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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ausgegraben: Székelys letzter Roman

Es war ein Zufalls­fund: Beim gründ­li­chen Auf­räu­men sei­nes Dach­bo­dens in Massachusetts/​USA fand Tony Kahn das Manu­skript eines volu­mi­nö­sen Buches: dün­nes Durch­schlag­pa­pier, 710 Sei­ten. Auf dem Titel­blatt las er: THE NIGHT /​ That Began 700 Years Ago. By John Pen /​ Trans­la­ted From Hun­ga­ri­an /​ By Frank Gay­n­or. – »John! Oh my God. Du mei­ne Güte, das ist ja John«, mur­mel­te Tony, der Fin­der. Das Skript hat­te ihm der Ver­fas­ser einst vor sei­ner Abrei­se aus den USA im Jahr 1956 anver­traut. Ein Ver­lag fand sich damals nicht; das Werk geriet in Ver­ges­sen­heit, auch da John nicht mehr lan­ge leb­te. – Ja, Bücher haben so ihr eige­nes Schicksal.

Der Autor John Pen ali­as János Szé­ke­ly [sprich: ßeh­käj], gebo­ren in Ungarn, starb vor 65 Jah­ren in Ber­lin, wo er zuletzt im Haus des Clubs der Kul­tur­schaf­fen­den in der Lui­sen­stra­ße gewohnt und für die DEFA gear­bei­tet hat­te. Bekannt gewor­den war er 1940 in den USA, wo er als Autor für den Film Ari­se, my love einen Oscar-Preis erhielt. 1946 lob­te ihn die Kri­tik für sei­nen gro­ßen Ent­wick­lungs-Roman Ver­lockung, der zum Best­sel­ler wur­de. Rezen­sen­ten ver­gli­chen Szé­ke­lys Talent mit Charles Dickens, Zola und Maxim Gor­ki. In der New York Herald Tri­bu­ne stand: »Eines steht außer Fra­ge (…) die Kraft, Dyna­mik und Lei­den­schaft­lich­keit die­ses Romans. Ich war gefes­selt.« Das Buch erschien zuerst auf Eng­lisch, danach über­setzt in meh­re­ren Län­dern und 1949 in der unga­ri­schen Urfas­sung in Buda­pest. Dort wur­de es verfilmt.

Obwohl schon 1959 bei Volk & Welt in Deutsch erschie­nen und fünf Auf­la­gen erle­bend, bekam ich die­sen gro­ßen Roman erst nach Jahr­zehn­ten in die Hand. Ein fes­seln­des Sprach­ge­mäl­de, eine auto­bio­gra­fisch inspi­rier­te Erzäh­lung, die den Leser in die Zwi­schen­kriegs­zeit Hor­thy-Ungarns ent­führt und in ihren Bann zieht. Der Held ist das Dorf­kind Béla, das in die Haupt­stadt zieht und dort als Lift­boy (ohne Lohn, nur für Trink­geld) das Glück sucht. Im präch­ti­gen Grand­ho­tel weit unten ste­hend, erlebt er die Kluft zwi­schen der Armut der Habe­nicht­se und dem per­ver­sen Reich­tum der Wohl­ha­ben­den. Lift­boy Béla träumt wie Tau­sen­de jun­ge Ungarn von Ame­ri­ka und wan­dert aus. Eine Par­al­le­le zu heu­te, da jun­ge Ungarn en mas­se das Land ver­las­sen, drängt sich auf.

Emi­gra­ti­on gehör­te für Jahr­zehn­te auch zum Leben von János Szé­ke­ly. Erst­mals 1919, als er vor dem wei­ßen Ter­ror der Gegen­re­vo­lu­ti­on aus Ungarn floh. Die Stadt Ber­lin, sei­ne lang­jäh­ri­ge pro­duk­ti­ve Wir­kungs­stät­te, ver­ließ er, der jüdi­sche Wur­zeln hat­te, bald nach Hit­lers Auf­stieg. In Hol­ly­wood erleb­te er als gefrag­ter Dreh­buch­au­tor mit Frau und Toch­ter wun­der­bar erfolg­rei­che Jah­re, das Land hat­te ihn gut auf­ge­nom­men. Jedoch nach 1949, unter dem Druck der Hexen­jä­ger McCar­thys, emi­grier­te er mit sei­ner Fami­lie nach Mexi­ko. Er war zwar nicht in der KP, aber ein Idea­list, dem Sozia­lis­mus zuge­tan. »…ein Ver­dacht genüg­te, und man hat­te am näch­sten Tag ein Auto des FBI vor der Tür, in dem Beam­te in kur­zen Hem­den Fil­ter­kaf­fee tran­ken und den Müll durch­such­ten«, wird berich­tet. Im Zufluchts­ort Cuerna­va­ca, wohin auch ande­re Fil­me­ma­cher aus den USA gin­gen, dort, auf einer mexi­ka­ni­schen Ter­ras­se, ent­stand Szé­ke­lys ver­ges­se­ner Roman über einen Bau­ern und ein jun­ges Lie­bes­paar auf der Flucht.

