Über Venedig, seine Lagune und ihre Besiedelung zirkulieren Mythen und Legenden seit Jahrhunderten, denn seine Ursprünge verlieren sich im Dunkel der Vorgeschichte. Schon Plinius der Ältere nannte den Namen Venetia in seiner Naturgeschichte, und inzwischen weiß man einiges über römische Siedlungen in der Lagune. In den frühen Jahrhunderten der Völkerwanderungen aus dem Norden haben sich dann Festlandbewohner aus verschiedenen Gegenden auf Inseln in der Lagune gerettet, und im Mittelalter entstanden viele Mythen, wie der von Venedig als Bindeglied zwischen Rom und Byzanz, sie wurden je nach aktuellen Erwägungen oft neu akzentuiert. Das ist nichts Neues.
Aber als am 25. März, um 16 Uhr, plötzlich alle Kirchenglocken Venedigs in Bewegung gesetzt wurden – um einen 1600-jährigen Stadtgeburtstag einzuläuten –, fragten sich nicht wenige: bitte wie?
Da wurde – mit Eröffnungswort durch den Staatspräsidenten und großem Mediengetrommel – der 25. März des Jahres 421 als »Geburtstag der Stadt« verkündet . Damals soll – laut einer 1514 vom Chronisten Marin Sanudo zitierten Quelle – eine erste Kirche am Rialto erbaut worden sein, dort, wo heute San Giacometto steht. Das mag so gewesen sein. Nur hat das mit der Gründung eines städtischen Gebildes nichts zu tun, die datiert man erst ein paar Jahrhunderte später, nachdem im 9. Jhdt. der Sitz eines 811 von Byzanz bestätigten Dogen, Agnello Partecipazio, von Malamocco an den Rialto verlegt wurde. Daraufhin wurde diese hochgelegene Insel nach und nach mit dem Bau eines ersten Dogenpalastes zu einer Stadt befestigt. Eine frühe Basilica folgte, die nach mehreren Rekonstruktionen erst am 25. April 1094 dem Evangelisten Marco geweiht wurde, dessen vermeintliche Gebeine man schon vorsorglich 828 aus Alexandria in Ägypten geholt hatte.
Die heutige Stadtregierung unter Bürgermeister Luigi Brugnaro scheut aber offenbar keinen Marketing-Trick, um das durch den Ausbruch der Corona-Pandemie von den Touristenmassen entleerte und damit auch seiner ökonomischen Basis weitgehend beraubte Venedig zurück ins internationale Gespräch zu bringen, mit einer Reihe von »events«, die nun im Jahr 2021 – zum »1600. Stadtgeburtstag« – Menschen von überall her anziehen sollen, um vor allem den am Boden liegenden Tourismus anzukurbeln.
San Marco, der Patron der Stadt, wird jedes Jahr am 25. April groß in Venedig gefeiert. Das Datum wiederum deckt sich mit dem auch heute noch wichtigsten zivilen Feiertag Italiens, dem der »Liberazione«, der Befreiung Italiens von den deutschen Besatzern und den Salò-Faschisten. Auch das geschah nicht an einem Tag, sondern in opferreichen Kämpfen über Wochen und Monate. Man datierte 1946 den Befreiungstag symbolisch auf den 25. April 1945, als das oberitalienische Befreiungskomitee CLNAI zum letzten allgemeinen Aufstand der Italiener gegen die Besatzer im Norden aufrief. Am 25. begann deren Rückzug aus Milano und Torino, und am Abend verließ auch Mussolini Milano, nachdem er dort noch auf Unterstützung durch die Deutschen gehofft hatte – vergeblich. Drei Tage später wurde er am Comer See von einem Partisanenkommando erschossen. Bis zum 1. Mai wurde dann der ganze Norden befreit – in Genua hatten die Partisanen ganz allein schon am 23.4. die Deutschen zum Rückzug gezwungen. In Venedig begann deren Rückzug am 28., und am 29. folgte in Caserta bei Neapel mit der Kapitulation gegenüber den Alliierten das definitive Ende des 2. Weltkriegs in Italien.
