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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Aus den Schwarzen Bergen

Das ist der rich­ti­ge Ort für Groß­stadt­flüch­ter. Pure Beschau­lich­keit, mit­ten in Wald und Hei­de. Aber man ist auch nach weni­gen Minu­ten auf der A 7, ab nach Nor­den, Elb­tun­nel und Köhl­brand­brücke tau­chen auf, von jen­seits der Elbe winkt der Fern­seh­turm der Metro­po­le Ham­burg. Wer in den Har­bur­ger Ber­gen wohnt – die höch­ste Erhe­bung erreicht spek­ta­ku­lä­re 155 m –, wer also hier wohnt, viel­leicht gar in der 1972 aus zahl­rei­chen Dör­fern gebil­de­ten Ein­heits­ge­mein­de mit dem Fan­ta­sie­na­men »Rosen­gar­ten« und mit Stra­ßen­na­men wie »Reh­wech­sel« und »Auf den Schwar­zen Ber­gen«, dem kann getrost eine gewis­se Nei­gung zum Abge­schie­den­s­ein unter­stellt werden.

Manch­mal, wenn es ganz still ist in den Schwar­zen Ber­gen, dem Höhen­zug, der dem nahe­ge­le­ge­nen Wild­park und der ihn durch­que­ren­den Stra­ße den Namen gab, ist ein lang­ge­zo­ge­ner Schrei zu ver­neh­men von der Inten­si­tät eines Nebel­horns: Mooo­ni­ka. Otto ist es, der da ruft, Otto Köh­ler. Der Com­pu­ter ist abge­stürzt. Wo sind jetzt die Tex­te für Ossietzky oder die jun­ge Welt? Die Bril­le ist ver­schwun­den. Wo sind die Hör­ge­rä­te? Das Tele­fon spinnt mal wie­der. Strom­aus­fall. Das Gara­gen­tor klemmt. Das Regen­was­ser sickert an irgend­ei­ner Stel­le in den in die Jah­re gekom­me­nen Bun­ga­low. Jetzt heißt es nicht: Him­mel hilf, son­dern: Mooo­ni­ka. Ottos ret­ten­der Engel.

Wer von Otto Köh­ler berich­tet, kommt an Moni­ka Köh­ler nicht vor­bei. Und umge­kehrt. Das ist heu­te genau­so – mit »mokoe« beginnt die gemein­sa­me E-Mail-Adres­se – wie in den 1960er Jah­ren, als (West-)Berlin für die Men­schen im Osten zum gla­mou­rö­sen Sehn­suchts­ort wur­de und für jun­ge Män­ner aus der Bun­des­re­pu­blik zum Flucht­punkt. Hier galt kei­ne Wehr­pflicht. Die Knei­pen waren rund um die Uhr geöff­net. Der Schnaps war bil­lig – »ein spe­zi­el­les Ber­lin-Gefühl« nann­te der im letz­ten Novem­ber gestor­be­ne Karl Dall in einer ZDF-Doku­men­ta­ti­on die­se Mix­tur aus hedo­ni­sti­schem Lais­sez-fai­re und exi­sten­tia­li­sti­schem Savoir-viv­re in der Front­stadt des Kal­ten Krie­ges. Dall war aus Ost­fries­land nach Ber­lin gekom­men und gehör­te zur Urbe­set­zung des Komi­ker-Quar­tetts um Ingo Inster­burg, das in den 1960er und 70er Jah­ren höhe­ren Blöd­sinn zu Kunst geadelt und in Kreuz­ber­ger Loka­len sei­ne ersten Auf­trit­te hatte.

Moni­ka, unse­re Per­son of Inte­rest, wur­de mit dem Mäd­chen­na­men Schulz am 9. April 1941 in Ber­lin am Alex­an­der­platz gebo­ren. Die Bedeu­tung des Vor­na­mens ist unklar: Viel­leicht aus dem Grie­chi­schen: die Ein­sied­le­rin? Viel­leicht aus dem Latei­ni­schen: die Mah­ne­rin (was ja pas­sen wür­de)? Der Krieg und sei­ne Fol­gen waren noch all­ge­gen­wär­tig: In den ersten Jah­ren der Nach­kriegs­zeit wohn­te ein ent­las­se­ner KZ-Häft­ling bei den Eltern zur Unter­mie­te. Und ihre Schu­le in Lich­ter­fel­de lag direkt neben einer histo­risch bela­ste­ten Kadet­ten­an­stalt, in der 1934 im Zuge der Zer­schla­gung der SA (Röhm-Putsch) durch SS und Reichs­wehr 43 SA-Män­ner erschos­sen wor­den waren.