Der Schau­platz des nun gedruckt vor­lie­gen­den Romans ist ein Dorf Ost­eu­ro­pas im hei­ßen Som­mer 1944. Szé­ke­ly erzählt vom Schick­sal drei­er Haupt­ge­stal­ten. Zwei von ihnen gal­ten nach dem wider­li­chen Sprach­ge­brauch der Zeit als »ras­sisch min­der­wer­tig«. Szé­ke­ly erzählt – das ist das Beson­de­re – aus der Sicht zwei­er jun­ger Zigeu­ner, die einem Todes­kon­voi mit knap­per Not ent­kom­men sind. Es sind die lebens­hung­ri­ge Wahr­sa­ge­rin Jul­ka und ihr Gelieb­ter, der Pri­mas Mar­ci. Mit guter Begrün­dung hat der Ver­lag auch in der Über­set­zung kein ande­res Wort für den (Ober-)Begriff Zigeu­ner gesucht. Denn zum einen ist nicht ersicht­lich: waren sie Roma, waren sie Kal­dara, Lova­ra? oder gehör­ten sie einer ande­ren Volks­grup­pe an? Zum andern ent­spricht dies auch dem Wort­ge­brauch des Autors. Ohne­hin ist unschwer zu erken­nen, für wen das Herz des Ver­fas­sers schlägt.

In den dra­ma­ti­schen Ablauf sind zwei Dut­zend ande­rer Schick­sa­le ein­ge­wo­ben und mit­ein­an­der ver­wo­ben, jede Gestalt mit eige­ner Prä­gung. Sie ste­hen unter dem Druck eines dop­pel­ten Regimes, der unga­ri­schen Gen­dar­men und der deut­schen Besat­zer. Szé­ke­ly schil­dert die klei­nen Leu­te mit ihren Schwä­chen und mit ihren neu­en Erfah­run­gen: »Ihr Wis­sen schwoll in die­sem mör­de­ri­schen Som­mer im glei­chen Maße an wie die Zahl der Toten und die Num­mern­kon­ten der König­lich-Unga­ri­schen Kriegs­ge­winn­ler.« Die Ver­kör­pe­rung des Adels im Unter­gang ist wun­der­bar gezeich­net mit dem orts­an­säs­si­gen Gra­fen: fein­sin­ni­ger Flö­ten­spie­ler, Schür­zen­jä­ger und unnach­sich­ti­ger Bau­ern­feind, stolz auf die sie­ben­hun­dert­jäh­ri­ge Geschich­te sei­nes Geschlechts und gera­de dabei, sei­ne mehr­bän­di­ge Histo­rie derer von Bon­z­ca abzu­schlie­ßen. Wür­de­voll und reue­los will er von der Büh­ne abtre­ten. Ohne die Span­nung für künf­ti­ge Leser zu gefähr­den, darf ver­ra­ten wer­den, dass ein uner­war­te­ter Schluss der Hoff­nungs­lo­sig­keit entgegenwirkt.

János Szé­ke­ly hat bis kurz vor sei­nem Tod an dem Dreh­buch zum DEFA-Film Geschwa­der Fle­der­maus gear­bei­tet, einer Geschich­te über den fran­zö­si­schen Kolo­ni­al­krieg in Indo­chi­na. Zehn Tage vor der Urauf­füh­rung starb er, 57-jäh­rig. Sei­ne Toch­ter wur­de in der DDR eine bekann­te Schau­spie­le­rin. Sie äußert die Hoff­nung, dass der »aus dem Dorn­rös­chen­schlaf erweck­te Roman mei­nes Vaters Anklang fin­den wird« – so wie einst die groß­ar­ti­ge Erzäh­lung Ver­lockung.

 Lese-Tipp: János Szé­ke­ly. Eine Nacht, die vor 700 Jah­ren begann. Hrsg. von Sil­via Zano­vel­lo; mit einem Nach­wort von Kati Szé­ke­ly-Froh­riep, Dio­ge­nes Ver­lag, Zürich 2023.

Beim sel­ben Ver­lag ist auch der Roman »Ver­lockung« als preis­wer­tes Taschen­buch wie­der erhältlich.