»Da Anfang der 1980er Jahre sich die Medien und damit die veröffentlichte Meinung von der Friedensbewegung entscheidend beeinflussen ließen, die öffentliche Meinung zu einer friedlichen veröffentlichten Meinung wurde, war damals ein entscheidender Schritt für den Erfolg der Friedensbewegung getan. Das ist derzeit nicht zu erwarten« (so Ulrich Sander/Ulrich Schneider in »Ein Aufstand für den Frieden«, Ossietzky 23/2021). Jetzt könnte es umgekehrt kommen.
Die Regierung versuchte, das Raketen-Stationierungsabkommen mit den USA zunächst unter den Teppich zu kehren. Doch schon bald kamen aus der Süddeutschen Zeitung und aus der Funke-Gruppe Aufrufe an die Friedensbewegung, endlich wieder machtvoll aufzudrehen. Es gäbe dafür gute Gründe. »Die atomare Bedrohung ist wieder da – und die Sorge auch?«
Die deutsche Friedensbewegung leide an einer »Fähigkeitslücke«. »Es ist still. Es ist totenstill. In Deutschland werden Tomahawk-Marschflugkörper, SM-6-Raketen und Hyperschallraketen aufgestellt – und es bleibt still im Land. Kein lauter Protest, kein Aufschrei, keine Demonstrationen. Deutschland ist das einzige Land in Europa, in dem diese US-Waffensysteme stationiert werden. Sie richten sich gegen Russland. Warum ist es so still?« So heißt es in einer Kolumne von Heribert Prantl in der SZ vom 19.7.2024. Die Stationierung soll bereits 2026 beginnen.
Und dann die Westdeutsche Allgemeine aus der Funke-Gruppe. »Die Angst vor einem Wettrüsten ist wieder da. Raketen-Pläne der Nato wecken Erinnerungen an die Demos gegen den ›Doppelbeschluss‹ zu Beginn der 1980er Jahre«, so titelte das Blatt Mitte Juli. Das Doppel stand für atomare Aufrüstung bei gleichzeitigem Angebot zu Abrüstungsabkommen. »In Westdeutschland fragen sich immer mehr Bürger, vor allem Jüngere, ob sich diese Rüstungsspirale immer weiterdreht.« Es werden Leser befragt. Von sieben Antworten ist nur eine zustimmend zu den Plänen des US-Militärs, denn es gehe ja gegen den gefährlichen Putin. Die anderen wiederbeleben auch nicht gerade die Losung »Ami go home«, aber man äußert Angst. Schon jetzt liegen zahlreiche US-Atomwaffen auf deutschem Boden, wird geantwortet, und einer erinnert daran: »Raketen sind Magneten«. Es drohe eine Rüstungsspirale, die am Ende niemand mehr einfangen kann; »daher bin ich klar gegen Aufrüstung und die Stationierung von US-Langstreckenraketen.« Mir macht das eher Angst, wird gesagt, und der Landesgeschäftsführer der Deutschen Friedensgesellschaft / DFG-VK, Joachim Schramm, spricht sich für neue, starke Proteste aus.
Erinnert wird an die Entwicklung der Debatte in der SPD. Erst nach dem Konstruktiven Misstrauensvotum vom Herbst 1982 und den Bundestagswahlen 1983, bei denen die SPD endgültig ihre Regierungsmacht verlor, begann ein Umdenken in der Partei. Erinnert wird auch daran, dass die Grünen ihre Existenz dem Engagement der Partei in der Friedensbewegung verdanken. Heute ist die Friedensbewegung geschwächt vor allem auch dadurch, dass die Grünen und die SPD, die 1983 auf der Seite der Friedensaktionen standen, zu Kriegsparteien geworden sind. Allerdings gibt es Widerspruch in beiden Parteien gegen die neusten Pläne der USA. Bei vielen Grünen wird das schlechte Abschneiden bei den EU-Wahlen als Resultat der Verweigerung der Friedenspolitik gesehen. Dies wiederum löste bei Baerbock, Habeck und Hofreiter geradezu aufgeregte Reaktionen aus: Nur ja keine Kritik üben an der Stationierung der Tomahawks. Und Kanzler Scholz nennt die Entscheidung über die US-Raketenstationierung eine »sehr gute Entscheidung«.
