Es war ein Zufallsfund: Beim gründlichen Aufräumen seines Dachbodens in Massachusetts/USA fand Tony Kahn das Manuskript eines voluminösen Buches: dünnes Durchschlagpapier, 710 Seiten. Auf dem Titelblatt las er: THE NIGHT / That Began 700 Years Ago. By John Pen / Translated From Hungarian / By Frank Gaynor. – »John! Oh my God. Du meine Güte, das ist ja John«, murmelte Tony, der Finder. Das Skript hatte ihm der Verfasser einst vor seiner Abreise aus den USA im Jahr 1956 anvertraut. Ein Verlag fand sich damals nicht; das Werk geriet in Vergessenheit, auch da John nicht mehr lange lebte. – Ja, Bücher haben so ihr eigenes Schicksal.
Der Autor John Pen alias János Székely [sprich: ßehkäj], geboren in Ungarn, starb vor 65 Jahren in Berlin, wo er zuletzt im Haus des Clubs der Kulturschaffenden in der Luisenstraße gewohnt und für die DEFA gearbeitet hatte. Bekannt geworden war er 1940 in den USA, wo er als Autor für den Film Arise, my love einen Oscar-Preis erhielt. 1946 lobte ihn die Kritik für seinen großen Entwicklungs-Roman Verlockung, der zum Bestseller wurde. Rezensenten verglichen Székelys Talent mit Charles Dickens, Zola und Maxim Gorki. In der New York Herald Tribune stand: »Eines steht außer Frage (…) die Kraft, Dynamik und Leidenschaftlichkeit dieses Romans. Ich war gefesselt.« Das Buch erschien zuerst auf Englisch, danach übersetzt in mehreren Ländern und 1949 in der ungarischen Urfassung in Budapest. Dort wurde es verfilmt.
Obwohl schon 1959 bei Volk & Welt in Deutsch erschienen und fünf Auflagen erlebend, bekam ich diesen großen Roman erst nach Jahrzehnten in die Hand. Ein fesselndes Sprachgemälde, eine autobiografisch inspirierte Erzählung, die den Leser in die Zwischenkriegszeit Horthy-Ungarns entführt und in ihren Bann zieht. Der Held ist das Dorfkind Béla, das in die Hauptstadt zieht und dort als Liftboy (ohne Lohn, nur für Trinkgeld) das Glück sucht. Im prächtigen Grandhotel weit unten stehend, erlebt er die Kluft zwischen der Armut der Habenichtse und dem perversen Reichtum der Wohlhabenden. Liftboy Béla träumt wie Tausende junge Ungarn von Amerika und wandert aus. Eine Parallele zu heute, da junge Ungarn en masse das Land verlassen, drängt sich auf.
Emigration gehörte für Jahrzehnte auch zum Leben von János Székely. Erstmals 1919, als er vor dem weißen Terror der Gegenrevolution aus Ungarn floh. Die Stadt Berlin, seine langjährige produktive Wirkungsstätte, verließ er, der jüdische Wurzeln hatte, bald nach Hitlers Aufstieg. In Hollywood erlebte er als gefragter Drehbuchautor mit Frau und Tochter wunderbar erfolgreiche Jahre, das Land hatte ihn gut aufgenommen. Jedoch nach 1949, unter dem Druck der Hexenjäger McCarthys, emigrierte er mit seiner Familie nach Mexiko. Er war zwar nicht in der KP, aber ein Idealist, dem Sozialismus zugetan. »…ein Verdacht genügte, und man hatte am nächsten Tag ein Auto des FBI vor der Tür, in dem Beamte in kurzen Hemden Filterkaffee tranken und den Müll durchsuchten«, wird berichtet. Im Zufluchtsort Cuernavaca, wohin auch andere Filmemacher aus den USA gingen, dort, auf einer mexikanischen Terrasse, entstand Székelys vergessener Roman über einen Bauern und ein junges Liebespaar auf der Flucht.
Der Schauplatz des nun gedruckt vorliegenden Romans ist ein Dorf Osteuropas im heißen Sommer 1944. Székely erzählt vom Schicksal dreier Hauptgestalten. Zwei von ihnen galten nach dem widerlichen Sprachgebrauch der Zeit als »rassisch minderwertig«. Székely erzählt – das ist das Besondere – aus der Sicht zweier junger Zigeuner, die einem Todeskonvoi mit knapper Not entkommen sind. Es sind die lebenshungrige Wahrsagerin Julka und ihr Geliebter, der Primas Marci. Mit guter Begründung hat der Verlag auch in der Übersetzung kein anderes Wort für den (Ober-)Begriff Zigeuner gesucht. Denn zum einen ist nicht ersichtlich: waren sie Roma, waren sie Kaldara, Lovara? oder gehörten sie einer anderen Volksgruppe an? Zum andern entspricht dies auch dem Wortgebrauch des Autors. Ohnehin ist unschwer zu erkennen, für wen das Herz des Verfassers schlägt.
In den dramatischen Ablauf sind zwei Dutzend anderer Schicksale eingewoben und miteinander verwoben, jede Gestalt mit eigener Prägung. Sie stehen unter dem Druck eines doppelten Regimes, der ungarischen Gendarmen und der deutschen Besatzer. Székely schildert die kleinen Leute mit ihren Schwächen und mit ihren neuen Erfahrungen: »Ihr Wissen schwoll in diesem mörderischen Sommer im gleichen Maße an wie die Zahl der Toten und die Nummernkonten der Königlich-Ungarischen Kriegsgewinnler.« Die Verkörperung des Adels im Untergang ist wunderbar gezeichnet mit dem ortsansässigen Grafen: feinsinniger Flötenspieler, Schürzenjäger und unnachsichtiger Bauernfeind, stolz auf die siebenhundertjährige Geschichte seines Geschlechts und gerade dabei, seine mehrbändige Historie derer von Bonzca abzuschließen. Würdevoll und reuelos will er von der Bühne abtreten. Ohne die Spannung für künftige Leser zu gefährden, darf verraten werden, dass ein unerwarteter Schluss der Hoffnungslosigkeit entgegenwirkt.
János Székely hat bis kurz vor seinem Tod an dem Drehbuch zum DEFA-Film Geschwader Fledermaus gearbeitet, einer Geschichte über den französischen Kolonialkrieg in Indochina. Zehn Tage vor der Uraufführung starb er, 57-jährig. Seine Tochter wurde in der DDR eine bekannte Schauspielerin. Sie äußert die Hoffnung, dass der »aus dem Dornröschenschlaf erweckte Roman meines Vaters Anklang finden wird« – so wie einst die großartige Erzählung Verlockung.
Lese-Tipp: János Székely. Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann. Hrsg. von Silvia Zanovello; mit einem Nachwort von Kati Székely-Frohriep, Diogenes Verlag, Zürich 2023.
Beim selben Verlag ist auch der Roman »Verlockung« als preiswertes Taschenbuch wieder erhältlich.