Diese Frühlingswoche vom 25. April bis zum 1. Mai ist seitdem immer eine Woche spürbaren zivilen Aufbruchs in Italien. Nicht von ungefähr erinnerte die unermüdliche Luciana Castellina in il manifesto an die Bedeutung des Wachhaltens der Erinnerung an die Idee einer neuen und völlig anderen Gesellschaft nach Faschismus und Weltkrieg, für die die jungen Partisanen, bis dahin ohne jegliche demokratische Erfahrung, mit grossem Mut kämpften. Ebensolchen Mut bräuchten wir heute, schreibt sie, um die gesellschaftlichen Verhältnisse aufzubrechen, die seit langem zu einer weitgehenden Entmündigung der Bürger führen. Und Castellina fordert die vielfältigen Bewegungen der Jugend dazu auf, die bisher unerfüllte ideale Herausforderung von 1943-45 wieder aufzunehmen und den Blick auch auf den Rest der Welt auszuweiten.
Kurz darauf, am 28. April, beging il manifesto, die inzwischen legendäre, noch immer »kommunistische Tageszeitung« aus Rom mit einer großen Sondernummer und vielen Gratulanten (auch der Staatspräsident!) ihren 50. Geburtstag. Sie war im April 1971 von der 1969 entstandenen Manifesto-Gruppe gegründet worden, um »als Zeitung mit der bürgerlichen Tradition zu brechen, die zum Faschismus und zum Krieg geführt hatte«, wie Luigi Pintor 2001 schrieb. Und sie hat sich entgegen allen Widrigkeiten, die die einst in Europa bewunderte kommunistische Linke Italiens zerstört haben, bis heute gehalten. Vielleicht auch, wie die nunmehr zehnjährige Chefredakteurin Norma Rangeri schreibt, weil sie viel mehr als eine normale Zeitung war und ist, nämlich Resultat eines Kollektivs: »eine Idee, eine Schule, ein Gefühl, ein kollektives, stark pochendes Herz«.
Und Elly Schlein, die junge Vizepräsidentin der Emilia-Romagna, ruft in ihrer Grußadresse die schon 1977 von dem Manifesto-Mitbegründer Lucio Magri geforderte Annäherung zwischen Kommunisten, Umwelt- und Frauenbewegung in Erinnerung, die sich mit neuen Beziehungen zwischen delegierter und direkter Demokratie verbinden ließen, die auch Luciana Castellina vorschweben.
Dass man aus der Pandemie mit tieferer Einsicht in die zerstörerischen Lebensbedingungen hervorgehen und diese entsprechend verändern sollte, denken nicht wenige in Italien. Dass der vielzitierte Recovery Plan zum Umbau Italiens in eine solche Richtung weist, bezweifeln die meisten, trotz der Regierungspropaganda. Der Plan wurde in den letzten Apriltagen ohne jegliche Diskussion durchs Parlament gewunken. Nur die Postfaschisten enthielten sich der Stimme, die sie nun umso lauter erheben, um gegen die der Regierung abgerungenen schrittweisen Lockerungen der monatelangen Corona-Einschränkungen zu protestieren, weil sie ihnen nicht weit genug gehen.
Diese neuen Maßnahmen koinzidieren in diesem Jahr auch nicht von ungefähr mit eben den Tagen des Aufbruchs. Viele Restaurants und Läden, die seit Monaten fest geschlossen bleiben mussten und die noch nicht ganz aufgegeben haben, haben alle Fenster geputzt und draußen ihre Tische gedeckt – nun sollen auch die Touristen kommen! Eine erste Welle wird Ende Mai erwartet zur Eröffnung der um ein Jahr verschobenen Architektur-Biennale, mit der durchaus aktuellen Titel-Frage: How will we live together?
