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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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»Aus Müttern zusammengeschraubt«

»Kai­ser­ga­bel« ist der zwei­te Roman, den der Schrift­stel­ler Olaf Arndt nach sei­nem furio­sen Erst­ling »Unter­deutsch­land« vor­legt. Es han­delt sich um ein drei­tei­li­ges »Sip­pen­pan­ora­ma«, das zunächst in der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts ange­sie­delt ist, dann die erste Jahr­hun­dert­hälf­te her­an­zoomt und gegen Ende – in »Abtei­lung III« – über­blen­det in die Gegen­wart der Jah­re 2013, 2016 und 2021.

»Abtei­lung I« des Romans ist aus der Per­spek­ti­ve zwei­er jün­ge­rer Geschwi­ster geschrie­ben: des brü­der­li­chen Erzäh­lers und sei­ner etwas älte­ren Schwe­ster. Bei­de ver­su­chen ver­bis­sen und auf aben­teu­er­li­che Wei­se, die bio­gra­fi­schen Wur­zeln ihrer Eltern und des fami­liä­ren Umfel­des sowohl unmit­tel­bar in Gesprä­chen als auch mit Hil­fe von gefun­de­nen Auf­zeich­nun­gen, archi­vier­ten Zei­tungs­aus­schnit­ten, Foto-Ord­nern und Dias zu erschlie­ßen und zu doku­men­tie­ren – teils mit­tels schrift­li­cher Auf­zeich­nun­gen, teils in Form von Ton­band­auf­nah­men, die im Roman tran­skri­biert sind. Eine beson­de­re Rol­le spielt dabei das Por­trät der dra­ko­nisch-dik­ta­to­ri­schen Mut­ter namens Eri­ka, Ver­kör­pe­rung des hart und krank machen­den »Klas­sen­auf­stiegs« in der Nach­kriegs­zeit des soge­nann­ten Wirt­schafts­wun­ders. Ort des Gesche­hens ist Han­no­ver, wo der Vater als Inge­nieur bei der städ­ti­schen Ver­kehrs­pla­nung arbei­tet. Die »Kai­ser­ga­bel« ist eine Hoch­stra­ßen­ga­be­lung, an deren Pla­nung und Bau er betei­ligt war.

In »Abtei­lung II« rekon­stru­iert der Roman in der Gestalt des »Opa‘s« und des­sen Lebens­ge­schich­te die Jahr­zehn­te davor, zurück­rei­chend bis 1895 in der Woi­wod­schaft Groß­po­len. Von dort aus sind der Groß­va­ter und sein Bru­der nach Westen geflüch­tet. Sie hat­ten den Stall­mei­ster erschla­gen, der sich an ihrer Mut­ter ver­gan­gen hat. Sowohl schuld­haf­te Fami­li­en­ge­heim­nis­se als auch das sozia­le und poli­ti­sche Schick­sal der Arbei­ter in der Wei­ma­rer Zeit und wäh­rend der Hit­le­rei wer­den offen­bar. Genos­sen­schaft­lich und in Selbst­hil­fe ent­ste­hen Eigen­hei­me. Zusätz­lich zu den gene­ra­tio­nen­über­grei­fen­den Zusam­men­hän­gen wer­den Quer­ver­bin­dun­gen in der Ver­wandt­schaft, im Wohn­um­feld und unter den Arbeits­kol­le­gen erkenn­bar. Die Kin­der der Nach­bar­schaft orga­ni­sie­ren sich als Stra­ßen­gang, genannt die »Schlan­gen­ban­de«. »Alle Mit­glie­der waren Kin­der aus SPD-Umfeld und kom­mu­ni­sti­schen Fami­li­en. Eine Meu­te von mani­schen Has­sern der HaJott.«

