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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Auschwitz

Die Herbst­son­ne taucht den Markt in gol­de­nes Licht, die frisch reno­vier­ten Fas­sa­den im Geviert leuch­ten. Die Strah­len errei­chen auch einen Papier­la­den mit eini­gen Stän­dern, in denen bun­te Kar­ten mit Stadt­an­sich­ten stecken. Aller­dings hal­te ich inne. Nie und nim­mer könn­te ich auf eine sol­che Ansichts­kar­te schrei­ben: Schö­ne Grü­ße aus Ausch­witz. Selbst wenn »Oświęcim« dar­auf steht, wüss­te doch jeder, um wel­chen Ort es sich handelt.

Die Men­schen, die heu­te hier leben und arbei­ten, tra­gen schwer an die­ser Last, die ihnen die Deut­schen bin­nen vier­ein­halb Jah­ren auf­bür­de­ten. Auch wenn man es ihnen nicht ansieht. Man gewöhnt sich an alles, auch an die Geschich­te. Der Ort ist Jahr­hun­der­te alt, erhielt 1272 Stadt­rech­te nach Mag­de­bur­ger Recht, war mal deutsch, mal pol­nisch, mal öster­rei­chisch-unga­risch, und nach 1918 eben pol­nisch. Zwölf­tau­send Ein­woh­ner damals, mehr als die Hälf­te davon Juden. Was kei­nes­wegs ursäch­lich war für den Plan der deut­schen Okku­pan­ten, aus­ge­rech­net dort ein Lager ein­zu­rich­ten. Vier­ein­halb Jah­re genüg­ten, um den Stadt­na­men irrever­si­bel zu ruinieren.

Die Ein­woh­ner von Oświęcim leben mit die­ser Ver­gan­gen­heit, was bleibt ihnen auch ande­res übrig. In der Höß-Vil­la woh­nen nor­ma­le Mie­ter, in der vor­ma­li­gen Gesta­po-Zen­tra­le sitzt eine Ver­si­che­rung, und die Fern­wär­me kommt wie seit Jahr­zehn­ten aus einem Kraft­werk, dass die I.G. Far­ben von Häft­lings­skla­ven hat­te errich­ten las­sen. Selbst auf dem Markt sind die Spu­ren der unsäg­li­chen Ver­gan­gen­heit zu sehen. Der Grund­riss eines Hoch­bun­kers ist erkenn­bar, den man erst Jahr­zehn­te spä­ter hat­te besei­ti­gen kön­nen: So unka­putt­bar war der Beton, dass er dem pol­ni­schen Spreng­stoff lan­ge wider­stand. Und dort, wo vor der Stadt die Unkul­tur hau­ste, gilt der Denk­mal­schutz: Ausch­witz-Bir­ken­au ist UNESCO-Weltkulturerbe.

Die Wider­sprü­che kriegt man ein­fach nicht aus dem Kopf. Nein, ich wer­de kei­ne Ansichts­kar­te aus der Stadt ver­schicken. Kein Foto von der restau­rier­ten Syn­ago­ge, kei­nes von der Burg ober­halb der Sola oder von der Hoch­schu­le – in der Burg saß die Ver­wal­tung der Besat­zungs­macht, in der Hoch­schu­le die SS.

Schon bald nach der Okku­pa­ti­on Polens waren Plä­ne in Ber­lin geschmie­det wor­den, wo man Lager errich­ten kön­ne, in denen man Regime­geg­ner und Kriegs­ge­fan­ge­ne inter­nier­te. Der Blick rich­te­te sich auch auf ein Objekt in Ausch­witz, das in öster­rei­chi­scher Zeit für gali­zi­sche Sai­son­ar­bei­ter errich­tet wor­den war. Nach 1918 war es von der pol­ni­schen Armee genutzt wor­den. Die Kaser­nen fass­ten über zwei­tau­send Mann und die Stall­ge­bäu­de mehr als acht­hun­dert Pfer­de. Für den Aus­bau zum KZ bewil­lig­te das SS-Ver­wal­tungs­amt im Mai 1940 etwa zwei Mil­lio­nen Reichs­mark, und Rudolf Höß – der im Monat zuvor mit einer Kom­mis­si­on das Objekt begut­ach­tet hat­te – ver­leg­te sei­nen Arbeits­platz vom KZ Sach­sen­hau­sen ins Lager Ausch­witz. Mit­te Juni traf dort der erste Trans­port poli­ti­scher Gefan­ge­ner ein.

