Die Debatte um eine Sinnhaftigkeit von Bundeswehr-Auslandseinsätzen unter einem UN-Mandat ist innerhalb der Partei Die LINKE nicht neu. Bereits Mitte der 1990er Jahre plädierte Gregor Gysi vehement für diese Option. In den letzten Monaten und Wochen ist dieses zur Gretchenfrage innerhalb der Partei mutiert: Wie hältst du es mit den Auslandseinsätzen? Unreflektiert klingen Einsätze unter UN-Mandat plausibel. Warum sollten sich hierbei einzelne Mitgliedsländer, zumal ein wirtschaftlich und politisch starkes Land wie Deutschland solchen kollektiven Verpflichtungen entziehen? Teilweise erinnert die medial stark kommentierte Debatte auch an frühere Kontroversen zwischen »Realos« und »Fundis« in der Partei Die Grünen.
Die UNO ist zur Lösung zwischenstaatlicher Konflikte und internationaler Kooperation alternativlos. Dieses gilt ungeachtet der vorhandenen Defizite, wozu auch vom UN-Sicherheitsrat ohne Veto-Stimmen beschlossene Mandate gehören können. Schließlich wurden in diesem Gremium in der Vergangenheit sogar Kriegseinsätze abgenickt, zuletzt 2011 mit der Tarnbezeichnung »Flugverbotszonen« in Libyen. Das Resultat ist bekannt: Das wirtschaftlich und gesellschaftlich am weitesten entwickelte Land Afrikas wurde zum »failed state«, und bis heute ist nicht in Sicht, wie der Scherbenhaufen wieder zusammengefügt werden kann. Übrigens erfolgte dieser UN-Sicherheitsratsbeschluss ohne deutsche Zustimmung unter dem damaligen Außenminister Guido Westerwelle.
Doch in der aktuellen Debatte geht es (nur vordergründig?) um UN-Blauhelmeinsätze. Diesen liegt das Konzept einer Stabilisierung von fragilen staatlichen Institutionen und der zivilen Infrastruktur zugrunde. Stark propagiert wurde dieses mit dem Begriff der zivil-militärischen Zusammenarbeit (civil-military cooperation – CIMIC) vor allem Anfang der Nuller Jahre vor dem Hintergrund des ISAF-Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan. Unstrittig dürfte sein, dass das Militär bei Naturkatastrophen humanitäre Hilfsdienste durch logistische Unterstützung leisten kann, wenn aufgrund des Umfangs oder der besonderen Umstände der Katastrophe zivile Hilfsorganisationen nicht allein oder schnell genug Hilfsmaßnahmen auf den Weg bringen können. Für erfolgreiche Einsätze dieser Art gibt es einige historische Beispiele. Anders sieht es aber aus, wenn es um humanitäre Hilfeleistungen in politischen Krisenregionen geht. Bei bürgerkriegsähnlichen Zuständen wird von der Zivilbevölkerung die bloße Präsenz von ausländischem Militär als militärischer Auftrag zugunsten einer Konfliktpartei wahrgenommen, was den Prinzipien humanitären Handelns entgegensteht. Vor allem aber stehen dabei militärisch und zivil eingesetzte Ressourcen in einem krassen Missverhältnis.
Ein interessantes CIMIC-Fallbeispiel ist Haiti. Dieses Land wurde seit seiner formalen Unabhängigkeit 1804 wiederholt durch militärische Interventionen der USA drangsaliert. Nach einem von den USA gesteuerten Regime-Change 2004 wurde eine von Brasilianern gestellte UN-Militärmission installiert, mit der aber gravierende Probleme des Landes wie z. B. eine Hungerkatastrophe 2008 nicht angegangen wurden. In dieser Situation erschütterte Anfang 2010 auch noch ein Erdbeben das Land. In kürzester Zeit erreichte eine ganze Flotte mit einem Flugzeugträger die Küste Haitis. Praktisch innerhalb eines Tages wurden 12.000 US-Soldaten an Land gebracht. Infolge von 200 US-Flugbewegungen pro Tag war der Erdbeben-beschädigte Hauptstadt-Flughafen für die Lieferung humanitärer Hilfsgüter etwa durch die UNICEF blockiert. Mehrere Monate nach dem verheerenden Erdbeben wurde Haiti von einer weiteren Katastrophe erschüttert, dem Ausbruch einer Cholera-Epidemie. Erst 2016 wurde von Vertretern der UNO offiziell eingeräumt, dass die Cholera durch nepalesische UN-Soldaten ins Land eingeschleppt wurde und damit die UNO offiziell für den Ausbruch verantwortlich war.
