»Kaisergabel« ist der zweite Roman, den der Schriftsteller Olaf Arndt nach seinem furiosen Erstling »Unterdeutschland« vorlegt. Es handelt sich um ein dreiteiliges »Sippenpanorama«, das zunächst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angesiedelt ist, dann die erste Jahrhunderthälfte heranzoomt und gegen Ende – in »Abteilung III« – überblendet in die Gegenwart der Jahre 2013, 2016 und 2021.
»Abteilung I« des Romans ist aus der Perspektive zweier jüngerer Geschwister geschrieben: des brüderlichen Erzählers und seiner etwas älteren Schwester. Beide versuchen verbissen und auf abenteuerliche Weise, die biografischen Wurzeln ihrer Eltern und des familiären Umfeldes sowohl unmittelbar in Gesprächen als auch mit Hilfe von gefundenen Aufzeichnungen, archivierten Zeitungsausschnitten, Foto-Ordnern und Dias zu erschließen und zu dokumentieren – teils mittels schriftlicher Aufzeichnungen, teils in Form von Tonbandaufnahmen, die im Roman transkribiert sind. Eine besondere Rolle spielt dabei das Porträt der drakonisch-diktatorischen Mutter namens Erika, Verkörperung des hart und krank machenden »Klassenaufstiegs« in der Nachkriegszeit des sogenannten Wirtschaftswunders. Ort des Geschehens ist Hannover, wo der Vater als Ingenieur bei der städtischen Verkehrsplanung arbeitet. Die »Kaisergabel« ist eine Hochstraßengabelung, an deren Planung und Bau er beteiligt war.
In »Abteilung II« rekonstruiert der Roman in der Gestalt des »Opa‘s« und dessen Lebensgeschichte die Jahrzehnte davor, zurückreichend bis 1895 in der Woiwodschaft Großpolen. Von dort aus sind der Großvater und sein Bruder nach Westen geflüchtet. Sie hatten den Stallmeister erschlagen, der sich an ihrer Mutter vergangen hat. Sowohl schuldhafte Familiengeheimnisse als auch das soziale und politische Schicksal der Arbeiter in der Weimarer Zeit und während der Hitlerei werden offenbar. Genossenschaftlich und in Selbsthilfe entstehen Eigenheime. Zusätzlich zu den generationenübergreifenden Zusammenhängen werden Querverbindungen in der Verwandtschaft, im Wohnumfeld und unter den Arbeitskollegen erkennbar. Die Kinder der Nachbarschaft organisieren sich als Straßengang, genannt die »Schlangenbande«. »Alle Mitglieder waren Kinder aus SPD-Umfeld und kommunistischen Familien. Eine Meute von manischen Hassern der HaJott.«
Das bunte Panorama der Personen des Romans wird in »Abteilung III« erneut verknüpft, wieder entflochten und bis in die heutige Gegenwart aktualisiert. Die Existenz der Haupt- und Nebenfiguren ist historisierend eingebettet – und das ist eine der vielen kurios erscheinenden Besonderheiten dieses Romans – in ein Bezugs-Netz von Konsumgütern und Statussymbolen, die den Romanablauf als Stationen des Kleine-Leute- und Kleinbürger-Wohlstands begleiten. Sie erden das Handlungsgeschehen in der bundesrepublikanischen Konsum- und Shoppinggesellschaft: beginnend mit Kassettenrekordern von Telefunken und Uher, Fahrrädern (»Wanderer 2PK«), Diaprojektoren, Philips, Ikea-Möbeln bis hin zu Diazepam.
Auf der letzten Seite der streng komponierten, zugleich aber locker erzählten, höchst authentisch wirkenden und fesselnd-faszinierenden Romankonstruktion überrascht der Autor die Leser mit der lakonischen Feststellung: »Kaisergabel enthält keine Erinnerungen, die einer sorgfältigen Überprüfung standhalten. (…) Die Figuren sind reines Flechtwerk, Zöpfe aus mehreren echten und frei erfundenen Personen. (…) Gebt Euch keine Mühe, irgendetwas zu entschlüsseln. Nicht einmal ich hatte so eine Mutter. Erika ist aus allen möglichen und unmöglichen Müttern zusammengeschraubt.«
Das Zitat vermittelt einen nur schwachen Eindruck vom ironisierenden Sprach- und Handlungsduktus des Romans. Wir werden Zeugen einer typisierenden, überhaupt nicht verstaubten Chronik eines Familienverbandes und seines letztendlichen Scheiterns. In ihrer dramatischen Verflochtenheit der beschriebenen Charaktere tritt die Familiengeschichte wie eine nüchterne Dokumentation auf, welche sich aber immer wieder poetisch und literarisch aus der entfremdeten Banalität des Alltags befreit. Eine Art historischer Roman, dessen eigenwilliger Stil es zulässt, dass sich beim Lesen überraschende literaturgeschichtliche Assoziationen einstellen. Sie erinnern einerseits an Kafka und Canetti, Kempowski, Sebald, Thomas und Heinrich Mann, sogar an Arno Schmidt. Andererseits entdecken wir auch kräftige Spuren der literarischen Popkultur und des Punk.
Wie schon den vorausgegangenen Roman »Unterdeutschland«, so hat der Bremer Verlag mox & maritz auch den neuen Band von Oliver Arndt meisterlich gestaltet und in einer Weise ausgestattet, die hohen bibliophilen Ansprüchen genügt. Das Buch vermittelt nicht nur einen literarisch-erzählerischen Genuss, sondern aufgrund seiner Gestaltung bereitet es auch haptisch-ästhetische Freude. Für einen Roman äußerst ungewöhnlich, ist das Buch mit zwei verschiedenfarbigen Merkbändchen ausgestattet. Welch ein zusätzlicher Luxus!
Olaf Arndt: »Kaisergabel«. Roman. mox & maritz Verlag Stefan Ehlert, Bremen 2022. 244 Seiten, 19,80 €.