1963 war Moni­ka 22 Jah­re alt und reif fürs »Mas­sen­grab« – ein Kel­ler­lo­kal, in dem sich die »Uli­ti­mi­sten« ein­ge­ni­stet hat­ten, eine lite­ra­ri­sche Grup­pe. Auch Peter Rühm­korf ver­kehr­te hier ab und an. Was dort in jenem Jahr pas­sier­te, schil­der­te Otto Köh­ler, der damals in Ber­lin stu­dier­te, 2015 aus Anlass sei­nes 80. Geburts­tags in einem Inter­view mit der jun­gen Welt: »Die (Uli­ti­mi­sten) waren harm­los, an die­sem Abend beson­ders: Sie mach­ten eine ero­ti­sche Lesung, Retif de la Bre­ton­ne, und das war stink­lang­wei­lig. Aber: Moni­ka saß mir gegen­über. Und aus Lan­ge­wei­le ver­sank ich in ihre Augen … (Ein­wurf von Moni­ka Köh­ler: »Aha, nur aus Lan­ge­wei­le.«), kam aber nicht wie­der raus. Da lern­ten wir uns ken­nen und wech­sel­ten schon zwei Stun­den spä­ter die Loka­li­tät« (Retif de la B., 1734 bis 1806, war ein fran­zö­si­scher Roman­cier, Ver­fas­ser von Sit­ten­ro­ma­nen, Novel­len und Erzäh­lun­gen, Anm. K. N.).

Man sieht, es hat anschei­nend Fol­gen, im lau­nisch­sten Monat des Jah­res gebo­ren zu sein, der zudem noch mit einem Tag der Wit­ze und Necke­rei­en beginnt. Der gehei­me Code der Lie­be, 1000-mal wur­de er besun­gen, und plötz­lich mach­te es »Zoom«. Ein Coup de Foud­re, wie er in so man­chem Buche steht. Der Twen aus Ber­lin-Ste­glitz und der sechs Jah­re älte­re Stu­dent hat­ten sich gefun­den und stan­den am Beginn einer lebens­lan­gen Bin­dung, Hei­rat eingeschlossen.

»Spä­te­stens am näch­sten Tag« bat Otto die Moni­ka Schulz, sich um sein Jour­na­li­sten-Archiv zu küm­mern, womit ganz unpro­sa­isch eine lebens­lan­ge assi­stie­ren­de Tätig­keit ihren Anfang nahm. In der Rück­schau scheint ab da der Lebens­weg der jun­gen Leu­te wie vor­ge­zeich­net. Über Frank­furt kamen bei­de nach Ham­burg. Otto Köh­ler wur­de ein bun­des­weit bekann­ter Jour­na­list und Buch­au­tor. Heu­te ist er Mit­her­aus­ge­ber von Ossietzky und Kolum­nist der jun­gen Welt.

Und stets ging nichts ohne Moni­ka, die an der Sei­te ihres Man­nes jour­na­li­stisch arbei­te­te. Gemein­sam recher­chier­ten sie bri­san­te The­men. Bei­spiels­wei­se zu den Ver­er­bungs-The­sen des deutsch-bri­ti­schen Psy­cho­lo­gen Hans Jür­gen Eysen­ck. Die­se gaben den Anstoß zu dem hef­tig dis­ku­tier­ten Debüt der Schrift­stel­le­rin Moni­ka Köh­ler. »Die Früch­te vom Machan­del­baum«, 1980 im Kind­ler Ver­lag erschie­nen, war ein Roman über SS-Ärz­te in Ausch­witz. In ihrem zwei­ten Roman »Kiel­kropf«, laut Grimm’schem Wör­ter­buch eine Bezeich­nung für über­flüs­si­ge Kin­der, befass­te sie sich mit dem nazi­sti­schen Eutha­na­sie-Ver­nich­tungs­pro­gramm. Das Buch erschien 1996 im Ver­lag Volk und Welt. Im Ver­lag Ossietzky leg­te sie 2002 den Gedicht­band »Vom Essen der Schat­ten« vor.

