Das ist der richtige Ort für Großstadtflüchter. Pure Beschaulichkeit, mitten in Wald und Heide. Aber man ist auch nach wenigen Minuten auf der A 7, ab nach Norden, Elbtunnel und Köhlbrandbrücke tauchen auf, von jenseits der Elbe winkt der Fernsehturm der Metropole Hamburg. Wer in den Harburger Bergen wohnt – die höchste Erhebung erreicht spektakuläre 155 m –, wer also hier wohnt, vielleicht gar in der 1972 aus zahlreichen Dörfern gebildeten Einheitsgemeinde mit dem Fantasienamen »Rosengarten« und mit Straßennamen wie »Rehwechsel« und »Auf den Schwarzen Bergen«, dem kann getrost eine gewisse Neigung zum Abgeschiedensein unterstellt werden.
Manchmal, wenn es ganz still ist in den Schwarzen Bergen, dem Höhenzug, der dem nahegelegenen Wildpark und der ihn durchquerenden Straße den Namen gab, ist ein langgezogener Schrei zu vernehmen von der Intensität eines Nebelhorns: Mooonika. Otto ist es, der da ruft, Otto Köhler. Der Computer ist abgestürzt. Wo sind jetzt die Texte für Ossietzky oder die junge Welt? Die Brille ist verschwunden. Wo sind die Hörgeräte? Das Telefon spinnt mal wieder. Stromausfall. Das Garagentor klemmt. Das Regenwasser sickert an irgendeiner Stelle in den in die Jahre gekommenen Bungalow. Jetzt heißt es nicht: Himmel hilf, sondern: Mooonika. Ottos rettender Engel.
Wer von Otto Köhler berichtet, kommt an Monika Köhler nicht vorbei. Und umgekehrt. Das ist heute genauso – mit »mokoe« beginnt die gemeinsame E-Mail-Adresse – wie in den 1960er Jahren, als (West-)Berlin für die Menschen im Osten zum glamourösen Sehnsuchtsort wurde und für junge Männer aus der Bundesrepublik zum Fluchtpunkt. Hier galt keine Wehrpflicht. Die Kneipen waren rund um die Uhr geöffnet. Der Schnaps war billig – »ein spezielles Berlin-Gefühl« nannte der im letzten November gestorbene Karl Dall in einer ZDF-Dokumentation diese Mixtur aus hedonistischem Laissez-faire und existentialistischem Savoir-vivre in der Frontstadt des Kalten Krieges. Dall war aus Ostfriesland nach Berlin gekommen und gehörte zur Urbesetzung des Komiker-Quartetts um Ingo Insterburg, das in den 1960er und 70er Jahren höheren Blödsinn zu Kunst geadelt und in Kreuzberger Lokalen seine ersten Auftritte hatte.
Monika, unsere Person of Interest, wurde mit dem Mädchennamen Schulz am 9. April 1941 in Berlin am Alexanderplatz geboren. Die Bedeutung des Vornamens ist unklar: Vielleicht aus dem Griechischen: die Einsiedlerin? Vielleicht aus dem Lateinischen: die Mahnerin (was ja passen würde)? Der Krieg und seine Folgen waren noch allgegenwärtig: In den ersten Jahren der Nachkriegszeit wohnte ein entlassener KZ-Häftling bei den Eltern zur Untermiete. Und ihre Schule in Lichterfelde lag direkt neben einer historisch belasteten Kadettenanstalt, in der 1934 im Zuge der Zerschlagung der SA (Röhm-Putsch) durch SS und Reichswehr 43 SA-Männer erschossen worden waren.
1963 war Monika 22 Jahre alt und reif fürs »Massengrab« – ein Kellerlokal, in dem sich die »Ulitimisten« eingenistet hatten, eine literarische Gruppe. Auch Peter Rühmkorf verkehrte hier ab und an. Was dort in jenem Jahr passierte, schilderte Otto Köhler, der damals in Berlin studierte, 2015 aus Anlass seines 80. Geburtstags in einem Interview mit der jungen Welt: »Die (Ulitimisten) waren harmlos, an diesem Abend besonders: Sie machten eine erotische Lesung, Retif de la Bretonne, und das war stinklangweilig. Aber: Monika saß mir gegenüber. Und aus Langeweile versank ich in ihre Augen … (Einwurf von Monika Köhler: »Aha, nur aus Langeweile.«), kam aber nicht wieder raus. Da lernten wir uns kennen und wechselten schon zwei Stunden später die Lokalität« (Retif de la B., 1734 bis 1806, war ein französischer Romancier, Verfasser von Sittenromanen, Novellen und Erzählungen, Anm. K. N.).
Man sieht, es hat anscheinend Folgen, im launischsten Monat des Jahres geboren zu sein, der zudem noch mit einem Tag der Witze und Neckereien beginnt. Der geheime Code der Liebe, 1000-mal wurde er besungen, und plötzlich machte es »Zoom«. Ein Coup de Foudre, wie er in so manchem Buche steht. Der Twen aus Berlin-Steglitz und der sechs Jahre ältere Student hatten sich gefunden und standen am Beginn einer lebenslangen Bindung, Heirat eingeschlossen.
