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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Aus Venedig

Über Vene­dig, sei­ne Lagu­ne und ihre Besie­de­lung zir­ku­lie­ren Mythen und Legen­den seit Jahr­hun­der­ten, denn sei­ne Ursprün­ge ver­lie­ren sich im Dun­kel der Vor­ge­schich­te. Schon Pli­ni­us der Älte­re nann­te den Namen Vene­tia in sei­ner Natur­ge­schich­te, und inzwi­schen weiß man eini­ges über römi­sche Sied­lun­gen in der Lagu­ne. In den frü­hen Jahr­hun­der­ten der Völ­ker­wan­de­run­gen aus dem Nor­den haben sich dann Fest­land­be­woh­ner aus ver­schie­de­nen Gegen­den auf Inseln in der Lagu­ne geret­tet, und im Mit­tel­al­ter ent­stan­den vie­le Mythen, wie der von Vene­dig als Bin­de­glied zwi­schen Rom und Byzanz, sie wur­den je nach aktu­el­len Erwä­gun­gen oft neu akzen­tu­iert. Das ist nichts Neues.

Aber als am 25. März, um 16 Uhr, plötz­lich alle Kir­chen­glocken Vene­digs in Bewe­gung gesetzt wur­den – um einen 1600-jäh­ri­gen Stadt­ge­burts­tag ein­zu­läu­ten –, frag­ten sich nicht weni­ge: bit­te wie?

Da wur­de – mit Eröff­nungs­wort durch den Staats­prä­si­den­ten und gro­ßem Medi­en­ge­trom­mel – der 25. März des Jah­res 421 als »Geburts­tag der Stadt« ver­kün­det . Damals soll – laut einer 1514 vom Chro­ni­sten Marin Sanu­do zitier­ten Quel­le – eine erste Kir­che am Rial­to erbaut wor­den sein, dort, wo heu­te San Gia­co­met­to steht. Das mag so gewe­sen sein. Nur hat das mit der Grün­dung eines städ­ti­schen Gebil­des nichts zu tun, die datiert man erst ein paar Jahr­hun­der­te spä­ter, nach­dem im 9. Jhdt. der Sitz eines 811 von Byzanz bestä­tig­ten Dogen, Agnel­lo Par­te­ci­pa­zio, von Malam­oc­co an den Rial­to ver­legt wur­de. Dar­auf­hin wur­de die­se hoch­ge­le­ge­ne Insel nach und nach mit dem Bau eines ersten Dogen­pa­la­stes zu einer Stadt befe­stigt. Eine frü­he Basi­li­ca folg­te, die nach meh­re­ren Rekon­struk­tio­nen erst am 25. April 1094 dem Evan­ge­li­sten Mar­co geweiht wur­de, des­sen ver­meint­li­che Gebei­ne man schon vor­sorg­lich 828 aus Alex­an­dria in Ägyp­ten geholt hatte.

Die heu­ti­ge Stadt­re­gie­rung unter Bür­ger­mei­ster Lui­gi Brug­n­a­ro scheut aber offen­bar kei­nen Mar­ke­ting-Trick, um das durch den Aus­bruch der Coro­na-Pan­de­mie von den Tou­ri­sten­mas­sen ent­leer­te und damit auch sei­ner öko­no­mi­schen Basis weit­ge­hend beraub­te Vene­dig zurück ins inter­na­tio­na­le Gespräch zu brin­gen, mit einer Rei­he von »events«, die nun im Jahr 2021 – zum »1600. Stadt­ge­burts­tag« – Men­schen von über­all her anzie­hen sol­len, um vor allem den am Boden lie­gen­den Tou­ris­mus anzukurbeln.