Aber nicht nur das Wehr­wirt­schafts- und Rüstungs­amt der Wehr­macht, son­dern auch die deut­sche Wirt­schaft inter­es­sier­te sich sehr für die annek­tier­te pol­ni­sche Berg­bau- und Indu­strie­re­gi­on und ließ sich dort nie­der. Die I.G. Far­ben­in­du­strie AG – das welt­weit größ­te Che­mie­un­ter­neh­men und der größ­te Kon­zern in Euro­pa – zum Bei­spiel expan­dier­te plan­voll in das ober­schle­si­sche Indu­strie­re­vier und steck­te sei­nen Cla­im bei einer Erkun­dungs­rei­se ab. Am 4. Dezem­ber 1939 bestimm­te man Ausch­witz als Stand­ort für ein neu­es Che­mie­werk. Dort soll­ten die bei der Pro­duk­ti­on von Treib­stof­fen und dem Ersatz­kau­tschuk Buna anfal­len­den Vor-, Zwi­schen- und Neben­pro­duk­te für die Her­stel­lung neu ent­wickel­ter Kunst­stof­fe genutzt wer­den. Die Pro­duk­ti­on des zu errich­ten­den Wer­kes soll­te bin­nen eines Jah­res anlau­fen. Es gab reich­lich Was­ser, Koh­le, Kalk, Steu­er­frei­heit und üppi­ge Staats­auf­trä­ge. Vor allem aber sicher­te die SS bil­li­ge Arbeits­skla­ven zu. Die­ses »Ange­bot« sorg­te nicht nur für die Aus­deh­nung des Stamm­la­gers nach Bir­ken­au und Mono­witz, son­dern auch für die Ver­än­de­rung sei­nes ursprüng­li­chen Cha­rak­ters. Es wur­den immer mehr Zwangs­ar­bei­ter aus den von Nazi­deutsch­land besetz­ten Län­dern nach Ausch­witz depor­tiert, die in den dort ent­ste­hen­den deut­schen Rüstungs­be­trie­ben Skla­ven­ar­beit lei­sten muss­ten, wel­che sich die SS bezah­len ließ.

Die sowje­ti­sche Kom­mis­si­on, die gemein­sam mit pol­ni­schen Exper­ten und Über­le­ben­den des Lagers unmit­tel­bar nach der Befrei­ung die in Ausch­witz began­ge­nen Ver­bre­chen doku­men­tier­te, berich­te­te dem Inter­na­tio­na­len Mili­tär­ge­richts­hof in Nürn­berg, dass die dor­ti­gen Lager dazu bestimmt waren, dau­ernd etwa zwei­hun­dert­tau­send Men­schen gefan­gen zu hal­ten, um die­se durch in höch­stem Maße ent­kräf­ten­de Zwangs­ar­beit aus­zu­beu­ten. »Die Men­schen, die die­se Arbei­ten ver­rich­ten muss­ten, wur­den in einen Zustand völ­li­ger Erschöp­fung gebracht und dann als nutz­los umge­bracht. Jede Woche tra­fen deut­sche Ärz­te eine ›Aus­wahl‹, als deren Ergeb­nis alle Kran­ken in den Gas­kam­mern umge­bracht wur­den. Die­se wur­den durch sol­che ersetzt, die per Bahn im Lager neu ange­kom­men waren. Es war ein genau aus­ge­ar­bei­te­tes System, ein schreck­li­ches lau­fen­des Band des Todes.«

In Ausch­witz star­ben auf die­se Wei­se weit über eine Mil­li­on Men­schen, beglei­tet von dem zyni­schen Spruch, der sich über den Ein­gang des Stamm­la­gers schwang: »Arbeit macht frei«. Von den annä­hernd sechs Mil­lio­nen unter deut­scher Herr­schaft ermor­de­ten euro­päi­schen Juden kam min­de­stens eine Mil­li­on in Ausch­witz um. Fast neun­hun­dert­tau­send Depor­tier­te wur­den als nicht zum Arbeits­ein­satz taug­lich sofort in die Gas­kam­mern getrieben.

