»Knallt ab den Walther Rathenau, die gottverfluchte Judensau«, sangen die Rechten in den Anfangsjahren der Weimarer Republik, und so geschah es dann auch. Am 24. Juni 1922 wurde der von ihnen gehasste Reichsaußenminister am helllichten Tag in Berlin auf offener Straße im Auto ermordet. So weit sind wir heute noch nicht, aber der alte Hass auf alles, was nicht ins deutsch-völkische Weltbild passt, ist immer noch vorhanden.
Heute werden keine Hassgesänge angestimmt, heute tobt sich der rechte Mob im Internet aus, und gemordet wird hinterrücks per Kopfschuss, wie das bei dem Verbrechen an dem Kasseler Regierungspräsidenten der Fall zu sein scheint. Er hatte sich bei den Rechten durch seine offene Haltung gegenüber Flüchtlingen unbeliebt gemacht. Und wieder einmal geben sich alle entsetzt, dass einer aus der rechten Ecke die Tat ausgeführt haben könnte. Dabei liegt die NSU-Mordserie noch gar nicht so lange zurück, als dass man nicht von vornherein einen rechtsextremistischen Hintergrund hätte vermuten können.
Bundesinnenminister Horst Seehofer, der den Rechten lange genug nach Munde geredet hat, kommentierte das Geschehen unter anderem mit den Worten: »Ein rechtsextremistischer Anschlag auf einen führenden Repräsentanten des Staates ist ein Alarmsignal, richtet sich gegen uns alle.« Mit Verlaub, Herr Minister: Und was ist mit den mindestens 169 Menschen, die in Deutschland seit 1990 Opfer rechtsextremistisch motivierter Morde geworden sind, wie eine gemeinsame Recherche von Tagesspiegel und Zeit online ergab? Jedes einzelne der Opfer musste doch als Alarmsignal aufgefasst werden. 169 Alarmsignale. Aber immer blieb es nur bei schönen Worten des Bedauerns.
So konnten rechtsextremistische Netzwerke entstehen, deren Angehörige sich seit Jahren heimlich mit Waffen versorgen. Wie die Bundesregierung auf Anfrage der Linksfraktion im Bundestag mitteilte, haben sich seit 2015 deutsche Rechtsextremisten zwölf Mal zu Schießübungen im Ausland getroffen (Bild, 19.6.2019). Ist es nicht beunruhigend, dass rechte Gewalttäter Polizisten nicht mehr so sehr als Gegner zu betrachten scheinen, sondern, wie die Süddeutsche Zeitung schreibt, als mögliche Verbündete? Allein in Hessen laufen – derselben Quelle zufolge – 38 Ermittlungsverfahren gegen Polizisten wegen rechtsextremistischer Umtriebe.
Ausgerechnet in dieser Situation plädierte der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck für eine »erweiterte Toleranz in Richtung rechts«. Fassungslos fragt man sich, was Joachim Gauck wohl bewogen haben mag, im Gespräch mit dem Spiegel so daher zu schwadronieren. Nach seinen Worten muss die CDU für einen bestimmten Typus des Konservativen wieder eine Heimat werden. Früher seien diese Menschen in der CDU/CSU von Alfred Dregger und Franz Josef Strauß beheimatet gewesen.
Können die beiden wirklich nach dem Geschmack eines früheren deutschen Bundespräsidenten sein? Dregger hielt den Angriff auf die Sowjetunion nur deshalb für falsch, weil er nicht als Befreiungskrieg, sondern als Eroberungskrieg geführt worden sei, wie er in seinem Buch »Der Preis der Freiheit« auf Seite 11 schreibt. War es vielleicht das, was Gauck davon abhielt, Russland einen offiziellen Besuch abzustatten und sich vor den Opfern des deutschen Vernichtungskrieges zu verneigen? Franz Josef Strauß seinerseits relativierte die deutsche Schuld am Zweiten Weltkrieg mit den Worten, die »systematische Diffamierung des deutschen Volkes« sollte mit aller Entschiedenheit bekämpft werden. Hitlers Einmarsch in Polen sei schließlich nicht denkbar geworden ohne die Haltung Großbritanniens, das Hitler in seinem Wahn bestärkt habe. (Frankfurter Allgemeine, 8.2.1965)
Was unterscheidet die Äußerungen von Strauß und Dregger eigentlich von der Aussage des AfD-Partei- und Fraktionsvorsitzenden Alexander Gauland, Hitler und die Nazis seien nur ein »Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte«? Auch der frühere Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, prominentes Mitglied der konservativen Werteunion der CDU/CSU, scheint sich das zu fragen. Er schließt eine Zusammenarbeit von CDU und AfD in den ostdeutschen Bundesländern für die Zukunft nicht generell aus. Im Deutschlandfunk sagte er dieser Tage: »Ich glaube, in der jetzigen Situation werden wir es auch ausschließen, dass es zu einer derartigen Koalition kommt, aber man weiß nie.«
»Ich sehe Schatten aufsteigen, wohin ich mich wende. Ich sehe sie, wenn ich abends durch die gellenden Straßen von Berlin gehe; wenn ich die Indolenz unseres wahnsinnig gewordenen Reichtums erblicke; wenn ich die Nichtigkeit kraftstrotzender Worte vernehme.« Das schrieb Walther Rathenau 1911, in der angeblich so goldenen Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, wie die legendäre Marion Gräfin Dönhoff sich am 3. Januar 1969 in der Zeitausdrückte. Elf Jahre nach seinen ahnungsvollen Äußerungen wurde Rathenau ermordet.