Die Herbstsonne taucht den Markt in goldenes Licht, die frisch renovierten Fassaden im Geviert leuchten. Die Strahlen erreichen auch einen Papierladen mit einigen Ständern, in denen bunte Karten mit Stadtansichten stecken. Allerdings halte ich inne. Nie und nimmer könnte ich auf eine solche Ansichtskarte schreiben: Schöne Grüße aus Auschwitz. Selbst wenn »Oświęcim« darauf steht, wüsste doch jeder, um welchen Ort es sich handelt.
Die Menschen, die heute hier leben und arbeiten, tragen schwer an dieser Last, die ihnen die Deutschen binnen viereinhalb Jahren aufbürdeten. Auch wenn man es ihnen nicht ansieht. Man gewöhnt sich an alles, auch an die Geschichte. Der Ort ist Jahrhunderte alt, erhielt 1272 Stadtrechte nach Magdeburger Recht, war mal deutsch, mal polnisch, mal österreichisch-ungarisch, und nach 1918 eben polnisch. Zwölftausend Einwohner damals, mehr als die Hälfte davon Juden. Was keineswegs ursächlich war für den Plan der deutschen Okkupanten, ausgerechnet dort ein Lager einzurichten. Viereinhalb Jahre genügten, um den Stadtnamen irreversibel zu ruinieren.
Die Einwohner von Oświęcim leben mit dieser Vergangenheit, was bleibt ihnen auch anderes übrig. In der Höß-Villa wohnen normale Mieter, in der vormaligen Gestapo-Zentrale sitzt eine Versicherung, und die Fernwärme kommt wie seit Jahrzehnten aus einem Kraftwerk, dass die I.G. Farben von Häftlingssklaven hatte errichten lassen. Selbst auf dem Markt sind die Spuren der unsäglichen Vergangenheit zu sehen. Der Grundriss eines Hochbunkers ist erkennbar, den man erst Jahrzehnte später hatte beseitigen können: So unkaputtbar war der Beton, dass er dem polnischen Sprengstoff lange widerstand. Und dort, wo vor der Stadt die Unkultur hauste, gilt der Denkmalschutz: Auschwitz-Birkenau ist UNESCO-Weltkulturerbe.
Die Widersprüche kriegt man einfach nicht aus dem Kopf. Nein, ich werde keine Ansichtskarte aus der Stadt verschicken. Kein Foto von der restaurierten Synagoge, keines von der Burg oberhalb der Sola oder von der Hochschule – in der Burg saß die Verwaltung der Besatzungsmacht, in der Hochschule die SS.
Schon bald nach der Okkupation Polens waren Pläne in Berlin geschmiedet worden, wo man Lager errichten könne, in denen man Regimegegner und Kriegsgefangene internierte. Der Blick richtete sich auch auf ein Objekt in Auschwitz, das in österreichischer Zeit für galizische Saisonarbeiter errichtet worden war. Nach 1918 war es von der polnischen Armee genutzt worden. Die Kasernen fassten über zweitausend Mann und die Stallgebäude mehr als achthundert Pferde. Für den Ausbau zum KZ bewilligte das SS-Verwaltungsamt im Mai 1940 etwa zwei Millionen Reichsmark, und Rudolf Höß – der im Monat zuvor mit einer Kommission das Objekt begutachtet hatte – verlegte seinen Arbeitsplatz vom KZ Sachsenhausen ins Lager Auschwitz. Mitte Juni traf dort der erste Transport politischer Gefangener ein.
Aber nicht nur das Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt der Wehrmacht, sondern auch die deutsche Wirtschaft interessierte sich sehr für die annektierte polnische Bergbau- und Industrieregion und ließ sich dort nieder. Die I.G. Farbenindustrie AG – das weltweit größte Chemieunternehmen und der größte Konzern in Europa – zum Beispiel expandierte planvoll in das oberschlesische Industrierevier und steckte seinen Claim bei einer Erkundungsreise ab. Am 4. Dezember 1939 bestimmte man Auschwitz als Standort für ein neues Chemiewerk. Dort sollten die bei der Produktion von Treibstoffen und dem Ersatzkautschuk Buna anfallenden Vor-, Zwischen- und Nebenprodukte für die Herstellung neu entwickelter Kunststoffe genutzt werden. Die Produktion des zu errichtenden Werkes sollte binnen eines Jahres anlaufen. Es gab reichlich Wasser, Kohle, Kalk, Steuerfreiheit und üppige Staatsaufträge. Vor allem aber sicherte die SS billige Arbeitssklaven zu. Dieses »Angebot« sorgte nicht nur für die Ausdehnung des Stammlagers nach Birkenau und Monowitz, sondern auch für die Veränderung seines ursprünglichen Charakters. Es wurden immer mehr Zwangsarbeiter aus den von Nazideutschland besetzten Ländern nach Auschwitz deportiert, die in den dort entstehenden deutschen Rüstungsbetrieben Sklavenarbeit leisten mussten, welche sich die SS bezahlen ließ.
