DDR-Bürger hatten eine im Westen schon früh verlorene Fähigkeit: Sie konnten Materialien, Gegenstände, Fundstücke aller Art fantasievoll umdeuten, um aus den Dingen, die man gerade zur Verfügung hatte, die Dinge herzustellen, die man gerade brauchte. Das Zentralorgan des DDR-Bastlers war das Bastelmagazin Practic.
Die Zeitschrift mit Tipps und Selbstbauanleitungen erschien ab 1967, viermal im Jahr, und kostete eine Mark; Hefte voller Abenteuer, weil man in ihnen erfuhr, dass man alles haben konnte, wenn man nur in der Lage war, es selbst zu bauen: Zum Beispiel Schachfiguren aus Papier; Dauerkalender aus Holzresten und PVC-Abfällen; Wandschmuck aus getrockneten Wurzeln und Ästen; aufblasbare Rodelschlitten aus Düngemittelsäcken; Segelbretter aus Glasseidenstapelmatten, Polyestergießharz und Kiefernleisten.
Auch Heimsportgeräte, für die man u. a. Abfallstücke vom Wasserleitungsbau, Ledergürtel und Vorhängeschlösser zum Befestigen des selbst hergestellten Kraftgürtels am Körper brauchte.
Oder den Kratz- und Kletterbaum für Katzen, der im Wesentlichen aus einem mit Teppichresten beklebten Pfosten bestand, an den dann stufenartig verschiedene Kletterplattformen angenagelt wurden. So einen Kratz- und Kletterbaum haben wir in Berlin-Marzahn auch bei meiner leider schon verstorbenen Freundin Theres gefunden, doch er hat ihre Katzen nicht davon abgehalten, die Krallen ebenfalls an Schränken zu schärfen oder in Teppiche und Polstermöbel zu haken.
Voraussetzung für das Erschaffen neuer praktischer oder dekorativer Gegenstände war das Sammeln. Nie wurde etwas weggeschmissen, nie wurde etwas als Müll betrachtet, höchstens ein stinkender Fisch oder eine verfaulte Kartoffel, denn wer wusste schon, wofür man die aufbewahrten oder gefundenen Gegenstände noch brauchen konnte und wann die DDR-Mangelwirtschaft gar keinen Nachschub mehr bieten würde.
Die Wohnung meiner Freundin Theres war so ein Sammellager – und bei der Auflösung ihrer Wohnung durften wir Gegenstand für Gegenstand bewundern, wie man aus Tüchern und Sicherheitsnadeln verschiedene Beutel entwerfen, wie man Wäscheklammern als Aufhängungen für mit Gewürzen gefüllte Plastekrüge nutzen oder wie man aus alten Briefumschlängen ein außergewöhnliches Notizbuch kleben konnte – mit einer abgestempelten Briefmarke auf jeder zweiten Seite.
Alles konnte vielleicht einmal nützlich sein und alles wurde aufgehoben oder mitgenommen. Materialreste aus den Betrieben oder Fundstücke aus illegalen Müllhaufen an der Landstraße – offenbar von Menschen angehäuft, die das Wesen, den Geist der DDR nicht verstanden hatten, ihre antikapitalistische Nachhaltigkeit.
Wie die Wohnungen anderer Freunde aus der DDR war auch Theres’ Wohnung eine Schatzkammer voller Requisiten für Zeitreisen: alte Flaschen, Porzellanverschlüsse, Metallrohre, antike Küchengeräte mit fehlenden Schrauben, abgefallene Sofabeine, Zuckerdosendeckel ohne Zuckerdose, Marmeladengläser ohne Deckel, geklebte Meissner Teller, Militaria aus zwei Weltkriegen, Wachstücher und Servietten mit selbstgestickten Monogrammen, Brillengestelle aus den letzten 100 Jahren, Uhrendeckel, Elektroschrott …
Banausen, meist aus dem Westen, hätten diese DDR-Vorratshaltungen wahrscheinlich als Müllhaufen bezeichnet, und nicht verstanden, warum man Holzvorräte unter dem Beistelltisch sammelt. Natürlich, weil eines Tages etwas daraus geschnitzt werden sollte.