San Mar­co, der Patron der Stadt, wird jedes Jahr am 25. April groß in Vene­dig gefei­ert. Das Datum wie­der­um deckt sich mit dem auch heu­te noch wich­tig­sten zivi­len Fei­er­tag Ita­li­ens, dem der »Libe­ra­zio­ne«, der Befrei­ung Ita­li­ens von den deut­schen Besat­zern und den Salò-Faschi­sten. Auch das geschah nicht an einem Tag, son­dern in opfer­rei­chen Kämp­fen über Wochen und Mona­te. Man datier­te 1946 den Befrei­ungs­tag sym­bo­lisch auf den 25. April 1945, als das ober­ita­lie­ni­sche Befrei­ungs­ko­mi­tee CLNAI zum letz­ten all­ge­mei­nen Auf­stand der Ita­lie­ner gegen die Besat­zer im Nor­den auf­rief. Am 25. begann deren Rück­zug aus Mila­no und Tori­no, und am Abend ver­ließ auch Mus­so­li­ni Mila­no, nach­dem er dort noch auf Unter­stüt­zung durch die Deut­schen gehofft hat­te – ver­geb­lich. Drei Tage spä­ter wur­de er am Comer See von einem Par­ti­sa­nen­kom­man­do erschos­sen. Bis zum 1. Mai wur­de dann der gan­ze Nor­den befreit – in Genua hat­ten die Par­ti­sa­nen ganz allein schon am 23.4. die Deut­schen zum Rück­zug gezwun­gen. In Vene­dig begann deren Rück­zug am 28., und am 29. folg­te in Caser­ta bei Nea­pel mit der Kapi­tu­la­ti­on gegen­über den Alli­ier­ten das defi­ni­ti­ve Ende des 2. Welt­kriegs in Italien.

Die­se Früh­lings­wo­che vom 25. April bis zum 1. Mai ist seit­dem immer eine Woche spür­ba­ren zivi­len Auf­bruchs in Ita­li­en. Nicht von unge­fähr erin­ner­te die uner­müd­li­che Lucia­na Castel­li­na in il mani­festo an die Bedeu­tung des Wach­hal­tens der Erin­ne­rung an die Idee einer neu­en und völ­lig ande­ren Gesell­schaft nach Faschis­mus und Welt­krieg, für die die jun­gen Par­ti­sa­nen, bis dahin ohne jeg­li­che demo­kra­ti­sche Erfah­rung, mit gro­ssem Mut kämpf­ten. Eben­sol­chen Mut bräuch­ten wir heu­te, schreibt sie, um die gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se auf­zu­bre­chen, die seit lan­gem zu einer weit­ge­hen­den Ent­mün­di­gung der Bür­ger füh­ren. Und Castel­li­na for­dert die viel­fäl­ti­gen Bewe­gun­gen der Jugend dazu auf, die bis­her uner­füll­te idea­le Her­aus­for­de­rung von 1943-45 wie­der auf­zu­neh­men und den Blick auch auf den Rest der Welt auszuweiten.

Kurz dar­auf, am 28. April, beging il mani­festo, die inzwi­schen legen­dä­re, noch immer »kom­mu­ni­sti­sche Tages­zei­tung« aus Rom mit einer gro­ßen Son­der­num­mer und vie­len Gra­tu­lan­ten (auch der Staats­prä­si­dent!) ihren 50. Geburts­tag. Sie war im April 1971 von der 1969 ent­stan­de­nen Mani­festo-Grup­pe gegrün­det wor­den, um »als Zei­tung mit der bür­ger­li­chen Tra­di­ti­on zu bre­chen, die zum Faschis­mus und zum Krieg geführt hat­te«, wie Lui­gi Pin­tor 2001 schrieb. Und sie hat sich ent­ge­gen allen Wid­rig­kei­ten, die die einst in Euro­pa bewun­der­te kom­mu­ni­sti­sche Lin­ke Ita­li­ens zer­stört haben, bis heu­te gehal­ten. Viel­leicht auch, wie die nun­mehr zehn­jäh­ri­ge Chef­re­dak­teu­rin Nor­ma Ran­ge­ri schreibt, weil sie viel mehr als eine nor­ma­le Zei­tung war und ist, näm­lich Resul­tat eines Kol­lek­tivs: »eine Idee, eine Schu­le, ein Gefühl, ein kol­lek­ti­ves, stark pochen­des Herz«.

