der Schlaf der Ver­nunft«, ver­wie­sen. Jeden­falls wäre es falsch, den Erfolg der AfD als Ost-Phä­no­men abzu­tun. Die Wahl­kreis­er­geb­nis­se im Osten sind teils tat­säch­lich volks­par­tei­ar­tig. Um aber bun­des­weit auf über 20 Pro­zent zu kom­men, brauch­te es im Schnitt um die 18 Pro­zent im Westen. (Der Miss­erfolg des BSW hin­ge­gen hat sei­ne Ursa­chen im Westen. Anders als »Ost-Lin­ke«, die ande­re poli­ti­sche Prio­ri­tä­ten set­zen, neh­men »West-Lin­ke« Abstim­mun­gen, die ohne die AfD kei­ne Mehr­hei­ten fin­den, als eine Form von Ver­rat wahr. Oskar Lafon­taine hät­te es wis­sen kön­nen.) Es wird schwie­rig sein, die AfD im Bun­des­tag ein­fach nur aus­zu­gren­zen. Auf die Dau­er wird es inte­gra­ti­ver Stra­te­gien zur Teil­ha­be zumin­dest jener bedür­fen, die an Arbeit an demo­kra­ti­schen Ver­hält­nis­sen noch inter­es­siert sind. Das gilt erst recht für die Wäh­ler der Par­tei. Wich­ti­ger, als noch mehr Schul­den zum Auf­bau von mehr Mili­tär wäre – fürs erste – ein »Son­der­ver­mö­gen« für mehr Bil­dung und sozia­le Teil­ha­be in Ost und West. Viel­leicht mit einem Zivilitätrückholgesetz …

Tech­ni­sche Moder­ni­tät tritt auf den mili­tä­ri­schen, öko­no­mi­schen und infor­ma­tio­nel­len Schau­plät­zen der Welt unter­schied­lich auf. Nicht zuletzt hat sie dem Kapi­ta­lis­mus neue und macht­vol­le öko­no­mi­sche und digi­ta­le Platt­for­men ermög­licht, die uns von der ande­ren Sei­te der bröckeln­den »Atlan­tik­brücke« immer wei­ter beherr­schen; ein The­ma für sich. Ihr Umschlag in die Bar­ba­rei indes­sen läuft immer auf die­sel­be Fol­ge hin­aus: einen umfas­sen­den Ver­lust unse­res Sinns für die Men­schen­wür­de. Den­ken in Aus­nah­me­zu­stän­den, das zur Regel wird, weist den Weg in eine fin­ste­re Zukunft.