In der DDR lebten ohne Frage viele Verwandte der berühmten Pippi Langstrumpf, die sich selbst als eine »Sachensucherin« bezeichnete. Die gefundene Garnrolle wollte sich Pippi um den Hals hängen oder durch sie Seifenblasen pusten; in die alte rostige Blechbüchse würde sie Kuchen legen, damit sie dann »eine feine Büchse mit Kuchen« sei.
Oft waren die privaten Bastellösungen der DDR-Sachensucher nur provisorisch gemeint, am Ende aber wurden sie zu Dauerlösungen mit einer eigenen poetischen Schönheit – so wie das Werkzeugregal aus mehr als 100 Rahmbutter-Schachteln für Schrauben, Muttern oder Scheiben, das im Wohnzimmer von Detlef aus Zwickau die DDR überlebte.
Detlef hat mir 1990 einige Ausgaben der Practic geschenkt, auch die zweite Ausgabe von 1981, in der die Idee für die Verwendung der Rahmbutter-Schachteln veröffentlicht wurde – eingesendet von einem Mann mit dem Namen Uwe Freiberger.
Überhaupt: Die Lesertipps waren das Schönste in der Practic: Der stylische Lampenschirm aus Eierverpackungen zum Beispiel, den der Bühnenbildner der James-Bond-Filme sicher gleich nachgebaut hätte. Oder der Vorschlag, Saughaken an der Unterseite eines Wandbordes zu befestigen, um dort Abwaschbürsten zum Trocknen aufzuhängen, was in Theres’ Küche genau so vorzufinden war. Besonders gefallen hat mir die Idee, aus zwei Kleiderbügeln einen »Trockenständer für Plastebeutel« zu bauen. Plastebeutel wurden in der DDR immer wieder verwendet, erst recht, wenn sie aus dem Westen stammten und bunt bedruckt waren.
Dass der sogenannte Mangel in der DDR vielleicht gar kein Mangel war, sondern Ansporn zu einem so kreativen wie nachhaltigen Gebrauch unserer Ressourcen ist zwischen der DDR-Sehnsucht nach mehr Bananen und der westlichen Konsum-Ideologie leider nicht erkannt worden. Übersehen worden ist auch, dass Provisorien so viel schöner sind als langweilige Perfektion. Der Trabi meiner Freundin Andrea aus Halle, damals Mitarbeiterin in der dortigen Bücherei, hatte am Armaturenbrett eine Fläche, die für den Einbau eines Autoradios vorgesehen war. Autoradios gab es in der DDR aber nie. Doch in der Practic war zu lesen, wie man hier wenigstens eine Uhr anbringen konnte. Einfach ein Loch ins Armaturenbrett sägen und einen Wecker dahinterklemmen. Was Andrea prompt in die Tat umsetzte.
Mein Freund Peter wiederum überlistete jahrelang einen Wackelkontakt am Lautstärkeknopf des Fernsehers durch ein dazwischen geklemmtes Holzstäbchen. Auf das wurde so lange getippt, bis der Ton wieder ansprang. Der neue Nachwendefernseher ohne spannenden Wackelkontakt beraubte Peter des täglichen Erfolgserlebnisses. Bis heute erzählt er von dem seinem Trick mit dem kleinen Holzstück. Wie Andrea von ihrem Wecker im Armaturenbrett.
Auch in den Betrieben war das fantasievolle Umwidmen von Materialien und Maschinen Alltagskunst. Anfang der 1970er Jahre wurde jeder Betrieb verpflichtet, mit seinen Möglichkeiten und Materialien sogenannte Konsumgüter herzustellen. So baute das VEB Sprengstoffwerk Gnaschwitz Fliegenklatschen, eine Schiffswerft stellte Kaffeemaschinen her, der Heizschuh Sandalon stammte aus dem VEB Robotron in Dresden, beim VEB Elektrokeramik Pankow wurden aus Keramikmasse Laichgrotten für Aquarien hergestellt.
Und natürlich ging auch das Computerzeitalter nicht an der DDR nicht vorbei. Manche Bastler bauten sich ihren Heimcomputer selbst. 1988 wurde in der Practic eine Anleitung zum Bau einer Maus, einer »externen Cursorsteuerung« abgedruckt. Das Baumaterial bestand u.a. aus hölzernen Möbelgriffen, aus Schrauben, Draht, Dioden und - einer Butterdose.