Und Elly Sch­lein, die jun­ge Vize­prä­si­den­tin der Emi­lia-Roma­gna, ruft in ihrer Gruß­adres­se die schon 1977 von dem Mani­festo-Mit­be­grün­der Lucio Magri gefor­der­te Annä­he­rung zwi­schen Kom­mu­ni­sten, Umwelt- und Frau­en­be­we­gung in Erin­ne­rung, die sich mit neu­en Bezie­hun­gen zwi­schen dele­gier­ter und direk­ter Demo­kra­tie ver­bin­den lie­ßen, die auch Lucia­na Castel­li­na vorschweben.

Dass man aus der Pan­de­mie mit tie­fe­rer Ein­sicht in die zer­stö­re­ri­schen Lebens­be­din­gun­gen her­vor­ge­hen und die­se ent­spre­chend ver­än­dern soll­te, den­ken nicht weni­ge in Ita­li­en. Dass der viel­zi­tier­te Reco­very Plan zum Umbau Ita­li­ens in eine sol­che Rich­tung weist, bezwei­feln die mei­sten, trotz der Regie­rungs­pro­pa­gan­da. Der Plan wur­de in den letz­ten April­ta­gen ohne jeg­li­che Dis­kus­si­on durchs Par­la­ment gewun­ken. Nur die Post­fa­schi­sten ent­hiel­ten sich der Stim­me, die sie nun umso lau­ter erhe­ben, um gegen die der Regie­rung abge­run­ge­nen schritt­wei­sen Locke­run­gen der mona­te­lan­gen Coro­na-Ein­schrän­kun­gen zu pro­te­stie­ren, weil sie ihnen nicht weit genug gehen.

Die­se neu­en Maß­nah­men koin­zi­die­ren in die­sem Jahr auch nicht von unge­fähr mit eben den Tagen des Auf­bruchs. Vie­le Restau­rants und Läden, die seit Mona­ten fest geschlos­sen blei­ben muss­ten und die noch nicht ganz auf­ge­ge­ben haben, haben alle Fen­ster geputzt und drau­ßen ihre Tische gedeckt – nun sol­len auch die Tou­ri­sten kom­men! Eine erste Wel­le wird Ende Mai erwar­tet zur Eröff­nung der um ein Jahr ver­scho­be­nen Archi­tek­tur-Bien­na­le, mit der durch­aus aktu­el­len Titel-Fra­ge: How will we live together?

Aber der Bür­ger­mei­ster freut sich auch über die Ankün­di­gung, dass zum glei­chen Ter­min die Rie­sen-Kreuz­fahrt­schif­fe wie­der Vene­dig anlau­fen wol­len – wei­ter­hin am Mar­kus­platz vor­bei! Eine Hor­ror­vor­stel­lung für all jene, die seit mehr als zehn Jah­ren dage­gen pro­te­stie­ren und kämpfen.

Aber wie das?, fragt man außer­halb der Stadt, die Welt­pres­se hat­te doch gera­de die Nach­richt ver­brei­tet, ein Geset­zes­de­kret habe nun­mehr end­lich nicht nur die Durch­fahrt durch das Becken von San Mar­co ver­bo­ten, son­dern auch durch die Lagu­ne über­haupt. Vor allem die Bür­ger­be­we­gung NO GRANDI NAVI müss­te also end­lich auf­at­men kön­nen, sobald sie die fast 30.000 Euro zusam­men­ge­sam­melt hat, mit denen ihre Pro­test­ak­tio­nen bis­her gericht­lich sank­tio­niert wor­den sind.