»Schrei­ben«, so steht dort zu lesen (S. 9), »heißt ein­wach­sen, lang­sam hin­ein­wach­sen in das Dickicht aus Wor­ten und Grün«. In solch einem Dickicht leben Moni­ka und Otto Köh­ler, dem Zeit­geist abhold und den­noch mit der Zeit gehend. Ihr Haus steht inmit­ten eines ganz und gar nicht eso­te­ri­schen »Gane­s­ha-Gar­tens«, behü­tet von ton­nen­schwe­ren, inzwi­schen bemoo­sten Ori­gi­nal­sta­tu­en aus dem java­nisch-bali­ne­si­schen Kul­tur­kreis, per Schiff her­an­trans­por­tiert. In die­sem Umfeld ent­ste­hen seit vie­len Jah­ren die Essays und Repor­ta­gen der Kul­tur­kor­re­spon­den­tin von Ossietzky über Tanz, Thea­ter, Kunst und Lite­ra­tur. Einen Tag vor dem Erschei­nungs­ter­min die­ses Hef­tes fei­er­te die Schrift­stel­le­rin Moni­ka Köh­ler ihren run­den Geburts­tag, aller­dings ohne Freun­de und Weg­ge­fähr­ten: Ver­dammt sei das Virus.

Viel­leicht hat­ten die bei­den Glück mit dem Wet­ter und es war ein son­ni­ger Früh­lings­tag, mit einem Abend, der »in den Far­ben des All­va­ters« daher­kam, wie Moni­ka sie liebt, in »locke­ren, weit­wal­len­den, unum­stöß­lich in ihrem Schwei­gen geström­ten Blaus« (Gott­fried Benn, Frag­men­te). Viel­leicht saßen die Ehe­leu­te dann zuein­an­der gekehrt auf der Bank neben ihrem Haus wie Phi­le­mon und Bau­cis in Ovids »Meta­mor­pho­sen«, den Wid­rig­kei­ten des Alters trot­zend, vor sich ein Glas mit rotem Wein, dem Ruf der Amsel im Gebüsch lau­schend und den fern­öst­lich-medi­ta­ti­ven Klän­gen aus der Musikanlage.

Wer weiß, was in solch einer Blau­en Stun­de gesche­hen mag? Viel­leicht ver­lie­ßen Gane­s­ha, der Gott mit dem Ele­fan­ten­kopf, der für die Besei­ti­gung aller Hin­der­nis­se steht, und Shi­va, der Glück­ver­hei­ßen­de, und auch Sid­dhartha Gaut­ama, der Bud­dha, der Erwach­te, ihre Sockel am Hang neben dem Haus und lug­ten um die Ecke hin zu dem Paar? Dann könn­te es sein, dass die Göt­ter zwi­schen dem Rascheln der Bam­bus­blät­ter und dem Gluck­sen des Teich­was­sers hör­ten, wie Otto zu sei­ner Moni­ka zum 80. Geburts­tag noch ein­mal jene Wor­te sag­te, die er 2007 am Schluss sei­ner Dan­kes­re­de bei der Ent­ge­gen­nah­me des Kurt-Tuchol­sky-Prei­ses für sein Lebens­werk gespro­chen hat: »Ohne dich wäre ich nichts.«

Und eben­so wie die­ser Dank Bestand hat, so trifft auch heu­te noch zu, was Ossietzky-Grün­der Eck­art Spoo sei­nen bei­den Mit­strei­tern wie en pas­sant zuge­schrie­ben hat (Heft 25/​2014, Anruf bei Köh­lers): »Ja, alles muss sich an der faschi­sti­schen Ver­gan­gen­heit mes­sen las­sen. Da gibt es kei­nen Dis­sens. Da ken­nen sich bei­de Köh­lers aus. Es ist ihr Metier, das sie seit Jahr­zehn­ten gemein­sam betrei­ben. Wel­che Insti­tu­ti­on in Deutsch­land wäre zu dem Auf­klä­rungs­werk fähig, wie Moni­ka und Otto Köh­ler es in ihrem Bun­ga­low in den Schwar­zen Ber­gen bei Ham­burg tag­täg­lich lei­sten? Zwei hoch­sen­si­ble Künst­ler. Eine Arbeits- und Lebens­ge­mein­schaft, wie sie mir in sol­cher Inten­si­tät sel­ten begeg­net ist.«

Autor, Ver­lag, Her­aus­ge­ber und Redak­ti­on gra­tu­lie­ren der Ossietzky-Autorin.