Das ist sie nicht! SPD-Fraktionschef Mützenich widerspricht dem Kanzler und warnt vor neuem Wettrüsten. Die Tomahawks, die jetzt zur Aufstellung kommen sollen, sind weitaus präziser als seinerzeit die Pershings. Moskau kann atomar angegriffen und getroffen werden, ohne Vorwarnzeit. Und während in den 80ern die UdSSR noch versicherte, niemals als erste die Bombe einzusetzen, schließt Russland nunmehr ebenso wie die USA einen Erstschlag nicht mehr aus. Zudem war der Plan des Doppelbeschlusses seinerzeit mit dem Angebot zu Verhandlungen verbunden; ein solches Angebot fehlt heute.
Verhandlungen, Abrüstung – das sind heute Fremdworte.1987 wurde ein Abrüstungsvertrag namens INF unterzeichnet, der 2019 von den USA unter Präsident Trump wieder gekündigt wurde. Und nun droht dieser Trump wieder US-Präsident zu werden, derselbe der einst sagte: Wozu haben wir die Atomwaffen eigentlich, wenn wir sie nie einsetzen?
Noch 2010 beschloss der Bundestag mit breiter Mehrheit, die Regierung Merkel solle sich »mit Nachdruck« für den Abzug aller US-Atomwaffen aus Deutschland einsetzen. Daran muss nun erinnert werden. Und zwar mit breitem Massenprotest auf den Straßen, aber auch mit Gesprächen von Tür zu Tür. Joachim Schramm erinnerte daran: »Wir haben damals an Wohnungstüren geklingelt und um Zustimmung gebeten, eine Straße symbolisch zur ‹atomwaffenfreien Zone› zu erklären.«
Die DFG ruft derzeit zu Aktionen auf und betont: »Die Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) äußert scharfe Kritik an der kürzlich verkündeten Entscheidung, ab 2026 US-Mittelstreckenraketen in Deutschland zu stationieren. Diese Aufrüstung stellt eine erhebliche Gefahr für die Sicherheit in Europa dar und könnte zu einer weiteren Eskalation der Spannungen mit Russland führen.« Nun komme das Wettrüsten, vor dem die Friedensorganisation gewarnt hat, in Gang. »Es wird Deutschland zu einem potenziellen Ziel eines gegnerischen Schlags machen und erhöht drastisch die Kriegsgefahr. Denn Mittelstreckenraketen lassen sich praktisch ohne Vorwarnzeit abfeuern und treffen binnen Minuten ihr Ziel – eine politische Reaktion ist kaum mehr möglich. Zudem lassen sich atomare und konventionelle Geschosse beim Anflug nicht unterscheiden. Die DFG-VK fordert die Bundesregierung auf, dieser gefährlichen Entwicklung entschieden entgegenzutreten und keine Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden zuzulassen. Stattdessen sollte Deutschland aktiv für neue Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge werben, um Frieden und Sicherheit in Europa zu gewährleisten.«
Die SPD-Führung, die vier Wochen lang alles tat, um eine öffentliche Stationierungsdebatte zu vermeiden, bequemte sich am 12. August zu einer Erklärung, die einem den Atem verschlägt: Darin heißt es: »Als SPD übernehmen wir Verantwortung dafür, dass kein Kind, das heute in Deutschland geboren wird, wieder Krieg erleben muss. Die Vereinbarung der SPD-geführten Bundesregierung mit der US-Administration, ab 2026 US-amerikanische Raketen mit größerer Reichweite in Deutschland zu stationieren, ist dafür ein wichtiger Baustein.«