Prinzipiell kann deshalb die zivil-militärische Zusammenarbeit nicht als Rechtfertigung für ein militärisches Eingreifen herhalten, auch wenn in Einzelfällen nützliche Einsätze möglich sind. Nach Ausbruch der Ebola-Epidemie 2014 bis 2016 in Westafrika und aus Furcht vor einem Einschleppen in die USA wurde von Präsident Obama das Pentagon aufgefordert, ein militärisches Kommandozentrum in Liberia einzurichten. Dieser ungewöhnliche Schritt erfolgte in Ermangelung anderer US-Institutionen, denen Obama eine solche Herkulesaufgabe zugetraut hätte. Mit letztlich circa 3.000 Militärkräften wurde die logistische Unterstützung für ein medizinisches Hilfsprogramm sichergestellt. Der eigentliche medizinische Notfalleinsatz erfolgte aber erfolgreich durch 150 kubanische Fachärzte, die mit Spezialisierung auf Katastrophenschutz und Epidemiologie dort ein halbes Jahr tätig waren. Bekanntlich leisteten Ärzte der Brigade »Henry Reeve« auch im letzten Jahr einige (nicht-militärische) Auslandseinsätze gegen die Corona-Pandemie.
Interessant ist auch, dass in den Anfangsjahren des Afghanistaneinsatzes der Bundeswehr noch propagandistisch stark der »humanitäre« Charakter betont wurde, was mit Stichworten wie »Brunnen bohren durch die Bundeswehr« umschrieben wurde. Mittlerweile spielt dies bei der Begründung von Mandatsverlängerungen der etwa ein Dutzend laufenden Bundeswehreinsätze im Ausland kaum noch eine Rolle. Unisono wird nun von »Stabilisierungsmissionen« gesprochen. Wohlgemerkt: Eine Mission deklariert stets eine (militärische) Aufgabe. Um einen Auslandseinsatz politisch zu bewerten, muss man jedoch die Zielsetzung kennen. Afghanistan kann man hier geradezu als Lehrstück ansehen. Nach fast 20 Jahren Bundeswehreinsatz wäre es zwar naheliegend, von einem völligen Scheitern zu sprechen. Genauer betrachtet muss man aber feststellen, dass bis heute keine Zielsetzung in der deutschen Öffentlichkeit kommuniziert wurde, mit der Erfolg oder Misserfolg bewertet werden könnten. Dass aktuell seitens der in Afghanistan präsenten NATO-Mitgliedsländer versucht wird, das noch unter Trump ausgehandelte Friedens- und Truppenabzugsabkommen mit den Taliban zu sabotieren, verweist eindeutig auf andere Zielsetzungen. Auslandseinsätze sind mittlerweile das »Kerngeschäft« der Bundeswehr. Aber was macht man mit einer Institution, der das Kerngeschäft wegbricht? Im Bundeshalt 2021 sind 104 Mrd. Euro Ausgaben für die Funktionsgruppe »Allgemeine Dienste« ausgewiesen. Daran hat die »Verteidigung« als der mit Abstand größter »Dienstleister« des Bundes einen Anteil von 47 Mrd. Euro. Zum Vergleich: Der in diesem Gesamtblock ausgewiesene Anteil für »Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung« beläuft sich auf rund 12 Mrd. Euro.
Ob überhaupt und inwieweit Bundeswehr-Auslandseinsätze vertretbar sind, kann nur anhand von offen kommunizierten Zielen beantwortet werden. Ein entscheidendes Kriterium wäre dabei, inwieweit unterentwickelte Länder zur Erreichung der UN-Nachhaltigkeitsziele gemäß der Agenda 2030 unterstützt werden können. Zumindest für die wichtigsten Bundeswehr-Auslandseinsätze lässt sich jedoch feststellen, dass damit keine Problemlösungen in Verbindung mit anderen NATO- bzw. EU-Partnern erfolgt sind. Das gilt insbesondere für Afghanistan, die südserbische Provinz Kosovo und Mali.
Das von Serbien 1999 zwangsweise abgespaltene Kosovo gilt bis heute als hochgradig korrupt, beherrscht von der albanischen Mafia und meilenweit von Rechtsstaatlichkeit und wirtschaftlicher Entwicklung entfernt. In Mali hat die seit 2013 erfolgende, kriegerische »Stabilisierung« bisher keinen Erfolg gebracht. Die gesamte Region, inklusive der Nachbarstaaten, gilt heute als andauernd destabilisiert, und eine Ausweitung des Bundeswehreinsatzes wird ungeachtet der bisherigen Wirkungslosigkeit von der Bundesregierung angestrebt.
In Afghanistan wurden zum zivilen (Wieder-)Aufbau seitens der USA nach einer Ermittlung der obersten US-Rechnungsbehörde mehr als 15 Mrd. US-Dollar im Zeitraum von elf Jahren in sinnlose Projekte gesteckt. Von Deutschland wurden gemäß einer Ende 2019 erfolgten Auskunft der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage bis einschließlich 2018 insgesamt 2,3 Mrd. Euro für die entwicklungspolitische Zusammenarbeit ausgegeben. Denen stehen insgesamt 11,9 Mrd. Euro an militärischen Kosten gegenüber. Nach Ende der ISAF-Mission 2013 wurden die Mittel für zivile Entwicklung nicht aufgestockt, und die Bundeswehr ist immer noch vor Ort. Die humanitären Hilfsorganisationen hingegen haben sich weitestgehend aus dem Land zurückgezogen, nicht trotz, sondern wegen der Militärpräsenz.
Der Autor Karl-Heinz Peil ist Mit-Initiator eines Aufrufs aus der Friedensbewegung an die Partei DIE LINKE – siehe dazu: https://frieden-links.de.