Aber der Bürgermeister freut sich auch über die Ankündigung, dass zum gleichen Termin die Riesen-Kreuzfahrtschiffe wieder Venedig anlaufen wollen – weiterhin am Markusplatz vorbei! Eine Horrorvorstellung für all jene, die seit mehr als zehn Jahren dagegen protestieren und kämpfen.
Aber wie das?, fragt man außerhalb der Stadt, die Weltpresse hatte doch gerade die Nachricht verbreitet, ein Gesetzesdekret habe nunmehr endlich nicht nur die Durchfahrt durch das Becken von San Marco verboten, sondern auch durch die Lagune überhaupt. Vor allem die Bürgerbewegung NO GRANDI NAVI müsste also endlich aufatmen können, sobald sie die fast 30.000 Euro zusammengesammelt hat, mit denen ihre Protestaktionen bisher gerichtlich sanktioniert worden sind.
Ja, aber … Das ist wieder nicht so einfach, wie es klingt, denn sobald eine Hürde genommen ist, tut sich bekanntlich die nächste auf: Die jetzt in Rom erfolgte Entscheidung hätte ja schon viel früher greifen können, denn die Durchfahrt durch den Giudecca-Kanal wurde großen Schiffen schon vor neun Jahren per Gesetzesdekret verboten – aber dazu mussten Ersatzlösungen her und die hat die mächtige Schiffslobby (mit den lokalen Institutionen) über Jahre blockiert, denn die will unbedingt an der Lagune festhalten, selbst wenn die Riesen im Handelshafen von Marghera am Festland anlegen sollen. Das aber hieße, die gleichen Kanäle wie die Containerschiffe zu durchqueren, die dafür verbreitert und vertieft werden müssten: eine weitere unzumutbare und gesetzeswidrige Zerstörung des schon stark beeinträchtigten Gleichgewichts der Lagune. Die bereits in den letzten Jahren diskutierten und teilweise abgelehnten Alternativen von Offshore-Häfen vor dem Lido oder Malamocco sollen nun laut jüngstem Dekret binnen 60 Tagen noch einmal aufgelegt werden, mittels eines neuen internationalen Wettbewerbs (finanziert mit 2,2 Mio. €). Das bedeutet eine weitere lange Entwicklungszeit. Für die Zwischenzeit hat im letzten Dezember der Comitatone (das Komitee des Sondergesetzes für Venedig aus Ministerien und Lokalbehörden) die Einfahrt der Schiffe von der Zufahrt in Malamocco durch den Canale dei Petroli nach Marghera vorgesehen, wo neue Anlegeplätze nun mit 41 Mio. € geschaffen werden sollen. Eine teure Zwischenlösung also mit hohem Risikopotential: Zum einen bleibt die extrem hohe Umweltbelastung der ganzen Lagune durch die Riesenschiffe, zum zweiten erhöht sich das Unfallrisiko im Industriehafen – nicht auszudenken, was bei der hohen Doppel-Belastung der Kanäle alles passieren kann –, zum dritten kollidiert die Zufahrt bei Malamocco mit dem MoSE-Sperrsystem gegen das Hochwasser, das sowieso schon voller ungelöster Probleme steckt. Aber das ist eine andere Geschichte.
Last but not least: Das erste Kreuzfahrt-Schiff, dessen Ausfahrt Richtung Griechenland für den 29. Mai, 17 Uhr, angesagt ist, ist die Costa Deliziosa, 294 m lang und 93.000 BRT schwer, die bei einem Unwetter im Juli 2019 an der Riva degli Schiavoni – unweit vom Dogenpalast – fast mit einer dort ankernden großen Yacht kollidiert wäre. Auch diese MSC-Giganten sollen nun ab Juni wieder ein- und auslaufen – und alle vorbei am Markusplatz.
Ein Sammelband der Autorin aus ihren Texten der letzten Jahrzehnte erschien im Oktober 2020 bei etabeta /Lesmo (Monza): AUS ITALIEN. Texte zu Politik und Kultur, 20 €.