Vielleicht stand hier der berühmte US-amerikanische Geheimagent Angus MacGyver Pate, der in den sieben Staffeln seines Fernsehlebens ständig als Problemlöser für besonders schwierige Fälle rund um den Globus geschickt wurde, dabei Schusswaffen ablehnte und immer nach gewaltfreien Lösungen suchte. MacGyver war ein genialer Allround-Ingenieur und seine nahezu grenzenlosen wissenschaftlichen Kenntnisse halfen ihm immer wieder aus scheinbar ausweglosen Situationen. Dafür brauchte er keine asiatischen Kampfkünste und schon gar keine High-Tech-Spielereien wie James Bond: MacGyver reichten Streichhölzer und ein Kaugummipapier; er besiegte den Feind mit dem Inhalt einer Damenhandtasche.
Wer heute durch die Welt reist, in die Türkei, nach Afrika, nach Südamerika oder Asien, kann den so pragmatischen wie kreativen DDR-Geist wiederentdecken. Aus Kanistern gebaute Kehrschaufeln in Istanbul, Gartenzäune aus alten Bettgestellen in Rumänien, Spielzeugautos aus ausrangierten Staubsaugern im marokkanischen Essaouira, aus den Streifen von Plastiktüten gehäkelte Tierpuppen oder aus Autoreifen gefertigte Sandalen in Nairobi.
2013 fand in Mailand eine Ausstellung mit Produkten aus Mathare, dem zweitgrößten Slum in Nairobi statt. Produziert werden hier, wie in anderen Slums, alle Arten von Waren für den täglichen Gebrauch, kreiert aus dem Vorgefundenen mit einer Mischung aus Pragmatismus, Fantasie und handwerklichem Geschick. Hergestellt wird nur das, was gebraucht wird – und zwar aus dem, was vorhanden ist. Es geht höchstens nebenbei um Formgebung oder Aufmachung, es geht nicht um soziale Abgrenzung durch edlen Chic oder Luxus. Es geht allein um die Entwicklung und Konstruktion von funktionalen, langlebigen und günstigen Produkten; um praktische Antworten auf die alltäglichen Bedürfnisse der Slum-Bewohner.
Was wir im Slum von Nairobi oder in anderen Armenvierteln der Welt sehen können, ist Design als Waffe im Überlebenskampf, ist die subversive Uminterpretation von Abfall, von Zivilisationsmüll, ist ein individueller schöpferischer Prozess, einer von vielen Wegen für eine nachhaltige Zukunft auch jenseits akuter Armut.
Als »Upcycling« ist die Umwandlung von gebrauchten Materialien in neuwertige Produkte längst auch in Europa angekommen. Doch die Taschen von »Zirkeltraining« zum Beispiel, gefertigt aus alten Turnmatten, oder die Taschen von »Freitag«, gefertigt aus alten LKW-Planen, sind hier ein Statussymbol der Hippen und Reichen. Die schicken Waren – wie Yogahosen aus Plastikflaschen oder Hüte aus Kaffeesäcken – sind teuer, für Durchschnittsverdiener kaum erschwinglich. Wer diese Waren trägt, demonstriert, dass er sich sein Umweltbewusstsein etwas kosten lässt.
Die Objekte aus der Practic mögen dagegen für viele ärmlich wirken. Ich finde sie oft komisch, aber immer liebenswert. Und anregend. Sie erweitern unseren Horizont. Geben uns Denkanstöße. Erinnern uns an unsere Kreativität.
Was für fantasievolle Ideen: Ein an ein Flacheisen genieteter Metallfingerhut, der nun als Kerzenlöscher dient; die Sahnespritze aus dem Verschluss eines Tablettenröhrchens; der Dornenabstreifer für Rosen aus gefaltetem Bandstahl.
Oder dieser Einfall: Im Winter mit Hilfe einer Drahtaufhängung die Frühstücksmilch am Heizkörper zu wärmen.
Die Practic war eben voller Poesie. So poetisch wie die Produkte aus Nairobi. Sie wirken städtisch und dennoch alt, archäologische Fundstücke aus der Vergangenheit und der Zukunft der Menschheit. Kunst und Krisenbewältigung.