Der amerikanische Historiker Jeffrey Herf hat die Entwicklung der deutschen Geschichte von der Weimarer Republik in die nationalsozialistische Hitler-Diktatur als Verbindung von Reaktion und technischer Moderne gekennzeichnet: eine widersprüchliche politisch-kulturelle Mischung aus Nationalismus und fortschrittsgläubiger Technik-Umarmung (zum Beispiel von neuen Massenmedien und Tötungs-Maschinen).
Abgesehen davon, dass Herf seine Analyse-Parameter inzwischen längst auch auf das eigene Land, die USA, beziehen könnte, ebenso wie auf Russland und China, gewinnen seine Befunde in Deutschland und Europa gerade wieder beklemmende Aktualität. Der Nationalismus kehrt mit Macht zurück, in den drei Großmächten sogar als Sehnsucht nach der Diktatur bzw. als praktizierte Diktatur, in Europa als Zerfall der Gemeinschaft zugunsten wuchernder Partikularinteressen einer zunehmenden Zahl populistischer Regierungen und Bewegungen.
Das Land in seiner Mitte, Deutschland, macht seine Grenzen dicht, inspiriert vom Fremdenhass einer inzwischen 20 Prozent starken Partei, deren Geist und Diktion längst auch von anderen Parteien übernommen wurde, die sich immer noch für die Mitte halten. Doch dieser Mitte ist längst das Maß abhandengekommen, an dem sich der Grad ihrer Zivilität festmachen ließe. Gespiegelt und angetrieben von der Mehrheit der Medien, ist sie vielmehr unentwegt damit beschäftigt, uns in den Ausnahmezustand hineinzureden, innenpolitisch und außenpolitisch.
Es ist dies ein Ausnahmezustand, der einstweilen noch – gefährlich genug – im Mentalen west, aber sehr weit ist der Weg ins Konstitutive dann auch wieder nicht. Und das hieße Diktatur, Weg in die Barbarei. Interessanterweise sieht Friedrich Merz, der nächste Bundeskanzler, ebenso wie sein bayerischer Sidekick Söder, der in bezeichnender Diktion von der »letzten Patrone« der Demokratie schwafelt, die Gefahr ausschließlich bei der AfD. Das könnte sich für die deutsche Demokratie als folgenschwerer Irrtum erweisen. Seine eigene Partei und auch die anderen Parteien »der Mitte« sind zu unterschiedlichen Graden längst vom Denken in Ausnahmezuständen affiziert.
Das zeigt sich in einer Migrationspolitik, die aus den verschiedensten Gründen zu uns geflüchtete Menschen prinzipiell nur noch als Objekte von Abschiebungen betrachtet, einer Rüstungspolitik, die Kriegstüchtigkeit offenbar bis zum Ruin des Volksvermögens vorantreiben will, einer Außenpolitik, die das vielfältige Europa bis zur Schmerzgrenze schwachredet und auf den an die Macht zurückgekehrten US-Präsidenten Trump starrt wie das Kaninchen auf die Schlange. Da ist freilich einer, der jedenfalls so tut, als gebiete er über den Ausnahmezustand, was die neue deutsche Regierungsspitze offenbar mit einer Mischung aus Furcht und klammheimlichem Neid erfüllt. Die Phantasmen darüber, was man so alles gleich am ersten Regierungstag grundstürzend ändern will, sprechen jedenfalls dafür – und untergraben schon wegen der Unmöglichkeit ihrer Verwirklichung das Vertrauen in die Demokratie noch weiter.
Das Denken in Ausnahmezuständen zeigt sich nicht zuletzt in der Vorstellung davon, welchen Stellenwert Sozial- und Bildungspolitik aktuell noch haben soll. Sie sind die Grundlagen unserer Zivilgesellschaft und verkommen nun endgültig zu Restpositionen des Machbaren für den Fall, das noch etwas übrig ist, nachdem die »großen Herausforderungen der Gegenwart« fiskalisch bedient worden sind. Ja, es ist wichtig, die AfD im Blick zu behalten, und Nazis sollen nicht genug parlamentarische Macht bekommen, um die demokratische Party zu beenden, an der sie gerade teilnehmen (um einen ihrer Vordenker zu paraphrasieren). Wer aber glaubt, gesellschaftliche Probleme zu lösen, indem er sich undifferenzierte und entwürdigende Parolen zu eigen macht, statt die Probleme, die zum Beispiel die Migration schon ihrer Größenordnung wegen zweifellos aufwirft, in den Rahmen eines zukunftsweisenden Gesellschaftsbildes zu stellen, der wird selbst zum Problem für die Demokratie. Nicht, dass es darum ginge, Krisen zu leugnen, aber Krisenmanagement ist noch lange keine Zukunftsidee.