»Spätestens am nächsten Tag« bat Otto die Monika Schulz, sich um sein Journalisten-Archiv zu kümmern, womit ganz unprosaisch eine lebenslange assistierende Tätigkeit ihren Anfang nahm. In der Rückschau scheint ab da der Lebensweg der jungen Leute wie vorgezeichnet. Über Frankfurt kamen beide nach Hamburg. Otto Köhler wurde ein bundesweit bekannter Journalist und Buchautor. Heute ist er Mitherausgeber von Ossietzky und Kolumnist der jungen Welt.
Und stets ging nichts ohne Monika, die an der Seite ihres Mannes journalistisch arbeitete. Gemeinsam recherchierten sie brisante Themen. Beispielsweise zu den Vererbungs-Thesen des deutsch-britischen Psychologen Hans Jürgen Eysenck. Diese gaben den Anstoß zu dem heftig diskutierten Debüt der Schriftstellerin Monika Köhler. »Die Früchte vom Machandelbaum«, 1980 im Kindler Verlag erschienen, war ein Roman über SS-Ärzte in Auschwitz. In ihrem zweiten Roman »Kielkropf«, laut Grimm’schem Wörterbuch eine Bezeichnung für überflüssige Kinder, befasste sie sich mit dem nazistischen Euthanasie-Vernichtungsprogramm. Das Buch erschien 1996 im Verlag Volk und Welt. Im Verlag Ossietzky legte sie 2002 den Gedichtband »Vom Essen der Schatten« vor.
»Schreiben«, so steht dort zu lesen (S. 9), »heißt einwachsen, langsam hineinwachsen in das Dickicht aus Worten und Grün«. In solch einem Dickicht leben Monika und Otto Köhler, dem Zeitgeist abhold und dennoch mit der Zeit gehend. Ihr Haus steht inmitten eines ganz und gar nicht esoterischen »Ganesha-Gartens«, behütet von tonnenschweren, inzwischen bemoosten Originalstatuen aus dem javanisch-balinesischen Kulturkreis, per Schiff herantransportiert. In diesem Umfeld entstehen seit vielen Jahren die Essays und Reportagen der Kulturkorrespondentin von Ossietzky über Tanz, Theater, Kunst und Literatur. Einen Tag vor dem Erscheinungstermin dieses Heftes feierte die Schriftstellerin Monika Köhler ihren runden Geburtstag, allerdings ohne Freunde und Weggefährten: Verdammt sei das Virus.
Vielleicht hatten die beiden Glück mit dem Wetter und es war ein sonniger Frühlingstag, mit einem Abend, der »in den Farben des Allvaters« daherkam, wie Monika sie liebt, in »lockeren, weitwallenden, unumstößlich in ihrem Schweigen geströmten Blaus« (Gottfried Benn, Fragmente). Vielleicht saßen die Eheleute dann zueinander gekehrt auf der Bank neben ihrem Haus wie Philemon und Baucis in Ovids »Metamorphosen«, den Widrigkeiten des Alters trotzend, vor sich ein Glas mit rotem Wein, dem Ruf der Amsel im Gebüsch lauschend und den fernöstlich-meditativen Klängen aus der Musikanlage.
Wer weiß, was in solch einer Blauen Stunde geschehen mag? Vielleicht verließen Ganesha, der Gott mit dem Elefantenkopf, der für die Beseitigung aller Hindernisse steht, und Shiva, der Glückverheißende, und auch Siddhartha Gautama, der Buddha, der Erwachte, ihre Sockel am Hang neben dem Haus und lugten um die Ecke hin zu dem Paar? Dann könnte es sein, dass die Götter zwischen dem Rascheln der Bambusblätter und dem Glucksen des Teichwassers hörten, wie Otto zu seiner Monika zum 80. Geburtstag noch einmal jene Worte sagte, die er 2007 am Schluss seiner Dankesrede bei der Entgegennahme des Kurt-Tucholsky-Preises für sein Lebenswerk gesprochen hat: »Ohne dich wäre ich nichts.«
Und ebenso wie dieser Dank Bestand hat, so trifft auch heute noch zu, was Ossietzky-Gründer Eckart Spoo seinen beiden Mitstreitern wie en passant zugeschrieben hat (Heft 25/2014, Anruf bei Köhlers): »Ja, alles muss sich an der faschistischen Vergangenheit messen lassen. Da gibt es keinen Dissens. Da kennen sich beide Köhlers aus. Es ist ihr Metier, das sie seit Jahrzehnten gemeinsam betreiben. Welche Institution in Deutschland wäre zu dem Aufklärungswerk fähig, wie Monika und Otto Köhler es in ihrem Bungalow in den Schwarzen Bergen bei Hamburg tagtäglich leisten? Zwei hochsensible Künstler. Eine Arbeits- und Lebensgemeinschaft, wie sie mir in solcher Intensität selten begegnet ist.«
Autor, Verlag, Herausgeber und Redaktion gratulieren der Ossietzky-Autorin.