Ja, aber … Das ist wie­der nicht so ein­fach, wie es klingt, denn sobald eine Hür­de genom­men ist, tut sich bekannt­lich die näch­ste auf: Die jetzt in Rom erfolg­te Ent­schei­dung hät­te ja schon viel frü­her grei­fen kön­nen, denn die Durch­fahrt durch den Giudec­ca-Kanal wur­de gro­ßen Schif­fen schon vor neun Jah­ren per Geset­zes­de­kret ver­bo­ten – aber dazu muss­ten Ersatz­lö­sun­gen her und die hat die mäch­ti­ge Schiffs­lob­by (mit den loka­len Insti­tu­tio­nen) über Jah­re blockiert, denn die will unbe­dingt an der Lagu­ne fest­hal­ten, selbst wenn die Rie­sen im Han­dels­ha­fen von Mar­ghe­ra am Fest­land anle­gen sol­len. Das aber hie­ße, die glei­chen Kanä­le wie die Con­tai­ner­schif­fe zu durch­que­ren, die dafür ver­brei­tert und ver­tieft wer­den müss­ten: eine wei­te­re unzu­mut­ba­re und geset­zes­wid­ri­ge Zer­stö­rung des schon stark beein­träch­tig­ten Gleich­ge­wichts der Lagu­ne. Die bereits in den letz­ten Jah­ren dis­ku­tier­ten und teil­wei­se abge­lehn­ten Alter­na­ti­ven von Off­shore-Häfen vor dem Lido oder Malam­oc­co sol­len nun laut jüng­stem Dekret bin­nen 60 Tagen noch ein­mal auf­ge­legt wer­den, mit­tels eines neu­en inter­na­tio­na­len Wett­be­werbs (finan­ziert mit 2,2 Mio. €). Das bedeu­tet eine wei­te­re lan­ge Ent­wick­lungs­zeit. Für die Zwi­schen­zeit hat im letz­ten Dezem­ber der Comi­ta­to­ne (das Komi­tee des Son­der­ge­set­zes für Vene­dig aus Mini­ste­ri­en und Lokal­be­hör­den) die Ein­fahrt der Schif­fe von der Zufahrt in Malam­oc­co durch den Cana­le dei Petro­li nach Mar­ghe­ra vor­ge­se­hen, wo neue Anle­ge­plät­ze nun mit 41 Mio. € geschaf­fen wer­den sol­len. Eine teu­re Zwi­schen­lö­sung also mit hohem Risi­ko­po­ten­ti­al: Zum einen bleibt die extrem hohe Umwelt­be­la­stung der gan­zen Lagu­ne durch die Rie­sen­schif­fe, zum zwei­ten erhöht sich das Unfall­ri­si­ko im Indu­strie­ha­fen – nicht aus­zu­den­ken, was bei der hohen Dop­pel-Bela­stung der Kanä­le alles pas­sie­ren kann –, zum drit­ten kol­li­diert die Zufahrt bei Malam­oc­co mit dem MoSE-Sperr­sy­stem gegen das Hoch­was­ser, das sowie­so schon vol­ler unge­lö­ster Pro­ble­me steckt. Aber das ist eine ande­re Geschichte.

Last but not least: Das erste Kreuz­fahrt-Schiff, des­sen Aus­fahrt Rich­tung Grie­chen­land für den 29. Mai, 17 Uhr, ange­sagt ist, ist die Costa Deli­zio­sa, 294 m lang und 93.000 BRT schwer, die bei einem Unwet­ter im Juli 2019 an der Riva degli Schia­vo­ni – unweit vom Dogen­pa­last – fast mit einer dort ankern­den gro­ßen Yacht kol­li­diert wäre. Auch die­se MSC-Gigan­ten sol­len nun ab Juni wie­der ein- und aus­lau­fen – und alle vor­bei am Markusplatz.

Ein Sam­mel­band der Autorin aus ihren Tex­ten der letz­ten Jahr­zehn­te erschien im Okto­ber 2020 bei eta­be­ta /​Lesmo (Mon­za): AUS ITALIEN. Tex­te zu Poli­tik und Kul­tur, 20 €.