Es gab und gibt sie, die traumatisierten, die radikalisierten, die indoktrinierten Migranten aus Kriegsgebieten, die Autos in Menschenmengen steuern und wahllos Mitmenschen töten, die islamistisch motivierte Anschläge planen oder Amok laufen. Vier solcher Taten in nur drei Monaten von Dezember bis Februar sind viele, womöglich einem perversen Nachahmungstrieb geschuldet. Trotzdem steht der politisch-mediale Attentismus, die Erregung darüber jedes Mal weiter und bis in die Hysterie zu steigern, in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Bedrohung. Wir werden daran gewöhnt, die Welt grundsätzlich gewaltförmig zu denken, nicht nur dort, wo sie es wirklich ist. Geflüchtete aus Afghanistan und Syrien, weniger aus der von Russland überfallenen Ukraine, werden als Aggressoren wahrgenommen, nicht als Mitmenschen. Unser Interesse an ihrem Leben, ihrer Kultur, ihren besonderen Geschichten ist längst untergegangen im Strudel der allseits geschürten Angst vor dem Fremden.
Es zeugt von sittlichem Verfall, ganze Menschengruppen nicht mehr als Menschen wahrzunehmen. Lange schon zeigt er sich im Sprachgebrauch. Allein aus einem Wortungetüm wie »Zustrombegrenzungsgesetz« spricht ein kaum noch erträglicher Hang zu rassistisch motivierter Verdinglichung; Worte wie »Abschiebung«, »Grenzkontrollen« oder »Zurückweisung« gehen den Politikern und Talkmastern der »Mitte« inzwischen glatt über die Lippen.
Die Bundestagswahl hat gezeigt, dass sich der Graben zwischen West und Ost nicht schließt. Wer wissen will, woran das liegt, sei auf das jüngste Buch von Daniela Dahn, »Der Schlaf der Vernunft«, verwiesen. Jedenfalls wäre es falsch, den Erfolg der AfD als Ost-Phänomen abzutun. Die Wahlkreisergebnisse im Osten sind teils tatsächlich volksparteiartig. Um aber bundesweit auf über 20 Prozent zu kommen, brauchte es im Schnitt um die 18 Prozent im Westen. (Der Misserfolg des BSW hingegen hat seine Ursachen im Westen. Anders als »Ost-Linke«, die andere politische Prioritäten setzen, nehmen »West-Linke« Abstimmungen, die ohne die AfD keine Mehrheiten finden, als eine Form von Verrat wahr. Oskar Lafontaine hätte es wissen können.) Es wird schwierig sein, die AfD im Bundestag einfach nur auszugrenzen. Auf die Dauer wird es integrativer Strategien zur Teilhabe zumindest jener bedürfen, die an Arbeit an demokratischen Verhältnissen noch interessiert sind. Das gilt erst recht für die Wähler der Partei. Wichtiger, als noch mehr Schulden zum Aufbau von mehr Militär wäre – fürs erste – ein »Sondervermögen« für mehr Bildung und soziale Teilhabe in Ost und West. Vielleicht mit einem Zivilitätrückholgesetz …
Technische Modernität tritt auf den militärischen, ökonomischen und informationellen Schauplätzen der Welt unterschiedlich auf. Nicht zuletzt hat sie dem Kapitalismus neue und machtvolle ökonomische und digitale Plattformen ermöglicht, die uns von der anderen Seite der bröckelnden »Atlantikbrücke« immer weiter beherrschen; ein Thema für sich. Ihr Umschlag in die Barbarei indessen läuft immer auf dieselbe Folge hinaus: einen umfassenden Verlust unseres Sinns für die Menschenwürde. Denken in Ausnahmezuständen, das zur Regel wird, weist den Weg in eine finstere Zukunft.