Die sowjetische Kommission, die gemeinsam mit polnischen Experten und Überlebenden des Lagers unmittelbar nach der Befreiung die in Auschwitz begangenen Verbrechen dokumentierte, berichtete dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg, dass die dortigen Lager dazu bestimmt waren, dauernd etwa zweihunderttausend Menschen gefangen zu halten, um diese durch in höchstem Maße entkräftende Zwangsarbeit auszubeuten. »Die Menschen, die diese Arbeiten verrichten mussten, wurden in einen Zustand völliger Erschöpfung gebracht und dann als nutzlos umgebracht. Jede Woche trafen deutsche Ärzte eine ›Auswahl‹, als deren Ergebnis alle Kranken in den Gaskammern umgebracht wurden. Diese wurden durch solche ersetzt, die per Bahn im Lager neu angekommen waren. Es war ein genau ausgearbeitetes System, ein schreckliches laufendes Band des Todes.«
In Auschwitz starben auf diese Weise weit über eine Million Menschen, begleitet von dem zynischen Spruch, der sich über den Eingang des Stammlagers schwang: »Arbeit macht frei«. Von den annähernd sechs Millionen unter deutscher Herrschaft ermordeten europäischen Juden kam mindestens eine Million in Auschwitz um. Fast neunhunderttausend Deportierte wurden als nicht zum Arbeitseinsatz tauglich sofort in die Gaskammern getrieben.
Die Genesis des Lagers hat Dr. Susanne Willems dokumentiert, ihr Buch erscheint zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Seit Jahrzehnten beschäftigt sie sich mit diesem Thema, hat in der dortigen Gedenkstätte gearbeitet und begleitet noch immer Reisegruppen dorthin, um die systematisch betriebene Mordmaschinerie zu erklären. Vermutlich ist sie eine der auf diesem Felde kundigsten Personen, und die polnische Regierung sah das ebenso: Sie ehrte die freiberuflich tätige Historikerin mit dem Kavalierskreuz des Verdienstordens der Republik Polen. Ihr Buch ist nicht das erste und nicht das einzige, das jetzt aus aktuellem Anlass erscheint. Aber vermutlich wird es eines der wenigen sein, dass den engen Zusammenhang von ökonomischen Interessen des deutschen Kapitals und den politischen Interessen des Hitlerreiches dokumentiert. Entgegen der aberwitzigen Behauptung der AfD-Kanzlerkandidatin Weidel war Hitler nämlich kein Kommunist, sondern ein Kapitalist, mindestens aber der konsequenteste Vollstrecker des Willens der Kapitalistenklasse, die ihn hervorgebracht hatte.
Auf dem Städtischen Friedhof liegen die Toten verschiedener Kriege, auch Grabsteine von 1866 finden sich dort, errichtet über den Gräbern von Soldaten des preußisch-österreichischen Krieges. Auch einen würdigen Grabstein mit den Namen der 231 Rotarmisten der 1. Ukrainischen Front gibt es. Die Sowjetsoldaten fielen bei der Befreiung von Auschwitz. Es liegen dort Blumen, Kerzen brennen. Unmittelbar am Eingang des Friedhofes hängt seit 2012 auch eine schwarze Marmortafel. Sie erinnert an die polnischen Einwohner der Ostgebiete der Zweiten Polnischen Republik, die Opfer des von ukrainischen Nationalisten während des Zweiten Weltkriegs verübten Völkermords wurden. Bekanntlich widersetzten sich diese Terroristen seit 1929 einer vermeintlichen Polonisierung. Einer ihrer Häuptlinge, Stepan Bandera, wurde 1934 zum Tode verurteilt, weil er an der Ermordung des polnischen Innenministers beteiligt war. Kriminelle Terroristen wie dieser Bandera werden in der benachbarten Ukraine heute als Nationalhelden gefeiert …
Egal, wohin ich meine Schritte in Oświęcim auch lenke: Ich stoße unablässig auf Widersprüche.
Susanne Willems: Auschwitz. Terror – Sklavenarbeit – Völkermord, edition ost, Berlin 2025, 288 S., 20 €.