Die Gene­sis des Lagers hat Dr. Susan­ne Wil­lems doku­men­tiert, ihr Buch erscheint zum 80. Jah­res­tag der Befrei­ung von Ausch­witz. Seit Jahr­zehn­ten beschäf­tigt sie sich mit die­sem The­ma, hat in der dor­ti­gen Gedenk­stät­te gear­bei­tet und beglei­tet noch immer Rei­se­grup­pen dort­hin, um die syste­ma­tisch betrie­be­ne Mord­ma­schi­ne­rie zu erklä­ren. Ver­mut­lich ist sie eine der auf die­sem Fel­de kun­dig­sten Per­so­nen, und die pol­ni­sche Regie­rung sah das eben­so: Sie ehr­te die frei­be­ruf­lich täti­ge Histo­ri­ke­rin mit dem Kava­liers­kreuz des Ver­dienst­or­dens der Repu­blik Polen. Ihr Buch ist nicht das erste und nicht das ein­zi­ge, das jetzt aus aktu­el­lem Anlass erscheint. Aber ver­mut­lich wird es eines der weni­gen sein, dass den engen Zusam­men­hang von öko­no­mi­schen Inter­es­sen des deut­schen Kapi­tals und den poli­ti­schen Inter­es­sen des Hit­ler­rei­ches doku­men­tiert. Ent­ge­gen der aber­wit­zi­gen Behaup­tung der AfD-Kanz­ler­kan­di­da­tin Wei­del war Hit­ler näm­lich kein Kom­mu­nist, son­dern ein Kapi­ta­list, min­de­stens aber der kon­se­quen­te­ste Voll­strecker des Wil­lens der Kapi­ta­li­sten­klas­se, die ihn her­vor­ge­bracht hatte.

Auf dem Städ­ti­schen Fried­hof lie­gen die Toten ver­schie­de­ner Krie­ge, auch Grab­stei­ne von 1866 fin­den sich dort, errich­tet über den Grä­bern von Sol­da­ten des preu­ßisch-öster­rei­chi­schen Krie­ges. Auch einen wür­di­gen Grab­stein mit den Namen der 231 Rot­ar­mi­sten der 1. Ukrai­ni­schen Front gibt es. Die Sowjet­sol­da­ten fie­len bei der Befrei­ung von Ausch­witz. Es lie­gen dort Blu­men, Ker­zen bren­nen. Unmit­tel­bar am Ein­gang des Fried­ho­fes hängt seit 2012 auch eine schwar­ze Mar­mor­ta­fel. Sie erin­nert an die pol­ni­schen Ein­woh­ner der Ost­ge­bie­te der Zwei­ten Pol­ni­schen Repu­blik, die Opfer des von ukrai­ni­schen Natio­na­li­sten wäh­rend des Zwei­ten Welt­kriegs ver­üb­ten Völ­ker­mords wur­den. Bekannt­lich wider­setz­ten sich die­se Ter­ro­ri­sten seit 1929 einer ver­meint­li­chen Polo­ni­sie­rung. Einer ihrer Häupt­lin­ge, Ste­pan Ban­de­ra, wur­de 1934 zum Tode ver­ur­teilt, weil er an der Ermor­dung des pol­ni­schen Innen­mi­ni­sters betei­ligt war. Kri­mi­nel­le Ter­ro­ri­sten wie die­ser Ban­de­ra wer­den in der benach­bar­ten Ukrai­ne heu­te als Natio­nal­hel­den gefeiert …

Egal, wohin ich mei­ne Schrit­te in Oświęcim auch len­ke: Ich sto­ße unab­läs­sig auf Widersprüche.

 Susan­ne Wil­lems: Ausch­witz. Ter­ror – Skla­ven­ar­beit – Völ­ker­mord, edi­ti­on ost, Ber­lin 2025, 288 S., 20 €.