Das bun­te Pan­ora­ma der Per­so­nen des Romans wird in »Abtei­lung III« erneut ver­knüpft, wie­der ent­floch­ten und bis in die heu­ti­ge Gegen­wart aktua­li­siert. Die Exi­stenz der Haupt- und Neben­fi­gu­ren ist histo­ri­sie­rend ein­ge­bet­tet – und das ist eine der vie­len kuri­os erschei­nen­den Beson­der­hei­ten die­ses Romans – in ein Bezugs-Netz von Kon­sum­gü­tern und Sta­tus­sym­bo­len, die den Roman­ab­lauf als Sta­tio­nen des Klei­ne-Leu­te- und Klein­bür­ger-Wohl­stands beglei­ten. Sie erden das Hand­lungs­ge­sche­hen in der bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Kon­sum- und Shop­ping­ge­sell­schaft: begin­nend mit Kas­set­ten­re­kor­dern von Tele­fun­ken und Uher, Fahr­rä­dern (»Wan­de­rer 2PK«), Dia­pro­jek­to­ren, Phil­ips, Ikea-Möbeln bis hin zu Diazepam.

Auf der letz­ten Sei­te der streng kom­po­nier­ten, zugleich aber locker erzähl­ten, höchst authen­tisch wir­ken­den und fes­selnd-fas­zi­nie­ren­den Roman­kon­struk­ti­on über­rascht der Autor die Leser mit der lako­ni­schen Fest­stel­lung: »Kai­ser­ga­bel ent­hält kei­ne Erin­ne­run­gen, die einer sorg­fäl­ti­gen Über­prü­fung stand­hal­ten. (…) Die Figu­ren sind rei­nes Flecht­werk, Zöp­fe aus meh­re­ren ech­ten und frei erfun­de­nen Per­so­nen. (…) Gebt Euch kei­ne Mühe, irgend­et­was zu ent­schlüs­seln. Nicht ein­mal ich hat­te so eine Mut­ter. Eri­ka ist aus allen mög­li­chen und unmög­li­chen Müt­tern zusammengeschraubt.«

Das Zitat ver­mit­telt einen nur schwa­chen Ein­druck vom iro­ni­sie­ren­den Sprach- und Hand­lungs­duk­tus des Romans. Wir wer­den Zeu­gen einer typi­sie­ren­den, über­haupt nicht ver­staub­ten Chro­nik eines Fami­li­en­ver­ban­des und sei­nes letzt­end­li­chen Schei­terns. In ihrer dra­ma­ti­schen Ver­floch­ten­heit der beschrie­be­nen Cha­rak­te­re tritt die Fami­li­en­ge­schich­te wie eine nüch­ter­ne Doku­men­ta­ti­on auf, wel­che sich aber immer wie­der poe­tisch und lite­ra­risch aus der ent­frem­de­ten Bana­li­tät des All­tags befreit. Eine Art histo­ri­scher Roman, des­sen eigen­wil­li­ger Stil es zulässt, dass sich beim Lesen über­ra­schen­de lite­ra­tur­ge­schicht­li­che Asso­zia­tio­nen ein­stel­len. Sie erin­nern einer­seits an Kaf­ka und Canet­ti, Kem­pow­ski, Sebald, Tho­mas und Hein­rich Mann, sogar an Arno Schmidt. Ande­rer­seits ent­decken wir auch kräf­ti­ge Spu­ren der lite­ra­ri­schen Pop­kul­tur und des Punk.

Wie schon den vor­aus­ge­gan­ge­nen Roman »Unter­deutsch­land«, so hat der Bre­mer Ver­lag mox & maritz auch den neu­en Band von Oli­ver Arndt mei­ster­lich gestal­tet und in einer Wei­se aus­ge­stat­tet, die hohen biblio­phi­len Ansprü­chen genügt. Das Buch ver­mit­telt nicht nur einen lite­ra­risch-erzäh­le­ri­schen Genuss, son­dern auf­grund sei­ner Gestal­tung berei­tet es auch hap­tisch-ästhe­ti­sche Freu­de. Für einen Roman äußerst unge­wöhn­lich, ist das Buch mit zwei ver­schie­den­far­bi­gen Merk­bänd­chen aus­ge­stat­tet. Welch ein zusätz­li­cher Luxus!

Olaf Arndt: »Kai­ser­ga­bel«. Roman. mox & maritz Ver­lag Ste­fan Ehlert, Bre­men 2022. 244 Sei­ten, 19,80 €.